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Sexualisierte Gewalt und Trauma -  Werner Tschan

Sexualisierte Gewalt und Trauma (eBook)

Praxishandbuch für Pflege- Gesundheits- und Sozialberufe
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76324-8 (ISBN)
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(CHF 26,35)
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Menschen reagieren auf Vorfälle sexualisierter Gewalt oft mit Rat- und Hilflosigkeit. In Fällen der Anklage stellen Opferaussagen häufig das einzige Beweismittel dar, wodurch eine gerechte Strafverfolgung erschwert und weitere Belastungen für die Betroffenen entstehen können. Noch immer prägen Schweigen, Bagatellisierung und mangelnde Verantwortungsübernahme den Umgang mit sexualisierter Gewalt. Bei den oft als unvorhersehbare Einzelfälle wahrgenommenen Taten handelt es sich tatsächlich um systemische Delikte, die besonders in Institutionen und Organisationen begünstigte Bedingungen vorfinden, wie das Praxishandbuch schnörkellos und eindrücklich verdeutlicht. Anhand zahlreicher Beispiele schafft der erfahrene Psychiater und Psychotherapeut Werner Tschan einen facettenreichen Überblick der Problematik. Das Praxishandbuch richtet sich an Pflege-, Gesundheits-, Sozial-, Trainings-, und Erziehungsberufe. Es bietet ihnen umfangreiche Informationen, die sie im Umgang mit sexualisierter Gewalt in ihrer Tätigkeit unterstützen. Es betont, wie bedeutend fundiertes Wissen über sexualisierte Gewalt ist, um Betroffene zu stärken und zu schützen. Der Autor • beschreibt psychische und physische Folgen für Betroffene • zerstreut stereotype Vorstellungen über Täter und Opfer • erläutert Schutz- und Behandlungsmöglichkeiten • ermutigt zu gegenseitigem Austausch von Wissen und Erfahrung • ruft zu einer Kultur des Hinschauens auf. Aus dem Inhalt • Traumafolgestörungen nach Gewalterfahrungen • Behandlung und Stabilisierungstechniken • Bedeutung für das Gesundheitswesen, die Sozial- und Erziehungswissenschaften sowie den Sport- und Freizeitbereich • Kompetenzen der Fachkräfte • Berufsrisiko: sekundäre Traumatisierung .

|9|Einleitung


Schweigen ist die stärkste Waffe der Täter.

(Tschan, 2012, S. 11)

In den zurückliegenden Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass im Gesundheitswesen viel mehr Menschen von sexualisierten Gewalterfahrungen und anderen Traumata betroffen sind und behandelt werden müssen, als man lange Zeit annahm. Dieser Paradigmenwechsel beruht im Wesentlichen auf einer Enttabuisierung eines unliebsamen gesellschaftlich relevanten Sachverhaltes sowie den Konzepten über Traumafolgestörungen, wie sie seit der Einführung der neuen diagnostischen Begriffe seit 1980 entwickelt wurden. Verfügte man zu Beginn dieser Entwicklung über die Folgen von Gewalterfahrungen praktisch ausschließlich über Erfahrungen und Kenntnisse aus der Militärmedizin, änderte sich dies mit den weltweiten Forschungsergebnissen nach 1980 grundlegend (Tschan, 2019). Trotzdem mag überraschen, dass die Ausbildung der Fachleute zu diesen Aspekten insbesondere im Gesundheitswesen und in den Sozial- und Erziehungswissenschaften nur zögerlich aufgegriffen wurde – mit nachteiligen Auswirkungen auf die Aufdeckung von sexualisierten Gewaltdelikten sowie Betreuung und Behandlung von Betroffenen.

Es gibt zwei hauptsächliche Risikobereiche, in denen sexualisierte Gewaltdelikte verübt werden – der eine Bereich ist die Kernfamilie, der andere Bereich sind Einrichtungen und Institutionen. Diese Erkenntnis beruht auf wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie beispielsweise im Abschlussbericht der ersten Missbrauchsbeauftragten der deutschen Bundesregierung veröffentlicht wurden. Bei dieser Studie wurden 2484 Betroffene darüber befragt, wo sich die Übergriffe zugetragen haben (Bergmann, 2011):

  1. 52,1 % innerhalb der Familie

  2. 9,3 % im erweiterten sozialen Umfeld (Nachbarn, Arbeitsplatz etc.)

  3. 32,2 % in Einrichtungen und Institutionen

  4. 6,5 % fremde Täter.

Als Täter*innen kommen innerhalb der Familie grundsätzlich alle Familienmitglieder infrage, neben Vater und Mutter auch Geschwister, Onkel, Tanten, Großeltern und/oder Cousins und Cousinen. Betroffene können sich kaum wehren – wenn diejenigen Menschen, die für ihr Wohlergehen sorgen müssten, zu Tätern werden. Die Ohnmacht ist mit Händen zu greifen, auch der Fachleute, die sich in dieser Thematik |10|engagieren. Für die Einrichtungen und Institutionen gilt, dass neben den Mitarbeitenden auch Mitbewohner resp. Gleichaltrige als Täter*innen infrage kommen. Besonders zu beachten ist eine Aussage aus dem Abschlussbericht:

„Männer und Frauen haben das jahrzehntelange Schweigen gebrochen, erstmalig über ihr Leiden und die lebenslangen Folgen gesprochen. Sie haben auch darüber gesprochen, wie sie mit ihren Versuchen, Hilfe zu erhalten, gescheitert sind, und wie die Täter und Täterinnen geschützt wurden. Das Verschweigen, Vertuschen und Verleugnen der Taten hat das Unrecht vervielfacht“ (Bergmann, 2011, S. 13).

Betroffene schweigen nicht mehr beschämt, sondern sie werden gehört. Das ist neu. Und Betroffene reden über die Folgen, unter denen sie zu leiden haben. Wenn Fachleute nicht auf das vorbereitet sind, was sie zu hören bekommen, wird es problematisch: Entweder verfallen sie in blinden Aktionismus in der Meinung, so das Übel sofort aus der Welt schaffen zu können, oder sie reagieren unschlüssig und paralysiert, weil sie nicht wissen, was zu tun ist. Vielleicht zweifeln sie das Gehörte an und meinen, das kann doch nicht sein. Opfer haben feine Antennen und spüren instinktiv diese Infragestellung oder gar Schuldzuweisung im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr. Fazit: Das Thema ist für alle schwierig. Man möchte am liebsten Augen und Ohren verschließen und das Ganze wie einen bösen Traum vergessen. Fachleute benötigen Theorien und Konzepte, wie sie Traumafolgestörungen einordnen und Betroffene behandeln können – Anja Röhl hat am Beispiel der Verschickungskinder dokumentiert, welch menschenverachtende Haltungen bei Fachleuten vorhanden sein können (Röhl, 2021).

Es dauerte eine beachtliche Zeit, bis die Medizin eine adäquate Diagnostik über die Auswirkungen und Folgen von sexualisierten Übergriffen präsentieren konnte. Ein Psychotrauma ist ein Ereignis, das die momentanen seelischen Belastungsgrenzen übersteigt. Den Opfern wurde lange nicht geglaubt. Man bezeichnete die Betroffenen als Lügnerinnen, wenn nicht sogar als Hexen (Guggenbühl, 2002) und dergleichen mehr. Namhafte Wissenschafter waren in der Vergangenheit der Auffassung, dass sexualisierte Gewaltdelikte extrem seltene Ereignisse darstellen – kein Wunder, war doch das ganze Ausmaß völlig tabuisiert. Man durfte solche Dinge nicht aussprechen.

Seit 1980 verfügen wir nun über eine adäquate Traumadiagnostik – mit Erstaunen fragt man sich, wieso dies nicht früher der Fall war. Mögliche Gründe für diese späte Reaktion werden im Kapitel 1 über sexualisierte Gewalt und Trauma diskutiert. Betroffene suchten vergeblich Anerkennung ihres Leidens. Eine zentrale Rolle spielen neben menschenverachtenden Auffassungen namhafter Fachleute bei diesem Nichtwahrhabenwollen sicherlich auch ökonomische Aspekte – seit der Industrialisierung kam es bei Unfällen zu Haftungsfragen sowie sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen, deswegen die Infragestellung der psychischen Auswirkungen (Tschan, 2019). Seit dem Krimkrieg, noch deutlicher seit den beiden Weltkriegen, |11|waren zudem die Militärführungen mit dem Problem von traumatisierten Soldaten konfrontiert – dem man beispielsweise mittels der Kaufmann-Kur (elektrische Folter mit galvanischem Strom) und dem Pansen-Verfahren (extrem schmerzhafte Stromschläge) beizukommen versuchte. Es galt die Überzeugung, dass richtige Männer die Grausamkeiten von kriegerischen Auseinandersetzungen seelisch unbeschadet überstehen können und dass sich ausschließlich „minderwertige Psychopathen“ in die Krankheit flüchten.

Der deutsche Nervenarzt Adolf von Strümpell war vor über hundert Jahren der Auffassung, dass es sich bei Traumafolgestörungen um bewusst vorgetäuschte Störungsbilder ohne Krankheitscharakter handeln würde (Tschan, 2019). Der deutsche Mediziner His hat in einem Referat später dazu festgehalten, dass Stümpell mit dem glücklichen Wort der Begehrungsvorstellung des Rätsels Lösung gefunden habe. Schon 1906 sprachen sich deutsche Ärzte gegen eine Entschädigung von Menschen nach Psychotrauma im Rahmen der Rentenversicherung aus; und 1916 wurde schließlich ihre Auffassung, dass diese Störungsbilder einer „psychogenen Reaktion mit wunschbedingt-tendenziösem Charakter“ entsprechen, allgemein akzeptiert. Der deutsche Psychiater Karl Bonhoeffer doppelte nach, indem er festhielt, dass die „sogenannte traumatische Neurose als psychopathische Reaktion“ (sic!) aufzufassen sei (Bonhoeffer, 1926, S. 181). Damit war der Begriff der Rentenneurose geprägt, der fortan die Entschädigungspraxis bestimmte.

Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud stellt 1896 in einem Referat fest, dass er die Ursache von neurotischen Störungen (Beeinträchtigung des psychischen Befindens) durch sexualisierte Gewalterlebnisse ab der frühesten Kindheit gefunden habe (Tschan, 2005). Aufgrund von Häufigkeitsüberlegungen widerruft Freud seine These bereits ein Jahr später – da Neurosen in der Gesellschaft häufig vorkamen, ließe dies nur die eine Schlussfolgerung zu, dass sexualisierte Delikte ebenso häufig vorkommen würden. Das konnte nicht sein (Fegert, 2022). Dabei blieb es dann für lange Zeit. Man konnte und wollte den Opfern keinen Glauben schenken, weil man sich das nicht vorstellen konnte, was die Betroffenen erzählten.

Weiter prägte das 1939 von Dansauer und Schellworth publizierte Büchlein Neurosefrage, Ursachenbegriff und Rechtsprechung für die folgenden 25 Jahre die Gutachtertätigkeit und Rechtsprechung in Deutschland in Zusammenhang mit Traumafolgestörungen, in erster Linie bei Holocaust-Betroffenen und KZ-Überlebenden. Die beiden Autoren waren der Auffassung, dass „es gar keine kausalen Beziehungen zwischen äußeren Ereignissen und psychischen Folgen geben [könne],...

Erscheint lt. Verlag 22.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
ISBN-10 3-456-76324-7 / 3456763247
ISBN-13 978-3-456-76324-8 / 9783456763248
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