Wenn das Leben stillsteht (eBook)
200 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-95803-418-1 (ISBN)
Dr. Ehsan Natour ist ein international anerkannter Herzchirurg. Aufgewachsen in Israel als Sohn palästinensischer Eltern, schloss er sein Studium und die Facharztausbildung in Deutschland ab. Seit 2007 lebt und arbeitet er in den Niederlanden und in Deutschland. Er ist Mitbegründer der niederländischen Stiftung »stilgezet«, die mit zahlreichen Aktivitäten und auch Kunstprojekten Patienten und Angehörige unterstützt mit dem Ziel, im »kranken Gesundheitssystem« einen nachhaltigen Wandel zu bewirken.
Dr. Ehsan Natour ist ein international anerkannter Herzchirurg. Aufgewachsen in Israel als Sohn palästinensischer Eltern, schloss er sein Studium und die Facharztausbildung in Deutschland ab. Seit 2007 lebt und arbeitet er in den Niederlanden und in Deutschland. Er ist Mitbegründer der niederländischen Stiftung »stilgezet«, die mit zahlreichen Aktivitäten und auch Kunstprojekten Patienten und Angehörige unterstützt mit dem Ziel, im »kranken Gesundheitssystem« einen nachhaltigen Wandel zu bewirken.
ERÖFFNUNG
Gleich werde ich den Brustkorb eröffnen. Nichts mehr ist für den Menschen vor mir auf dem Operationstisch normal. Das weiß ich, ohne mit ihm zu sprechen. Er könnte auch nicht sprechen, selbst wenn er wollte, denn er liegt in tiefer Narkose in dunkelgrüner steriler Landschaft. Allein der Brustbereich ist frei. Er sieht aber nicht mehr so aus wie am Badestrand, wo der junge Vater gestern noch mit seinen zwei Kindern herumtollte. Bevor ES passierte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, obwohl er noch keine vierzig Jahre alt ist. Jugend schützt nicht vor Krankheit.
Die Brust des Mannes, der über Nacht zum Patienten wurde, ist rasiert und über und über mit Desinfektionslösung eingepinselt. Rostorange zu Dunkelgrün. Und nun kommen meine Hände in beigefarbenen Handschuhen. Unter dem starken Licht der OP-Lampe blitzt das Skalpell. Etwas Ungeheuerliches wird gleich geschehen, etwas, das mir in Fleisch und Blut übergegangen ist nach vielen Tausend Operationen. Ich werde die Unversehrtheit der Haut mit dem Skalpell durchtrennen und danach mit der Knochensäge das Brustbein aufschneiden, um tief im Inneren des Körpers dieses Leben zu retten.
Jetzt liegt das Herz vor mir. So ein Herz ist für mich mehr als ein Organ. Es kommt mir vor wie ein lebendiges Wesen, und tatsächlich ist jedes anders. Es gibt Herzen, die wirken geradezu erleichtert, dass man mal nach ihnen schaut, andere wirken bedrückt, es gibt sportliche Typen und Moppelchen mit Fettansatz. Und sehr erschrockene Herzen wie das dieses Patienten, der etwas auf dem Herzen hatte, wie er vor der Operation zu mir sagte. Nämlich seine beiden Kinder, die ihm so sehr ans Herz gewachsen sind, und seine Frau, der das Herz brechen würde, wenn sie allein bliebe. Wir merken es gar nicht, wie oft wir das Herz auf der Zunge tragen; als Symbol für die Liebe ist es allgegenwärtig.
Es war schon spät, als ich am Vorabend am Bett dieses Patienten saß, doch ich wusste, er würde nicht schlafen. Vor schweren Eingriffen schläft fast keiner. Ich möchte immer gern wissen, wen ich operiere. In manchen Kliniken sehen die Chirurgen nur das Operationsfeld zwischen den grünen sterilen Tüchern. Ich möchte wissen, zu welchem Menschen das Herz gehört. Das klappt nicht immer, denn einige Herzoperationen sind Not-OPs; nicht selten werden die Patienten ohne Bewusstsein »eingeliefert«. Andere Operationen sind lange geplant: In sechs Wochen bekommen Sie eine neue Herzklappe, einen Bypass oder was auch immer, heißt es da. Auf Termin-OPs können sich alle besser vorbereiten. Auch die Angehörigen. Termin-OPs sind mir lieber, da kann ich meine Patienten und ihre Angehörigen kennenlernen, manchmal in mehreren Gesprächen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, und das ist auch in vielen Studien belegt, dass ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis den Heilungsverlauf positiv beeinflusst. Davon abgesehen meine ich, dass die Patienten ein Recht darauf haben, zu erfahren, wer ihr Brustbein aufsägen, ihr Herz anstupsen oder was auch immer tun wird. Wer an ihrer Seite sein wird, wenn ihr Körper »tot« ist, mit Eisplatten heruntergekühlt auf fünfundzwanzig Grad, kein Herz schlägt mehr, die Herz-Lungen-Maschine ruht, die Aorta liegt offen. Allein das Gehirn wird weiter versorgt; ein kleiner Blutkreislauf erhält das Leben im Kopf, während es aus dem Körper gewichen ist. Kehrt es zurück?
Es ist immer wieder ein Gänsehaut-Moment für mich, wenn ein stillgelegtes Herz zurück ins Leben findet. Als wäre eine Komposition von einer Pause unterbrochen, die Herzmusik schweigt über viele Takte eines Satzes … und beginnt dann hoffentlich erneut, wenn der Dirigent den Stab hebt, der in diesem Fall die Gestalt eines Elektroschockers hat. Auch im OP ist die Spannung mit Händen zu greifen: Wird die Musik des Herzens abermals erklingen? Oder sind manche Instrumente verstimmt oder gar verstummt für immer? Doch das geschieht bei einer Operation nur selten. Kritisch ist die Zeit danach. Das wissen viele nicht, die glauben, wenn sie eine Operation überstanden haben, hätten sie das Schlimmste hinter sich.
Sie sind mutig, wenn Sie bis hierhin gelesen haben, und klug. Manche Menschen beschäftigen sich erst mit einem Problem, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Indem Sie dieses Buch lesen, bereiten Sie sich auf das Unbekannte vor. Es muss keine Herzoperation sein. Es reichen die Risiken, die das Leben für jeden von uns bereithält. Vielleicht stecken Sie selbst gerade jetzt in einer Krise; seit Corona befinden wir uns ja insgesamt im Krisenmodus. Wir hoffen, dass alles wieder normal wird, so schnell wie möglich. Erst nach und nach sickert in unser Bewusstsein, dass es kein Normal gibt, auf das wir ein Anrecht haben. Ja, dass dieses Beharren auf ein Normal das Leben enorm belastet. Es gibt einen besseren und deutlich gesünderen Weg: sich geschmeidig den Herausforderungen anpassen. Ein Stück dieses Weges gehen wir in diesem Buch gemeinsam. Am Ende werden Sie vielleicht meine Meinung teilen, dass unser Gesundheitssystem einige größere Eingriffe benötigt, um nicht nur den Körper, sondern auch die Lebensqualität eines Menschen im Auge zu behalten. Auch wenn wir in einer Leistungsgesellschaft als Leistungsträger perfekt funktionieren, ist niemand gefeit gegen die eine oder andere Unpässlichkeit, gegen Unfälle, Krankheiten, Unvorhergesehenes.
Wie begegnen wir Menschen, die aus unserer unversehrten, funktionierenden Mitte gefallen sind? Dazu möchte ich auch alle Gesunden zählen, die trotzdem nicht mehr weiterwissen – weil ihre berufliche Existenz zerstört oder ein nahestehender Mensch schwer erkrankt ist. Eine Krankheit trifft ja nicht nur einen Menschen. Wie eine Bombe kann sie eine vielköpfige soziale Landschaft erschüttern. Meiden wir die Betroffenen, weil wir nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen? Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher sind wir Angehörige und Freunde von Menschen, die einen harten Schicksalsschlag verkraften müssen. Von Menschen, die ein Gegenüber brauchen, dem sie einen Blick in ihr tiefstes Inneres gewähren können. Von Menschen, die das aushalten, weil sie sich damit auseinandergesetzt haben, weil sie nicht weglaufen, weil sie nicht auf ein längst vergangenes Normal beharren, sondern sich mutig und geschmeidig einer neuen Situation anpassen. Gelingt dies, ist es für alle leichter.
Doch natürlich ist es verlockend, so zu tun, als wäre man wieder »ganz der Alte«. Denn welcher Neue sollte man sein? Den kennt man ja noch gar nicht, und das macht einem Angst. Alles, was wir nicht kennen, macht uns Angst, wir lehnen es erst einmal ab. Wenn eine Gesellschaft insgesamt vor allem an einem reibungslosen Ablauf interessiert ist und daran, dass jeder wieder so schnell wie möglich so reibungslos wie möglich funktioniert, haben wir keine Vorbilder, wie es anders sein könnte. Funktionieren bedeutet, Rollen zu erfüllen. Der Ehemann muss zurück in seine Rolle als »Familienvorstand«, der Chef muss zurück in die Firma, Oma kümmert sich um alle, jemand hat immer einen Witz auf den Lippen, eine andere spielt weiter die Starke, die alles wuppt … Und was sagt das Herz dazu, unsere innere Stimme?
Mach mal langsamer.
Ist das wirklich wichtig?
Tut dir das gut?
Was brauchst du jetzt?
Über die Angst zu sprechen ist die einzige Möglichkeit, ihr beizukommen. Angst trennt. Vertrauen und Liebe verbinden. Wer über die Angst spricht, macht sie kleiner. Aber das müssen wir üben. Als Menschen … und auch als Ärzte.
Manche Ärzte haben Angst vor Gesprächen mit Patienten; das gibt es öfter, als man glauben möchte. Wer wünscht sich schon, einem Menschen zu sagen, dass er nicht mehr lange zu leben hat? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch in solchen Situationen die Verbindung zu einem Patienten der bessere Weg ist als die Trennung, zum Beispiel mithilfe von Medizinerlatein oder Outsourcing: »Kollegin, bitte erklären Sie dem Patienten den Befund.«
Manchmal fragt mich ein Kollege, warum ich mir den persönlichen Kontakt zu meinen Patienten »antue«. Ich könnte es doch viel einfacher haben. Aufschneiden, reparieren, zunähen und alles Weitere wird auf der Intensivstation erledigt. Operieren am Fließband; in großen Kliniken ist das der Alltag. Man fängt in OP eins an und arbeitet sich weiter bis OP vier, und überall sieht man nur von grünen Tüchern bedeckte Körper. Dort, wo das Tuch ein Loch hat, ist mein Job.
Auf den Intensivstationen unserer modernen Hochleistungsmedizin wird durchaus Gott gespielt, manchmal nicht zum Wohle der Patienten. Wenig scheint unmöglich. Geht nicht gibt’s nicht. Wir können alles. So endet der Mensch, der im Patienten steckt, der wiederum zu einem Fall geworden ist, gerade in der Herzchirurgie letztlich als Defekt, der repariert werden muss. In der Fixierung auf die Machbarkeit, ja vielleicht auch der Freude daran, wird leider mancherorts übersehen, dass es nicht nur eine Krankheit gibt, sondern eben auch einen kranken Menschen, und dieser kranke Mensch braucht...
| Erscheint lt. Verlag | 10.3.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Naturheilkunde |
| Schlagworte | Gefäßchirurgie • gesundheitskrise • Giovanni Maio • Herzinfarkt • Herzoperation • Hilfe für Angehörige in schweren Krisen • Hilfe für Angehörige von Herzpatienten • krankes Gesundheitssystem • Krise • Krisenbewältigung • Medizinische Ethik • Ökonomisierung des Gesundheitswesens • Patient-Arzt-Beziehung • Werte der Heilberufe |
| ISBN-10 | 3-95803-418-7 / 3958034187 |
| ISBN-13 | 978-3-95803-418-1 / 9783958034181 |
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