Der Auserwählte (eBook)
322 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-6951-0853-4 (ISBN)
Klaus Neff, zweimaliger Preisträger des Marburg-Awards, hat Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Außerdem sind folgende Erzählbände von Klaus Neff erhältlich: * Schuldner der Zeit * An derselben Stelle des Flusses * Eindringlinge
Sichtweisen
Ich war eingetreten.
Die Tür hatte mich schon die ganze Zeit gereizt; ich war um sie herumgeschlichen, abwägend, fantasierend und konnte mich weder zum Gehen noch zum sofortigen Eintreten entschließen. Der Trubel der Eröffnungsfeier der Technologieregion Alte Raffinerie drang nur gedämpft an mein Ohr. Festliche Reden, Führungen, Tombolas - all das war rasch an mir vorbeigeglitten. Alle Unternehmen, die sich hier angesiedelt hatten - meist Neugründungen -, hatten ihre Pforten geöffnet und luden die neugierigen Besucher ein, einen Blick in ihre Zukunftsschmieden zu werfen. Ich sagte, alle Unternehmen, und muss mich sogleich korrigieren, denn eines verweigerte sich der allgemeinen Festlichkeit, schottete sich ab und blieb vom Besucheransturm verschont. Nicht einmal ein Plakat prangte hier, nichts war vorhanden, mit dem um die Gunst der Besucher und der potenziellen Kunden gebuhlt werden konnte. Die Firma „Dehm & Markhoff - Optoelektronische Systeme” bevorzugte offensichtlich die Zurückgezogenheit und hielt ihre Tür geschlossen. Um diese geschlossene Tür war ich geschlichen, alle Lockungen von anderer Seite ignorierend. Ich wartete, ob die Tür sich öffnete, jemand heraustrat. Aber nichts geschah. Ungeduld kam in mir auf; die pure Existenz der anderen Unternehmen wurde mir lästig, bis schließlich die Firma Dehm & Markhoff (optoelektronische Systeme!) zu meinem alleinigen Daseinszweck wurde, zu dem nachträglich einzigen Grund, weshalb ich mich hierher begeben hatte.
„Geschlossen” rief mir die Tür mit einem Schild von weitem entgegen. „Zutritt verboten!” warnte sie außerdem im Untertitel, und ich glaube, dies gab den Ausschlag, denn solche Art von Heimlichkeit fordert geradezu die Enthüllung heraus. Ich legte die Hand auf die Klinke.
Zu meiner Überraschung war die Tür nicht abgeschlossen. Etwas zu heftig öffnete ich sie, nur um sie sogleich sanft wieder hinter mir zu schließen, denn ich fürchtete den Nachahmungstrieb anderer Besucher und wollte einsam sein mit meiner Neugier.
Der Anblick war verwirrend, ich brauchte einige Momente, um mich zu orientieren, und hätte beinahe den Mann übersehen. Es war eine unüberschaubare Vielfalt an Gerätschaften in dem schmalen, aber tiefen Raum versammelt. Ich erkannte Aufbauten von Spiegeln und Linsen, manche von ihnen mit gewaltigen Ausmaßen. Stroboskope waren vertreten. Ein grünes Laserlicht sandte in einer Ecke seinen haarfeinen Brennstrahl auf eine senkrechte geschwärzte Scheibe. Seltsame, tropfenförmige Gebilde gab es zu bestaunen, die sich beim Nähertreten als Hologramme entpuppten. Daneben türmten sich Großrechner und Unmengen an Aktenordnern bis unter die Decke. Dann sprach mich der Mann an.
Jetzt erst, als seine Stimme zu mir drang, schälte sich seine Kontur aus dem Gewirr heraus, und ich sah einen ältlichen, gebückten Mann an einem Tisch sitzen. Eine Stehlupe stand vor ihm und allerhand feinmechanisches Werkzeug, ähnlich wie das eines Uhrmachers.
„Was wollen Sie hier?”, fragte er barsch.
„Die Tür war angelehnt”, log ich, „und ich war auf einem Rundgang durch die verschiedenen Firmen.”
Er fixierte mich mit einem strengen Blick und sein Körper zuckte wie vor Wut.
„Interessant haben Sie es hier”, fuhr ich in unverbindlichem Ton fort. „Die vielen Spiegel lassen den Raum viel größer erscheinen als er tatsächlich ist. Eine hübsche Täuschung.”
Er hob die Augenbrauen und lächelte. Er hatte überaus ausdrucksstarke Augen von meeresblauer Farbe mit einem darin verborgenen grünen Schimmer. Sie bewegten sich in ständiger Rastlosigkeit, und auch sein Köper wurde oft von nervösen Zuckungen geschüttelt.
„Trauen Sie Ihren Augen nicht”, sagte er. „Das Auge ist ein unvollkommenes Organ, es lässt sich allzu leicht betrügen. Denken Sie nur an die vielen optischen Täuschungen. Wie kommt es, dass man etwas sieht, das es nicht gibt, he? Lassen sich Ohr und Tastsinn derart blenden? Nein! Haben Sie jemals etwas geschmeckt oder gerochen, das es nicht gegeben hätte? Nein! Aber das Auge ist ein unstetes Organ, es ist der oftmalige Verlierer im Kampf gegen die optischen Gesetze.”
Er schnitt eine boshafte Grimasse, und ich wusste nicht, ob dies willkürlich geschah oder ob sich seine Gesichtsmuskeln zufällig zu diesem Muster verkrampft hatten. Er ruckte hoch, verbarg eilig seine Arbeit und kam mir mit stockenden Schritten entgegen.
Schon glaubte ich, er wolle mich hinauswerfen, aber er richtete eine Frage an mich.
„Na? Wie oft und bei welcher Gelegenheit ließen Sie sich schon täuschen? --- Antworten Sie schon!”
Er gefiel sich offenbar beim Reden, denn er ließ mir keine Zeit, ihm etwas zu erwidern.
„Wie oft hat Sie Sonnenlicht geblendet? Wie oft hat Ihnen Dämmerlicht den Blick verwehrt?”
Ich wollte antworten, aber er fiel mir schnarrend ins Wort: „Antworten Sie schon! Ein bisschen langsam, he? --- Wie oft haben Sie sich schon gewünscht, bessere Augen zu haben? Wie oft haben Sie schon diese weiche Masse verflucht, die Ihnen Streiche spielt und im Alter trüb und träge wird, die Sie dazu zwingt, Brillen zu tragen, und die Ihnen die Welt in Unschärfe versinken lässt? Wie oft schon, he, wie oft?”
Er schaute mich abschätzig von unten herauf an. Er tänzelte beinahe um mich herum; ein nicht zu stillender Bewegungsdrang quälte ihn, und auch seine Augen irrten umher, in dem Raum, über meine Gestalt, in meinem Gesicht, ja fast bis in meine Gedanken.
„Ach wissen Sie, Herr Dehm . . .”, begann ich.
„Mein Name ist Markhoff!”, unterbrach er mich. Er wogte hin und her, seine Finger verkrampften sich und seine Brauen zuckten.
„Wissen Sie, Herr Markhoff, ich bin mit meinen Augen sehr zufrieden. Ich denke, dass sie ein Höchstmaß an Perfektion besitzen. Ich stelle ihre Fähigkeiten weit über die der anderen Sinne. Denken Sie nur an unser Vermögen, die Welt dreidimensional zu erkennen. Und auch die Wahrnehmung der Farben, sogar der winzigsten Farbtöne ist mehr als erstaunlich. Wissen Sie, wie viele hundert Farbdifferenzen wir erkennen können?”
„Pah”, winkte er ab, „was ist daran so erstaunlich? Eine Linse, ein Detektor, ein Chip -- mehr brauche ich nicht, um das alles auf elektronischem Wege auch zustande zu bringen. Und dafür hat die Natur Millionen von Jahren gebraucht? Ha, und Sie protzen auch noch damit? Das Auge ist schwach, es ist ein Relikt . . .”
„Ein Relikt?”, wollte ich einwerfen, aber er schüttelte sich und fuhr fort, und seine Worte kamen schneller und schneller, und es schien mir, als greife die Hyperaktivität seines Wesen auch auf seine Redeweise über.
„Ein Relikt --- ja, ja --- ich weiß es . . . Lassen Sie mich es so sagen . . . Hier, in dieser ehemaligen Raffinerie, wo wir uns befinden . . . he? . . . hier also . . . haben Sie sich dieses Gewirr an Rohren, an Pipelines, an Pumpwerken angeschaut?”
Ich nickte stumm, wissend, dass er mich nicht ausreden lassen würde, wenn ich ihm erzählte von dem schlangenhaften Gewimmel an Rohren, die hier draußen über den Boden krochen oder sich von Pfeilern stützen ließen. Manche vereinigten sich in riesigen Kesseln, andere bündelten sich zu meterdicken Strängen. Die gesamte Anlage hatte etwas Zyklopisches, Dschungelhaftes; sie erschien mir als ein Monument des Mechanistischen.
„Ja, diese Röhren”, sagte er, „kilometerlang, sich unendlich verzweigend. Was wurde hier früher transportiert? Ich sage es Ihnen: Öl und Gas und Lösungsmittel. Kühlwasser, Reagenzien, Dampf. Brennstoffe, die die Maschinen antrieben. Chemikalien, die zersetzt, fraktioniert oder oxidiert wurden. Die Röhren waren die Adern der damaligen Gesellschaft, he. Durch sie floss das Blut ihrer Zeit. In ihnen war der Antrieb, das Agens des Fortschritts. --- Aber das braucht man heute nicht mehr, wie?”
Er zog plötzlich etwas hervor, und seine zitternde Hand hielt es mir hin. Es war ein Bündel feiner Elektrokabel.
„Hier, diese Kabelstränge, hier fließt heute das Blut des Fortschritts. Sie sind die Nerven unserer Zeit. Glasfaser, Breitband. Durch sie pumpen wir die Zukunft. Die Raffinerie mit ihren Röhren ist ein Relikt. Mit seinen Öl- und Wasserröhren wurden nur Maschinen in Bewegung gesetzt . . .”
Er lachte heiser, und seine meeresblauen Augen blitzten auf.
„Aber hiermit setzen wir Menschen in Bewegung. Wir lassen Bilder durch diese Kabel fließen. Entwürfe neuer Welten jagen wir durch die Netze unserer alten Welt. Hier verbrennt nichts, und doch feuern wir damit die Seele des Menschen an. Und so wie der Motor ein Abbild des Hungerns nach Öl ist, so wird dereinst der Mensch ein Süchtiger nach Bildern sein.”
Er schwankte hin und her, und ein Anflug von Triumph und Wahn verzerrte seine Miene. Sein Lachen kam stockend hervor, dann gewann es an Lautstärke und Geschwindigkeit, bis es davon zu rasen schien und sich überstürzte. Auf einmal verstummte er und blickte mich fragend an.
„Wissen Sie,...
| Erscheint lt. Verlag | 14.11.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| ISBN-10 | 3-6951-0853-3 / 3695108533 |
| ISBN-13 | 978-3-6951-0853-4 / 9783695108534 |
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