Die Hausarztpraxis von morgen (eBook)
198 Seiten
Kohlhammer Verlag
9783170350885 (ISBN)
Dr. Iris Veit, Hausärztin im Ruhrgebiet, Psychotherapeutin, Lehrbeauftragte der RUB-Bochum. Harald Kamps, Hausarzt und Lehrbeauftragter in Norwegen und Deutschland. Prof. Dr. Bert Huenges, Hausarzt, Leitung des Kompetenzzentrums Weiterbildung Allgemeinmedizin Westfalen-Lippe. Dr. Torsten Schütte, Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis im Süden Deutschlands, Facharzt für Innere Medizin, Lehrtherapeut für Neurolinguistisches Programmieren.
Dr. Iris Veit, Hausärztin im Ruhrgebiet, Psychotherapeutin, Lehrbeauftragte der RUB-Bochum. Harald Kamps, Hausarzt und Lehrbeauftragter in Norwegen und Deutschland. Prof. Dr. Bert Huenges, Hausarzt, Leitung des Kompetenzzentrums Weiterbildung Allgemeinmedizin Westfalen-Lippe. Dr. Torsten Schütte, Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis im Süden Deutschlands, Facharzt für Innere Medizin, Lehrtherapeut für Neurolinguistisches Programmieren.
1 Einleitung
Hausärztliche Versorgung ist komplex. Dem würden alle tätigen Hausärztinnen und Hausärzte zustimmen. Unser Alltagsdenken neigt zwar dazu, nach einer einzigen Ursache für sich verändernde Situationen zu suchen. Doch eine solche zu finden ist auch in der Medizin selten der Fall. Selbst wenn ein Faktor wie ein Bakterium oder Virus ausgemacht ist, stellt sich die Frage, warum der eine krank wird, der andere aber nicht.
Die Covid-19-Pandemie ist ein Beispiel für Komplexität. Komplexität anerkennende Vernunft würde erfordern, Zusammenhänge zu sehen, Kooperation zu suchen und Respekt vor dem Anderen zu haben. Diesen Gedanken entwickeln wir im ganzen Buch, das vor der Covid-19-Pandemie entstanden ist. Die ersten Erfahrungen mit der aktuellen Pandemie bestätigen uns in unseren Schlussfolgerungen und sollen hier kurz benannt werden.
Weltweit zeigte sie, dass soziale Ungleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, und der medizinische Sektor diese Ungleichheit nicht aufheben, allenfalls mildern kann. In den USA machen Afroamerikaner 13 % der Bevölkerung aus, stellen aber ein Drittel aller Covid-19-Erkrankten. Auch in Deutschland sind Langzeitarbeitslose schwerer erkrankt und hospitalisiert als Beschäftigte. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, durch das schon vorher bestehende Konflikte deutlicher hervortreten. Wie Bertolt Brecht in der Moritat von Mackie Messer in der Dreigroschenoper dichtete:
»Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht.
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.«
Die im Dunkeln wurden durch die Pandemie zumindest vorübergehend ins Licht gehoben. Zum Beispiel die Leiharbeiter aus Osteuropa in deutschen Fleischfabriken und auf den Erntefeldern. Die Pandemie beleuchtet auch die technisch und personell unzureichende Ausstattung des öffentlichen Gesundheitswesens und die Notwendigkeit, sein Schattendasein zu beenden. Sie weist auf die Not der Pflegebedürftigen. Die pflegerischen Berufe wurden plötzlich »systemrelevant«. Ob sich die »Systemrelevanz« in einer Tarifbindung dieser Berufe bei allen Trägern, höherem Lohn und besseren Arbeitsbedingungen zukünftig niederschlagen wird, ist noch offen.
Offensichtlich und öffentlich diskutiert wurde, dass marktwirtschaftliche Mechanismen nicht geeignet sind, in Bereichen der Daseinsfürsorge – wie z. B. der gesundheitlichen Versorgung – allen Menschen dienende Lösungen bereitzustellen. Sichtbar wurde das am Beginn der Pandemie in der mangelnden Bevorratung. So hinderte der eklatante Mangel an Schutzkleidung Hausärzte, alte oder behinderte Menschen und chronisch Kranke bei Haus- und Heimbesuchen angemessen zu versorgen. Einige Ärzte bezahlten diesen Mangel mit ihrer Gesundheit. Die Aufgabe der Bereitstellung von Versorgung war auch für den stationären Sektor nicht im Blick. Denn Fallpauschalen honorieren dies nicht. Die Pandemie stellt nicht nur ein durch Fallpauschalen gesteuertes Abrechnungssystem in Frage, sondern auch, ob wir daran festhalten wollen, dass das Trachten nach Gewinn einzelner Investoren über die Mechanismen des Marktes zu verbesserter Gesundheit aller führt. Wie vieler Tote weltweit bedarf es noch, um diese Auffassung zu entkräften? Zumindest wurde auf politischer Ebene ein kleiner, erster Schritt zu zentraler Koordination gemacht, indem ein zentrales Register der Intensivbetten eingeführt wurde. Wie das angesprochene Problem der Bevorratung gelöst wird, und vor allem, wer sie bezahlt, ist noch offen.
Anerkennung der Komplexität würde verlangen, Kooperation und Partizipation zu fördern und auch dem jeweils anderen Wissen und Weisheit zuzusprechen. Auch dies belegte bisher die Pandemie. Die Kooperation der Wissenschaftler und ihrer Institutionen wuchs, um eine globale Bedrohung der Menschheit zu bewältigen, und neue Wege der Zusammenarbeit haben sich entwickelt. Die internationale Kooperation von Regierungen und ihrer Institutionen hinken sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene hinterher. Komplexität anerkennende Vernunft würde anzuerkennen verlangen, dass das gesundheitliche Wohlergehen jedes Landes auch vom Wohlergehen anderer Länder, unserer unmittelbaren Nachbarn und den Ländern des globalen Südens, abhängig ist.
Komplexität anerkennende Vernunft würde für den hausärztlichen Versorgungsbereich eine enge Verzahnung zwischen den gebietsärztlich tätigen Kollegen aus ambulantem und stationärem Sektor, anderen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen und der Zivilgesellschaft notwendig machen. Erinnern wir uns an die ansteckende Kreativität der Zivilgesellschaft und die verbreitete Haltung einer Fürsorge für andere am Beginn der Pandemie! Dieses Potential sollte im Blick behalten werden. Die Kommunen und Landkreise und das öffentliche Gesundheitswesen erlangten eine bisher nicht ausreichend wahrgenommene Bedeutung. Eine Lehre daraus könnte sein, dass nur kooperative Strukturen der hausärztlichen Versorgung zukünftig Bestand haben werden. Kooperation kann durch die Möglichkeiten, die die digitalisierte Welt bietet, noch weiter entwickeln werden. Die digitale Technik hat durch die Pandemie einen Schub erhalten, der nicht mehr wegzudenken ist.
Um die Anerkennung von evidenzbasiertem Expertenwissen hat sich eine gesellschaftliche Diskussion entwickelt. Evidenzbasierte Wissenschaft hat öffentliche Anerkennung erfahren, auch wenn nach dem Lockdown narzisstische und nationalistische Tendenzen in der Gesellschaft in den Hygienedemonstrationen sichtbarer wurden und unter dem Schlagwort der Freiheit eine Beliebigkeit gegen evidenzbasierte Fakten setzen wollten. Zur Bedeutung evidenzbasierten Sachwissens äußern wir uns im Kapitel »Choosing wisely«.
Die Zukunft ist zwar unsicher, doch voller Möglichkeiten der Veränderung. Zu welchen vor der Pandemie nicht einmal vorstellbaren Entscheidungen war die Politik fähig – diese Erinnerung wird hoffentlich wirksam bleiben für den Mut, den solche Änderungen erfordern.
In einer komplexen Welt können Situationen verschiedene Zustände annehmen. Weil alle Variablen kreiskausal in Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden sind, können winzige Veränderungen weitreichende Folgen haben. Der strapazierte Begriff »multifaktoriell« umschreibt das nicht. Um in Metaphern zu sprechen, bewegen wir uns nicht auf Leitern, die Sprosse für Sprosse (jede Sprosse ein Faktor) nach oben zum Überblick führen, sondern wie eine Kugel in einer Landschaft mit Bergen und Tälern, deren Ruhepunkt ungewiss ist. Anerkennung der Komplexität würde deshalb verlangen, vor eigenen Entscheidungen innezuhalten, abzuwarten und Unsicherheit zumindest eine Zeit lang auszuhalten. Wir sollten unseren Patienten nicht davoneilen, sondern Schritt für Schritt mit ihnen gehen. In der systemischen Therapie gibt es dafür den Begriff des »Pacing«, in der humanistischen Medizin (von Uexküll) den Begriff der »Passung«.
Anerkennung der Komplexität würde vor allem verlangen, Zusammenhänge zu sehen. Wir haben bereits einige Zusammenhänge beschrieben, die diese Pandemie sichtbarer werden lässt. Es ist jedoch unmöglich, Zusammenhänge ausschließlich aus der Perspektive von außen zu erkennen. Versetzen Sie sich in die Lage einer Person, die einen Film betrachtet, in dem sie gleichzeitig Mitspieler ist. Angewandt auf die Rolle des Arztes: er ist gleichzeitig Mitspieler wie Beobachter und schlüpft abwechselnd mal in die eine und mal in die andere Position. In der Außenposition als Beobachter kann er aus der Distanz reflektieren, was ihn und den anderen in der jeweiligen Situation beeinflusst hat. Wer Komplexität anerkennt, ist daher gezwungen, eine selbstreflektierende Praxis zu pflegen. Er muss über sich selbst, seine eigenen Werte und Glaubenssätze, die er im Laufe der eigenen Entwicklung und im Rahmen seiner kulturellen Zugehörigkeit erworben hat, nachdenken. Er müsste die Gefühle und Assoziationen und Körpersensationen wahrnehmen und berücksichtigen, die in der Interaktion mit dem jeweiligen Patienten aufkommen und das weitere Handeln beeinflussen. Für diese Haltung und daraus folgenden Handlungen benutzen wir in diesem Buch den Begriff »Beziehungsmedizin«. Verbunden ist dieser Begriff mit Ansichten verschiedener Denktraditionen. Darin fließen die Konzepte unterschiedlicher Theorien ein: das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung (psychodynamische Theorien), das Konzept des Rapports (systemische Sichtweise) und Begriffe der Leiblichkeit, Situation und der Atmosphäre (Neue Phänomenologie) und der Begriff der Resonanz (soziologische Theorie nach Rosa 2016). Das ganze Buch ist durch den Wunsch geprägt, eine selbstreflexive Praxis anregen zu...
| Erscheint lt. Verlag | 13.1.2021 |
|---|---|
| Zusatzinfo | 17 Abb. |
| Verlagsort | Stuttgart |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Allgemeinmedizin |
| Schlagworte | Digitalisierung • Gefühle • Gesprächsführung • Gesprächskompetenz • Kommunikation • Weiterbildung |
| ISBN-13 | 9783170350885 / 9783170350885 |
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