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Figuration, Anschauung, Erkenntnis -  Sybille Krämer

Figuration, Anschauung, Erkenntnis (eBook)

Grundlinien einer Diagrammatologie
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
361 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74467-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
(CHF 17,55)
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In unserer dreidimensionalen Welt sind wir umgeben von bebilderten und beschrifteten Flächen. Welche Rolle spielt die »Kulturtechnik der Verflachung« in unseren Wissenspraktiken? Worin besteht die kognitive Kreativität von Tabellen, Texten, Diagrammen und Karten, die für Erkenntnis und Wissenschaft unverzichtbar sind? Sybille Krämer untersucht, wie synoptische Anordnungen zu Denkzeugen werden. Sie analysiert die Erkenntniskraft der Linie als Wurzel eines diagrammatischen Denkens, dessen Spuren sich schon in den Erkenntnistheorien von Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein sichern lassen. So entstehen die Konturen einer Diagrammatologie, in deren Rahmen sich die Orientierungsleistung und Imaginationskraft sichtbarer, räumlicher Schemata für das Erkennen erforschen lassen.

Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin im Ruhestand und seit 2019 Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: <em>Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität </em>(2008) und <em>Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie</em> (stw 2176).

111. »Spielfelder« des Denkens und Erkennens?
Eine Hinführung


Wir fangen einen durch die Luft fliegenden Ball. Keine Frage: Hirn, Auge und Hand sind hierbei vonnöten; Sensorik, Motorik und Kognition arbeiten dabei in Feinabstimmung. Das Fangen von Bällen ist eine körperliche Kompetenz: Nicht nur, weil unser Körper dabei in Aktion ist, sondern auch, weil der »Zugriff« auf den Ball sich innerhalb der Körperwelt vollzieht: Der Ball ist ein berührbares Ding, und unsere leiblichen Hände, mit denen wir ihn ergreifen, sind zwar keine Dinge für uns, aber als Teile unseres Körpers »zuhanden«. Bälle fangend bewegen wir uns im Materialitätskontinuum der Welt, innerhalb von dem, was raum-zeitlich situiert, also wahrnehmbar und berührbar ist.

Stellen wir uns vor, wir könnten geistige Kompetenzen erwerben und befördern, indem das gelungene Zugreifen in der Welt der Körperdinge fruchtbar gemacht wird für das Verhalten in der Welt der Wissensgegenstände: Theoretische Entitäten sind das, was sie sind, weil sie nicht raum-zeitlich situiert, nicht sinnlich wahrnehmbar, nicht zu ergreifen sind. Und doch: Der Kunstgriff, von dem der menschliche Geist – jedenfalls ist das unsere Vermutung – zehrt und beflügelt wird, besteht (auch) darin, abstrakten Entitäten körperliche Surrogate zu verschaffen und sie damit hineinzuholen in die raum-zeitlich situierte, materielle Welt, so dass wir sie in dieser ihrer verkörperten Form eben nicht nur präsentieren, speichern und zirkulieren, sondern vor allem auch explorieren und erforschen können. So werden reale, aber als körperliche Anhaltspunkte fungierende Gegenstände zu Passierstellen, um eine Beziehung aufzunehmen zu abwesenden und vor allem: zu »rein« geistigen Objekten. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass die Bezugnahme auf Immaterielles in Gestalt materialiter präsenter Surrogate ein – sei es auch noch so entferntes – Band stiftet zwischen Wissenschaft und Religion.[1] Doch wir interessieren uns nur für die kognitive, die epistemische und wissenschaftliche Dimension.

Die Aktivität des Rechnens ist für diese kognitive Strategie si12gnifikant. Ob mit den Fingern unserer Hand, mit Perlen des Abakus, mit Rechensteinen auf dem Rechenbrett oder mit schriftlichen Zeichen auf dem Papier hantierend: Komplexe Zahlenprobleme werden lösbar durch regelhafte Manipulationen mit taktil und visuell zugänglichen Konfigurationen, die ihrerseits mit für uns unzugänglichen, nicht beobachtbaren Objekten und deren Relationen »irgendwie« verbunden sind. Das Rechnen zeigt auf elementare Weise: Geistige Tätigkeiten können so eingerichtet bzw. formatiert werden, dass sie in Gestalt handgreiflicher Aktivitäten, situiert im Materialitätskontinuum der beobachtbaren Welt, vollzogen werden können. Es gibt ein Handwerk des Geistes.

Die Annahme einer Exteriorität des menschlichen Geistes ist nicht überraschend. Dass der Geist nicht mit dem Hirn zu identifizieren ist und alleine im Kopf residiert, sondern in Gestalt symbolischer Artefakte und deren Manipulation den biologischen Körper überschreitet, wird in den letzten Jahrzehnten verstärkt sondiert von Autoren, die ein nicht-kognitivistisches Konzept vom menschlichen Denken unter den Schlagworten embodied, extended oder embedded mind erarbeiten.[2] Doch lange zuvor – und von den Vertretern des »embodied und embedded mind nahezu vollständig ignoriert – haben bereits Philosophen zu bedenken gegeben, dass der Gebrauch von sinnlich wahrnehmbaren Zeichen unabdingbar ist, um Gedanken nicht nur zu artikulieren, sondern Erkenntnis überhaupt entwickeln zu können. Für Leibniz sind die Zeichen nicht nur temporäre Stellvertreter geistiger Entitäten, vielmehr können wir gar nicht anders denken denn im Medium von Zeichen.[3] Und er stellt fest: So wesentlich die mündliche »natürliche« Sprache für die Artikulation von Gedanken auch sei, so ist doch unabweisbar: Komplexe Denkoperationen bedürfen der artifiziellen räumlich situierten Zeichen, wie sie in den stabilen Konfigurationen von Schrift und Figur gegeben sind. Leibniz’ Annahme von einer grundlegenden Externalität des menschlichen Geistes fand prominente Nachfolger: Charles Sanders Peirce, Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer sind hierfür Beispiele.

13Wir sehen also: Nicht erst neuere nicht-kognitivistische Geisttheorien, sondern auch eine bemerkenswerte philosophische Tradition geht davon aus, dass Denken und Erkennen überhaupt erst möglich werden, weil »Denkdinge« und »Denkzeuge« in unserer Außenwelt vergegenständlicht werden und dort sinnlich und operativ zugänglich sind.

Nun gibt es einen Sachverhalt, der so beiläufig, vielleicht auch so selbstverständlich ist, dass er in Reflexionen über die Exteriorität des menschlichen Geistes kaum eine Rolle spielt. Denken wir noch einmal an das Fangen des Balles: Ein solches Vorhaben ist überhaupt nur chancenreich, wenn der Ball eine Flugbahn vollzieht, die innerhalb eines Raumes situiert ist, der von der Spielerin, die den Ball fangen will, auch erreichbar, mithin körperlich kontrollierbar ist. Würden beim Ballfangenspiel Werfer und Fänger sich gegenüberstehen, jedoch der Werfende den Ball hinter sich werfen, so wäre diese Aktion nicht mehr Teil des Spiels. Das Materialitätskontinuum, welches fliegende Bälle und auffangende Hände verbindet, ist eine notwendige, keineswegs aber hinreichende Bedingung: Hinzu kommen muss eine Übereinstimmung in der wechselseitigen Ausrichtung der aufeinander bezogenen Körper, ein vom Werfenden und vom Fangenden, vom Ball und von den Händen geteilter Aktionsraum. Plastisch tritt dies daran hervor, dass bei nahezu allen Wettkampfspielen ein Spielfeld verzeichnet und streng einzuhalten ist; Ballspiele wie Fußball, Rugby, Tennis oder Basketball machen deutlich, was für Brettspiele nicht weniger gilt: Das Diagramm des Spielfeldes erst garantiert, dass die miteinander und gegeneinander agierenden Körper ihre Bewegungen innerhalb von Grenzen und territorialen Strukturen ausrichten, welche gewährleisten, dass ein übereinstimmender Aktionsradius zwischen den Beteiligten überhaupt möglich ist.

Kommen wir zurück auf Vorgänge von Denken und Erkennen: Wenn geistige Entitäten in wahrnehmbaren Zeichen vergegenwärtigt und in gewissem Sinne auch handhabbar gemacht werden, liegt es dann nicht nahe, auch nach einem Analogon zum Spielfeld zu suchen? Denn tatsächlich: So wie ein Spielfeld auf dem Boden verzeichnet wird, so bedürfen auch geistige Aktionen, die im Medium wahrnehmbarer und manipulierbarer artifizieller Surrogate vollzogen werden, eines Spielfeldanalogons. Es genügt nicht, dass geistige Tätigkeiten außerhalb des Kopfes mit Einsatz von Augen und 14Händen geleistet werden: Es muss auch einen korrespondierenden Aktionsraum geben, der dieses Tun in seinen Richtungen festlegt und begrenzt, und dies umso mehr, je mehr die geistige Tätigkeit eine intersubjektiv geteilte, eine kooperative Aktionenfolge ist.

Ein höchst plastisches Beispiel für »territoriale Strukturierung«, die dem Denken dient, ist das Koordinatenkreuz: Die Fläche des Papiers wird in vier Quadranten im umgekehrten Uhrzeigersinn aufgeteilt. Jeder Punkt innerhalb der Quadranten kann jetzt durch ein Zahlenpaar wohldefiniert werden und ist also eindeutig lokalisierbar: Die mathematisch gesehen ausdehnungslosen Punkte bekommen einen berechenbaren Ort. Doch was das Koordinatenkreuz so explizit vollzieht, ist implizit mit der normierten, inskribierbaren Fläche immer schon gegeben: Die Fläche weist eine elementare Ausrichtung auf, sie muss orientiert sein, um dem Schreiben und Zeichnen dienen zu können (»orientieren«: einosten). Keine geographische Karte ist zu gebrauchen, kein Text zu schreiben und zu lesen und kein Bild ist anzuschauen ohne eine Kenntnis von deren Ausrichtung, ohne Wissen also, wo jeweils oben und unten, wo links und rechts ist. Ausnahmen – ob bei monochromen Bildern oder den seltenen Schrift(bei)spielen, die Worte auch in entgegengesetzter Richtung lesen lassen (»Anna«) – sind stets möglich und unterstreichen durch ihre Außerkraftsetzung der Ausrichtung gerade deren alltägliche Geltung. Zu dieser elementaren Normierung von beschriebenen und bebilderten Flächen gehört auch die Begrenzung auf ein Format, das überschaubar und handhabbar ist.

Wir leben in einer dreidimensionalen Welt – und doch sind wir allseits umgeben von Buchseiten, Bildern, Computerbildschirmen, Reklametafeln, Karten, Kinoleinwänden – und diese Reihe ist schier endlos fortsetzbar. All dies kulminiert zurzeit im ubiquitären Gebrauch leibnah zu tragender Smartphones. So selbstverständlich sind uns bebilderte und beschriftete Flächen, das uns kaum mehr auffällt, welche Sonderform des Räumlichen »Flachheit« erzeugt. »Flächen« sind zweidimensionale Gebilde; sie haben Länge und Breite, jedoch keine Tiefe. Empirisch gibt es keine Flächen. Vielmehr behandeln wir Oberflächen – die als Außenhaut eines voluminösen Körpers gegeben sind – so, als ob sie flach seien. Diese Verwandlung einer Oberfläche mit Tiefe in eine Fläche ohne Tiefe geschieht, indem Oberflächen etwas eingetragen oder aufgetragen 15wird. So entstehen Texte und Bilder und die mannigfaltigen Mixturen zwischen ihnen. Für alle inskribierten Flächen gilt: Nicht mehr zählt, was unter der Oberfläche verborgen liegt, sondern nur noch, was auf der Fläche sichtbar wird.[4] Im Bereich unserer symbolischen Artefakte wird eine Kulturtechnik der Verflachung wirksam, und das gilt auch für unsere technischen Artefakte, deren »Telos« in immer...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Mathematik / Informatik Informatik Grafik / Design
Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Medienwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Diagramme • Erkenntnistheorie • Karten • Kreativität • Kulturtechnik • STW 2176 • STW2176 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2176 • Wissenspraktik
ISBN-10 3-518-74467-4 / 3518744674
ISBN-13 978-3-518-74467-3 / 9783518744673
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