Die XX-Medizin (eBook)
304 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-95803-455-6 (ISBN)
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek gilt als Pionierin der geschlechtersensiblen Medizin in Deutschland. Seit 2007 ist sie Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité. Zur Zeit ist sie Gastprofessorin der Universität Zürich. Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer ist seit 1999 als freiberufliche Wissenschaftsjournalistin, Expertin und Buchautorin tätig. Mit dem Themenschwerpunkt Frauengesundheit produzierte sie zahlreiche TV-Dokumentationen und Bücher. Seit 2011 entwickelt sie partizipative Gesundheitsformate zu Schwangerschaft und Geburt wie die ?Erzählcafé-Aktion?.
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek gilt als Pionierin der geschlechtersensiblen Medizin in Deutschland. Seit 2007 ist sie Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité. Zur Zeit ist sie Gastprofessorin der Universität Zürich. Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer ist seit 1999 als freiberufliche Wissenschaftsjournalistin, Expertin und Buchautorin tätig. Mit dem Themenschwerpunkt Frauengesundheit produzierte sie zahlreiche TV-Dokumentationen und Bücher. Seit 2011 entwickelt sie partizipative Gesundheitsformate zu Schwangerschaft und Geburt wie die ›Erzählcafé-Aktion‹.
FRAUSEIN 2.0 — PSYCHOSOZIALE UNTERSCHIEDE
Haben Sie Fieber oder eine Blinddarmentzündung, ist die Sache eindeutig, Sie sind krank. Gründe dafür sind bestimmte Ursachen – Viren oder Bakterien oder auch Verschleiß –, die auch im Doppelpack auftreten können. Viel komplizierter ist die Frage nach Ihrer Gesundheit. Sind Sie gesund, wenn es nirgendwo wehtut und Ihr Körper reibungslos funktioniert? Nein, so einfach ist es nicht. Hier die Antwort nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO): »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.« Vielleicht können Sie zustimmen?
Frauengesundheit neu gedacht
Gesund ist, wer körperlich und psychisch gesund ist, doch hinzu kommt immer ein dritter Gesundheitsfaktor, der für Frauen auch heute noch eine größere Rolle spielt als für Männer: soziales Wohlergehen. Denn es hat gesundheitliche Auswirkungen, wie wir aufwachsen und wie viel Geld uns zur Verfügung steht, ob wir die angebotene Gesundheitsversorgung wahrnehmen können und welche Grenzen und Freiheiten die Gesellschaft uns vorgibt. All dies ermöglicht oder erschwert Gesundheit. Die aktuelle Forschung und auch Studien zur Geschlechtergesundheit während der Corona-Pandemie weisen ganz klar nach, dass Gesundheit in Europa vom sozialen Status abhängt – also von materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Hier sind Frauen und Mädchen auch heute noch häufiger im Nachteil – und das ist wissenschaftlich gut belegt. Frauen stellen die Mehrheit der Beschäftigten in Gesundheits- und Pflegeberufen, aber nicht in der Chefetage. Carework ist also immer noch überwiegend Frauensache. Denken Sie daran, wie oft Frauen bei gleicher Leistung weniger verdienen als Männer, dass Armut häufig Alleinerziehende oder alte Frauen betrifft. Oder denken Sie an alle Frauen, die pflegebedürftige Angehörige versorgen und trotzdem Vollzeit arbeiten müssen, oder an berufstätige Mütter mit kleinen Kindern und so weiter … Die Liste der sozialen Ungerechtigkeit oder Ungleichheit zwischen den Geschlechtern lässt sich problemlos fortsetzen.
In der WHO-Definition bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass chronische Erkrankungen, vor allem im Alter, fast schon zum Normalzustand geworden sind. Müsste nicht, angesichts dieser kleinen und großen Unterschiede und aufgrund der verschiedenen Lebensumstände von Frauen und Männern, die Definition von Gesundheit positiver lauten: »Gesundheit ist im Idealfall ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens sowie, je nach den Lebensumständen, auch die Akzeptanz und positive Bewältigung von Krankheit, Gebrechen und/oder sozialer Ungerechtigkeit.«
Die außerordentliche Lebenskompetenz von Frauen, ihr Leben als Töchter, Mütter und Großmütter oftmals trotz ungleicher Start -und Lebensbedingungen, mit etlichen Belastungen und, wie #MeToo gezeigt hat, manchmal sogar mit Gewalterfahrungen zu meistern, sollte durch eine neue Definition von Gesundheit viel klarer gewürdigt werden – als Signal an die Politik, an Menschen im Gesundheitswesen und letztlich auch, um den Frauen bewusst zu machen, was sie täglich leisten.
Die Gesundheitsrevolution: Ab heute bin ich Patientin
Die Gendermedizin kommt vor allem für Frauen einer Gesundheitsrevolution gleich. Medizinische Fortschritte gibt es quasi täglich, aber nur selten haben sie für Frauen so revolutionäre Auswirkungen wie das relativ neue Wissensgebiet der Gendermedizin. Zum ersten Mal werden nämlich nicht nur das biologische Geschlecht Mann oder Frau, sondern auch biologische Unterschiede (etwa bei der Verarbeitung von Arzneimitteln oder bei der Nierenfunktion), psychische Faktoren und soziale Umstände gezielt berücksichtigt: in der Diagnostik und Therapie, in den Angeboten zur Prävention und in der medizinischen Forschung. Dieses Wissen ist noch nicht überall angekommen, das Fachgebiet der Gendermedizin – umfassender wäre der Ausdruck geschlechtsbewusste oder geschlechtssensible Medizin – hat noch einen langen Weg bis in die Praxen und Kliniken vor sich. Doch daran arbeiten Politikerinnen und Forscherinnen weltweit mit großem Engagement. Was heißt das konkret?
Aus Sicht der Gendermedizin spielt es zum Beispiel bei ein und derselben Krankheit eine große Rolle, welches Geschlecht ein Mensch hat und ob jemand als das »schwache« oder »starke« Geschlecht erzogen wurde oder sich so verhält. Hätten Sie zum Beispiel gedacht, dass sich eine Depression beim sogenannten starken Geschlecht häufig in Form von Aggression ausdrückt, während sie sich bei Frauen häufiger in Niedergeschlagenheit und Apathie zeigt? Bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße können das biologische Geschlecht und psychosoziale Faktoren sogar einen größeren Einfluss auf den Verlauf der Krankheit haben als das Alter oder mögliche Begleiterkrankungen: Ist ein Herzgefäß blockiert, steht beim männlichen Herzinfarkt der starke, in den Arm ausstrahlende Brustschmerz im Vordergrund, während Frauen häufig über unspezifische Beschwerden und Übelkeit berichten. Es verwundert also nicht wirklich, dass viele Erkrankungen ohne gendermedizinisches Wissen oft nicht oder zu spät erkannt werden, doch mehr dazu im Praxisteil ab Seite 187.
Ob diese Unterschiede mehr mit handfesten biologischen oder doch eher mit nicht so einfach zu messenden psychosozialen Genderfaktoren zu tun haben, wird zum Glück immer öfter in internationalen Studien und Forschungsverbünden untersucht. Dieser neue Blick auf Patientinnen und Patienten ist eine echte Revolution, denn die Medizin wurde bisher überwiegend von Männern bestimmt, die als Ärzte, Forscher und Gesundheitspolitiker das Wissen und die Strukturen bestimmten. Die Gendermedizin sorgt hier neben Fakten für eine Erweiterung des Bewusstseins in allen Köpfen und hat das Ziel, Ihnen als Frau – und allen Männern – zukünftig besser passende Behandlungen und vorbeugende Maßnahmen anzubieten, die wirklich helfen.
Extra: Pandemie-Folgen für Frauen
»Bis sich medizinische Strukturen ändern, kann es dauern. So lange sollten Frauen nicht warten, bis sie von den Erkenntnissen der Gendermedizin profitieren«, dieses Fazit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat durch die seit 2020 andauernde Krise noch deutlich an Brisanz zugenommen. Lesen Sie hier, was Frauen aus der Krise lernen können und wie dringend der politische Handlungsbedarf ist. Auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse lässt sich die Botschaft der Pandemie kurz und knapp so zusammenfassen:
Frauen sollten lieber heute als morgen und so schnell wie möglich lernen, wie sie sich selbst besser schützen, finanziell absichern und im Alltag entlasten. Speziell Frauen sollten den Rat berücksichtigen, der »Pandemie-Panik« jeden Tag etwas entgegenzusetzen und den Stresspegel von Doppel- und Dreifachbelastung bewusst zu senken. Denn abzuwarten, bis sich gesellschaftliche Strukturen ändern und die Bedürfnisse von Frauen fair berücksichtigt werden, kann in einer Pandemie vor allem für Frauen gesundheitlich schädlich und bei einer Infektion sogar lebensgefährlich sein.
Frauen haben eigentlich ein stärkeres Immunsystem, aber …
Die Abwehr von Keimen verläuft zwar grundsätzlich gleich, aber dennoch gibt es wichtige Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Frauen oft besser gegen akute Infektionen geschützt sind als Männer. Das gilt sowohl für Bakterien als auch für Viren. Zum Beispiel stellte sich heraus, dass Lungenentzündungen bei Männern häufig schwerer verlaufen als bei Frauen, und zwar auch in gut ausgestatteten deutschen Krankenhäusern. Dies scheint auch bei COVID-19 so zu sein.I Der Grund dafür wird zum einen darin vermutet, dass Männer häufiger rauchen, zum anderen geht man jedoch davon aus, dass noch weitere, bisher unbekannte Faktoren beteiligt sind. Umso wichtiger ist es, dass Frauen diesen relativen Schutz nicht durch Stress aufs Spiel setzen. Denn der weibliche Organismus reagiert darauf stärker als der männliche mit einer nachweisbaren Schwächung des Immunsystems. Aktuelle Forschung zeigt im Tierversuch und in Studien am Menschen, dass anhaltende Stressgefühle bestimmte Gehirnregionen aktivieren und dies gefährliche Entzündungsreaktionen im Körper von Frauen fördert. Dies kann ein Risiko für Herzinfarkte darstellen – und vielleicht auch für andere Erkrankungen (siehe auch Seite 242).
Hinzu kommen allgemeine Wirkungen von Stress auf den Organismus, die sehr komplex sind. Hier sind noch viele Fragen offen, aber eindeutig belegt ist: Stress und Immunsystem stehen in einem direkten Zusammenhang. Vereinfacht gesagt, aktivieren wir unter Belastung das sogenannte sympathische Nervensystem, das den...
| Erscheint lt. Verlag | 7.10.2021 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Naturheilkunde |
| Schlagworte | Biologische Unterschiede • Diagnostik • Forschung • Frauengesundheit • Gendermedizin • Geschlechtersensible Medizin • Geschlechtsspezifische Medizin • Herzerkrankungen • Herzinfarkt • Krankheit • Krankheiten • Krankheitssymptome • Lebenswirklichkeit • Lebenswirklichkeiten • Medikament • Medikamente • Medikamentenverträglichkeit • Osteoporose • Prävention • Rheuma • Risikofaktoren • Schulmedizin • Therapie • Vorsorge |
| ISBN-10 | 3-95803-455-1 / 3958034551 |
| ISBN-13 | 978-3-95803-455-6 / 9783958034556 |
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