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Sprechen über Sex (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
144 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8211-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sprechen über Sex -  Karina Kehlet Lins
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Kaum eine Paartherapie, in der nicht früher oder später die Rede auf die Sexualität des Paares käme. Und nicht nur dort: Auch medizinische Behandlungen berühren häufig diesen Kernbereich des menschlichen Miteinanders, etwa in der Gestalt von medikamentösen Nebenwirkungen. Professionelle Helfer trauen sich jedoch oft nicht, das Thema von sich aus anzusprechen. Wo dagegen Fragen der Sexualität offen und angemessen besprochen werden, profitieren die Beteiligten gleich mehrfach: Klienten respektive Patienten fühlen sich ernst- und wahrgenommen, Unsicherheiten können überwunden werden, die therapeutische Allianz wird gestärkt. Nicht zuletzt ist ein befriedigendes Sexualleben an sich ein wichtiger Gesundheitsfaktor. Die Sexualtherapeutin Karina Kehlet Lins bietet mit diesem Buch eine Art 'Sprachkurs' für Therapeuten, Ärzte und andere Mitarbeiter im Gesundheitssektor an. Einfache Übungen und Aufgaben mit Raum für Notizen helfen, durch Selbstreflexion eigene Antworten und damit einen persönlichen Stil im Umgang mit dem Thema zu finden. In Dänemark ein Bestseller, erscheint das Buch hier erstmals in deutscher Sprache.

2SEX AUF DIE TAGESORDNUNG


Wie im vorherigen Kapitel bereits aufgezeigt wurde, hat die historische Entwicklung der Sexualwissenschaft eine Entfremdung der Sexualtherapie von der restlichen Psychotherapie zur Folge gehabt. Diese wurde von einem zunehmend medizinischen Zugang zur Sexualität mit dem Fokus auf sexuelle Störungen begleitet, der an die Stelle einer inklusiveren und positiveren Definition von Sexualität trat. Die Gefahr ist groß, dass sexuelle Probleme nur im Lichte der behandelten technischen Beschwerden verstanden werden, ohne Berücksichtigung der psychologischen, relationalen und situationsbedingten Faktoren, die die Beschwerden mit verursacht haben. Es ist sehr wichtig, dass nicht nur die Symptome behandelt werden, da sonst die Situation noch verschlimmert werden könnte, weil die Ursachen außer Acht gelassen wurden. Wie schon gesagt, ist der gesamte Kontext für das Verständnis des Symptoms entscheidend.

Beispiel

Wenn eine Klientin keine vaginale Lubrikation erzeugt (eine feuchte Scheide) und ihr die Verwendung eines Gleitmittels oder Öls empfohlen wird, ohne dass das Problem eingehender besprochen wurde, lässt man die Möglichkeit außer Acht, dass es einen Grund für den Lubrikationsmangel geben könnte. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Partnerin es zu eilig hat und die Klientin nicht genug Zeit hat, erregt zu werden. Dies wäre jedoch nur eine von vielen möglichen Ursachen. Werden die zugrundeliegenden Zusammenhänge nicht genau untersucht und wird nur das Symptom behandelt, kann dies zu neuen Problemen führen – die Klientin könnte z. B. Lustlosigkeit entwickeln.

Wie bereits aufgezeigt, hat die Ausgrenzung der Sexologie als Fachbereich zur Folge, dass sie als Spezialgebiet aufgefasst wird. Es handelt sich dabei jedoch um ein Spezialgebiet ohne eigens definierte theoretische Richtung. In ihrem Artikel über die Zukunft der Sexualtherapie schreiben Binik und Meana (2009) sehr treffend, dass ein derartiger Sonderstatus nicht angemessen ist, da es tatsächlich nichts gibt, was die Sexualtherapie von anderen Formen der Psychotherapie unterscheidet. Andererseits ist es gerade dieses Bild von der Sexologie als besonderem Bereich, das dazu geführt hat, dass Menschen mit sehr unterschiedlichem fachlichen Hintergrund sich in diesem Feld tummeln.

Viele Menschen würden gerne über mehr Information zu sexuellen Themen verfügen oder Hilfe bei diesbezüglichen Fragestellungen und Herausforderungen erhalten, aber sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Es gibt eine verwirrend große Menge an Angeboten, für Laien ist es jedoch nicht leicht, beispielsweise zwischen einem klinischen Sexualtherapeuten mit akademischer Ausbildung und einem selbsternannten Sexualtherapeuten mit zweifelhaftem Fachwissen zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit wird von den Beteiligten im Gesundheitswesen leider kaum thematisiert oder kritisiert (Binik a. Meana 2009). Einige der eher pseudowissenschaftlichen Maßnahmen innerhalb der Sexualtherapie haben dazu beigetragen, dass die akademische Welt die Sexologie an den Rand gedrängt hat und Sexualwissenschaft höchstens als Wahlfach angeboten wird, ein Fach, das nicht wirklich ernst zu nehmen ist. Soll diese Entwicklung umgekehrt werden, müssen Psychologen und andere im Gesundheitswesen Tätige sich hierfür engagieren und der Sexualwissenschaft den notwendigen Stellenwert einräumen.

Diejenigen, die die Ansicht für übertrieben halten, dass die Sexologie an den Rand gedrängt geworden sei, sollten sich einfach nur einmal die Interessenorganisationen der Psychologen ansehen. In der American Psychological Association gibt es 56 verschiedene fachliche Gesellschaften, und mit Ausnahme des LGBT+-Bereichs, der sich um die Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und transgeschlechtlichen Personen kümmert, gibt es keine Interessengruppe oder Arbeitsorganisation, die für die Sexualität zuständig ist (APA 2017). Derzeit zeichnet sich im Verband dänischer Psychologen und Psychologinnen, dem Dansk Psykologforening, das gleiche Bild ab – von den 27 fachlichen Gesellschaften gibt es keine einzige, die sich offiziell dem Bereich der Sexualität widmet.

Auch im deutschen Berufsverband gibt es keine Sektion, die sich der Sexualität annimmt.2 Da sexuelle Probleme sich typischerweise innerhalb von Beziehungen abspielen, wäre die Psychotherapie eine naheliegende Behandlungsmethode, statt die Sexualtherapie zu delegieren und auszulagern in ein anderes Fachgebiet. Zum Glück kann hier Abhilfe geschaffen werden. Wie Moser (2009) argumentiert, wären bereits ein paar wenige Artikel in psychologischen Zeitschriften hilfreich, die thematisieren, wie einfach es ist, verhaltenstherapeutische, kognitive und psychodynamische Ansätze bei der Behandlung von sexuellen Herausforderungen anzuwenden. Darüber hinaus könnten im ganzen Land Interessengruppen etabliert werden. Psychologen könnten sich in höherem Maße in die sexualpolitischen Debatten einmischen und in den Medien äußern. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Sexologie sei ein Spezialgebiet – oder, schlimmer noch, im Grunde überflüssig. Sehr viel mehr Menschen könnte geholfen werden, wenn wir diese Aufgabe gemeinsam angingen.

Institutionalisierte Unwissenheit


In vielen Ausbildungsgängen wird der Sexologie als Fach keine Priorität eingeräumt. Im Studienfach Psychologie gilt sie in Dänemark zum Beispiel nur als Wahlfach, und derzeit (2019) steht die Sexualwissenschaft an den größten Universitäten Dänemarks, in Aarhus und Kopenhagen, gar nicht auf dem Lehrplan. Auch im deutschsprachigen Raum sind sexualwissenschaftliche Themen in den Studiengängen immer noch zu spärlich vertreten (Briken u. Berner 2013). Obwohl ein erregendes und befriedigendes Sexualleben sehr viel heilsamer ist als viele Medikamente, achten selbst Ärzte und Psychologen in der Regel nicht darauf – das Thema kommt in Studium und Ausbildung nach wie vor allenfalls am Rande vor (Sigursch 2013). Ohne das nötige Fachwissen prägen meist die eigenen Werte und Haltungen der Therapeuten den Zugang zum Thema; oft geschieht dies sogar, ohne dass sich die Beteiligten darüber im Klaren wären, falls sie es sich überhaupt zutrauen, mit ihren Klienten über Sexualität zu sprechen.

In Krankenhäusern hat das Thema ebenfalls einen niedrigen Stellenwert; es wird als Luxusproblem aufgefasst, weil es nicht um Leben oder Tod geht. Für manche Menschen stellt sich jedoch die Frage, ob ein Leben ohne Sexualität überhaupt lebenswert ist (Kristensen 2007). Im Gesundheitswesen arbeiten noch immer Menschen, die der Meinung sind, dass ältere, behinderte oder kranke Menschen keine sexuellen Bedürfnisse haben. Die Ursache dafür ist möglicherweise, dass manche Menschen nach wie vor Sexualität ausschließlich mit Fortpflanzung gleichsetzen. Andere akzeptieren vielleicht, dass diese Menschen sexuelle Gefühle haben, aber sie glauben, dass hohes Alter, Krankheit und Behinderung mit sexuellen Aktivitäten unvereinbar seien. Um ihren Klienten helfen zu können, müssen Fachkräfte in erster Linie akzeptieren, dass auch kranke, behinderte und ältere Menschen sexuelle Wünsche und Bedürfnisse empfinden und dass sie ein Recht darauf haben, dass diese ernst genommen werden (Johansen, Thyness og Holm 2001). Leider wird der Sexualität alter Menschen überwiegend eine wenig positive Haltung entgegengebracht. Das Personal in Pflegeheimen kann diese negative Einstellung unversehens zementieren, so wie auch Kinder – unabhängig von ihrem eigenen Alter – oft nicht wahrhaben und akzeptieren wollen, dass ihre Eltern sexuelle Bedürfnisse haben und das ganze Leben lang diesbezüglich aktiv sind. Dies mag dazu führen, dass manche Ältere diese wenig förderlichen Haltungen auch selbst übernehmen und anderen gegenüber zum Ausdruck bringen, die diese Einschränkungen nicht hinnehmen mögen und vielleicht auch in höherem Alter noch Lust auf sexuelle Aktivität zeigen. So werden dann vielleicht zwei ältere Menschen, die sich einander annähern, den negativen Reaktionen ihrer gleichaltrigen Altersgenossen ausgesetzt (Kristensen 2007). Als Betreuerin muss man die Bedeutung der Sexualität für das allgemeine Wohlbefinden aller Menschen anerkennen, auf Gespräche darüber vorbereitet sein und sich darauf einlassen können. Wie bereits erwähnt, haben viele Menschen das Bedürfnis, sexuelle Themen anzusprechen – dies gilt selbstverständlich auch für den älteren Teil der Bevölkerung. In einer amerikanischen Studie waren 91 % der Patienten im Alter von über 65 Jahren darüber erleichtert, dass ihr Hausarzt bei einer Gesundheitsuntersuchung auf ihre Sexualität einging (Møhl 2017b).

Geistig Behinderte sind ebenfalls sexuelle Wesen, die das Bedürfnis haben, ihre Sexualität zu entwickeln und auszuleben. Menschen mit physischen und psychischen Funktionsstörungen stehen selbstverständlich in Bezug auf ihre Sexualität die gleichen grundlegenden Rechte wie allen anderen...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2020
Vorwort Ann-Marlene Henning
Verlagsort Heidelberg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Sexualität / Partnerschaft
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Fetisch • Gender • Heteronormativität • Kinks • LGBTQ • Normkritisch • Paartherapie • Psychologie • Sexologie • sexpositiv • Sexualität • Sexualtherapie
ISBN-10 3-8497-8211-5 / 3849782115
ISBN-13 978-3-8497-8211-5 / 9783849782115
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