Pflegeforschung anwenden (eBook)
454 Seiten
Facultas / Maudrich (Verlag)
9783991110224 (ISBN)
Hanna Mayer, Univ.-Prof. Mag. Dr., DGKP, Studium der Pädagogik, Professorin für Pflegewissenschaft und Vorständin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Wien, internationale Lehr- und Forschungstätigkeit.
1 Wissen, Wissenschaft und Forschung
Woher kommt menschliches Wissen? Was ist der Unterschied zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen? Und welcher Weg führt zu Erkenntnis? All das sind Fragen, die ganz zu Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Wissenschaft und Forschung“ stehen. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Wissensquellen und die Begriffe Wissenschaft und Forschung Gegenstand dieses Kapitels.
Wissenschaft ist heutzutage unbestritten ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. Ganz egal ob es um Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, wie z.B. Migrationsentwicklung, Veränderungen familiären Zusammenlebens oder Armutsbekämpfung, oder ob es um Technologie oder die Ursachen von Krankheiten geht, fast immer basieren die Versuche, eine Antwort zu geben, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wissenschaft zeigt Trends, Entwicklungen und Bedarfslagen auf und bildet eine zentrale Grundlage für Entscheidungen. Auch im Gesundheitswesen sind wissenschaftliche Erkenntnisse nicht wegzudenken. Dies betrifft auch die Pflege. Aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen sollen Entscheidungen auf eine nachvollziehbare Basis gestellt und soll damit letztendlich die Praxis verbessert werden – zum Wohle der Patientinnen und ihrer Angehörigen.
Um über Wissenschaft im eigenen beruflichen Bereich nachdenken zu können, ist es zuerst einmal wichtig, nachzuvollziehen, was Wissenschaft ist und wie wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen.
1.1 Wissensquellen beruflichen Handelns
Wissen ist keine „Gabe“, die den Menschen angeboren oder in die Wiege gelegt ist, es muss vielmehr erworben werden. Dabei sind Neugierde und Forschergeist (also die Lust daran, unbekannte Dinge zu hinterfragen) die wichtigsten Triebfedern. Dies gilt für alle Lebensbereiche, sowohl für die Bewältigung des Alltags als auch – und noch viel mehr – im Kontext des beruflichen Handelns.
Wenn man sich die eigene Situation in Erinnerung ruft (z. B. die eigene berufliche Praxis), so zeigen sich bei genauerem Hinsehen verschiedene Quellen, aus denen man sein Wissen schöpft. Wissen beruht im Wesentlichen immer auf den Wissensquellen Tradition, Autorität, Erfahrung, Versuch und Irrtum, logisches Denken und regelgeleitete Forschung (Polit, Beck & Hungler, 2004).
Diese Wissensquellen lassen sich – betrachtet man in erster Linie den Weg des Erkenntnisgewinns – in zwei Arten unterteilen: in unstrukturierte und in strukturierte Wissensquellen.
Zu den unstrukturierten Wissensquellen zählen:
• Intuition
• Erfahrung
• Versuch und Irrtum
• Tradition und Autorität
Strukturierte Wissensquellen sind:
• logisches Denken
• regelgeleitete Forschung
Die Unterteilung in strukturierte und unstrukturierte Wissensquellen stellt grundsätzlich keine Wertung dar. Wissen aus unstrukturierten Wissensquellen ist nicht notwendigerweise falsch oder gar unwichtig, und Wissen aus strukturierten Quellen ist nicht immer richtig oder bedeutungsvoll. Alle Wissensquellen sind Bestandteile des menschlichen Wissens und für das Handeln wesentlich. Sie bedürfen aber einer gründlichen Reflexion vor allem im Hinblick auf ihre Reichweite und Grenzen, da diese Quellen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit und Verallgemeinerbarkeit stark variieren können (Polit et al., 2004).
1.1.1 Unstrukturierte Wissensquellen
Intuition
Intuition gründet auf einer Art tief verinnerlichten Wissens, das auf mehr oder weniger unbewusstem Weg zustande gekommen ist. Wer intuitiv handelt, stellt keine theoretischen Überlegungen an und analysiert auch keine Situation, sondern handelt „aus dem Bauch heraus“.
Intuition ist auch im beruflichen Alltag ein weit verbreitetes Mittel zur Lösung von Problemen; sie ist jedoch, soweit sie professionelles Handeln betrifft, abhängig von einer gewissen Vertrautheit mit der Materie. Menschen, die häufig intuitiv handeln, kennen sich auf dem betreffenden Gebiet meist gut aus, sind Expertinnen und verfügen über fundiertes Wissen und einen reichen Erfahrungsschatz. Sogar das Pflegehandeln auf der höchsten Stufe, der Expertenstufe, zeichnet sich oft durch Intuition aus.
„Mit ihrem großen Erfahrungsschatz sind Pflegeexpertinnen und -experten in der Lage, jede Situation intuitiv zu erfassen und direkt auf den Kern des Problems vorzustoßen, ohne viel Zeit mit der Betrachtung unfruchtbarer Alternativdiagnosen und -lösungen zu verlieren.“
(Benner, 1997, S. 50)
Intuition ist jedoch etwas Individuelles; man kann sie weder steuern noch beliebig abrufen. Daher hat sie zwar einen wichtigen Anteil am beruflichen Handeln, ist aber keine Wissensquelle, aus der man beliebig schöpfen kann. Mit anderen Worten: Intuition ermöglicht berufliches Handeln, trägt jedoch nicht zur systematischen Vermehrung von beruflichem Wissen bei.
Erfahrung, Versuch und Irrtum
Erfahrungen sind eine wohlbekannte Wissensquelle. Ein großer Teil des Wissens, über das jeder Mensch verfügt, besteht aus Erfahrung. Je vertrauter man mit einer Situation ist, je mehr Erfahrung man auf einem bestimmten Gebiet erworben hat, desto mehr versteht man, was dort geschieht; man kann darin Regelmäßigkeiten entdecken und Verallgemeinerungen ableiten. Erfahrungsreichtum erlaubt es, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Situationen zu erkennen, von einem Problem auf ein anderes zu schließen und es auf diese Weise zu lösen. Jedoch ist Erfahrungswissen immer subjektiv, wird unsystematisch gewonnen und oft nicht überprüft. Der eigene Erfahrungsschatz ist daher nicht geeignet, allgemeingültige Schlüsse aus ihm zu ziehen; dazu ist er zu individuell und zu begrenzt. Aus diesem Grund kann Erfahrung nur eingeschränkt als Basis für pflegerisches Wissen und Verständnis gelten.
Beispiel
Dass Pflegehandeln, das alleine auf Erfahrung beruht, nicht immer zum Wohle der Patientin beiträgt, zeigt das bekannte Beispiel des „Eisens und Föhnens“ als Dekubitusprophylaxe. Diese Maßnahme, die sich auf Erfahrungswissen stützt, wurde in der Pflegepraxis häufig angewendet. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten aber nachweisen, dass diese Technik nicht nur unwirksam, sondern sogar schädlich ist.
Eine weitere, der Erfahrung nahe verwandte Wissensquelle ist die Methode von Versuch und Irrtum. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten zur Lösung eines Problems so lange ausprobiert, bis sie erfolgreich sind. Dass diese Art von Problemlösung sich für die Praxis als untauglich erweist, ist leicht einzusehen. Sie verlangt einen hohen Zeit- und Energieaufwand und verzichtet auf die Frage, ob die gesuchte Lösung möglicherweise bereits von jemand anderem gefunden wurde. Darüber hinaus kann dieses Vorgehen den Patientinnen Unannehmlichkeiten bereiten oder Schaden zufügen.
Tradition und Autorität
Unter tradiertem Wissen versteht man Erkenntnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Man hält sie für richtig, weil sie schon lange existieren („Das wurde immer schon so gemacht Tradiertes Wissen wird in der Praxis oft in Form von Ritualen in den pflegerischen Alltag eingebaut und auf diese Weise weitergegeben. Ein Beispiel dafür ist das routinemäßige Messen der Temperatur aller Patientinnen am Morgen. Wird dieses Wissen von Personen vertreten, die aufgrund ihrer Verdienste, ihrer Position oder ihrer Erfahrung als Autoritäten (Expertinnen) gelten, bekommt es zusätzlich verbindlichen Charakter.
Bewährtes Wissen ist etwas sehr Wertvolles. Autoritäten (Spezialistinnen) zu befragen, kann ebenfalls ein guter Weg zur Problemlösung sein. Auch Rituale sind sinnvoll, denn sie bieten Struktur im beruflichen Alltag. Tradiertes Wissen und Rituale müssen jedoch auf ihren Sinn und Zweck, auf ihre Tauglichkeit und auch auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Nicht immer ist tradiertes Wissen zutreffend, und auch Expertinnen haben nicht immer recht. Daher sollte mit diesen Wissensquellen konstruktiv, aber nicht unkritisch umgegangen werden. Traditionen und/oder Expertenwissen können nur bedingt als verlässliche Wissensquellen gelten – vor allem, wenn ihre Behauptungen nicht kritisch hinterfragt werden.
Beispiel
Lange Zeit galt es als Tabu, Kinder als Besucherinnen auf Intensivstationen zuzulassen. Dieses Besuchsverbot wurde lange Zeit aufrechterhalten – es wurde tradiert weitergegeben, denn rationale oder wissenschaftlich gestützte Gründe standen nicht dahinter. Vielmehr zeigen neuere Forschungen, dass aus der Perspektive der familiären Krankheitsbewältigung Besuche von Kindern auf Intensivstationen durchaus sinnvoll sind und keineswegs Schäden psychologischer Art oder „hygienische“ Probleme hervorrufen. Trotzdem hält sich mancherorts dieses...
| Erscheint lt. Verlag | 30.9.2019 |
|---|---|
| Verlagsort | Wien |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
| Schlagworte | Datenerhebung • Design • Forschung • Forschungsanwendung • Mayer • Methode • Pflegeforschung • Pflegeforschung anwenden • Pflegewissenschaft • Statistik • Validität • Wissenschaft |
| ISBN-13 | 9783991110224 / 9783991110224 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 8,8 MB
Kopierschutz: Adobe-DRM
Adobe-DRM ist ein Kopierschutz, der das eBook vor Mißbrauch schützen soll. Dabei wird das eBook bereits beim Download auf Ihre persönliche Adobe-ID autorisiert. Lesen können Sie das eBook dann nur auf den Geräten, welche ebenfalls auf Ihre Adobe-ID registriert sind.
Details zum Adobe-DRM
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen eine
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen eine
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich