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The Tree House | Ein düsterer Psychothriller (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
321 Seiten
dp Verlag
9783690903530 (ISBN)

Lese- und Medienproben

The Tree House | Ein düsterer Psychothriller -  B. P. Walter
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Was, wenn dein dunkelstes Geheimnis plötzlich zum Plot einer Fernsehserie wird – und jemand weiß, was du damals getan hast?

Robert führt ein ruhiges Leben in London – bis er zufällig eine neue Fernsehserie entdeckt. Sie zeigt zwei Jungen, die in einem Baumhaus ein Mädchen vergiften. Die Dialoge. Die Details. Alles kommt ihm schrecklich bekannt vor.

Denn genau das ist vor über zwanzig Jahren geschehen. Mit ihm. Und seinem Bruder Kieran. In einem abgelegenen Dorf in Cornwall.
Damals haben sie geschwiegen. Haben verdrängt. Haben weitergelebt.

Doch jetzt kennt jemand die Wahrheit – und hat ihre Geschichte verfilmt. Wer steckt hinter der Serie? Und wie lange wird es dauern, bis die ganze Welt weiß, was die Brüder getan haben?

Erste Leser:innenstimmen
„Dieser düstere Psychothriller überzeugt nicht nur mit seiner fesselnden Handlung, sondern auch mit seinen überraschenden Wendungen und dem grandiosen Finale.“
„B.P. Walter schafft erneut einen nervenaufreibenden Spannungsroman, den ich einfach nicht aus der Hand legen konnte. Große Empfehlung!“
„Ein unfassbar spannender Thriller, der mich von der ersten Seite an in den Bann gezogen und mir mit seinen unerwarteten Plottwists den Atem geraubt hat.“
„Ein psychologischer Thriller, wie er im Buche steht: mit vielschichtigen Charakteren, einem dunklen Geheimnis und Schatten der Vergangenheit, die niemals ans Licht hätten kommen sollen.“



<p>B. P. Walter ist in Essex geboren und aufgewachsen. Nachdem er seine Kindheit und Teenagerjahre mit zwanghaftem Lesen verbracht hatte, arbeitete er in Buchhandlungen und studierte dann an der University of Southampton Film und Englisch, gefolgt von einem Master of Arts in Film- und Kulturmanagement. Er ist Absolvent der Faber Academy und arbeitete zuvor als Social Media Coordinator f&uuml;r Waterstones.</p> <p>&nbsp;</p>

<h2>Prolog</h2> <p>Die Jungen sehen zu, wie sie stirbt. F&uuml;r den J&uuml;ngeren der beiden mischen sich Panik, sogar Entsetzen, mit Neugier. Beim anderen ist es eine zur&uuml;ckhaltendere, fokussierte Faszination. Das hier ist, was sie geplant hatten. Wor&uuml;ber sie gesprochen hatten. Worauf sie gewartet hatten. Worauf ihr ganzer Sommer hinausgelaufen war. Ein Sommer, an den sie sich f&uuml;r immer erinnern werden.</p> <p>Dann beginnen die Dinge schiefzugehen.</p> <p>Gerade als sie &uuml;berzeugt sind, dass sie entgleitet, dass sie die gro&szlig;e Kluft zwischen Leben und Tod &uuml;berquert, bewegt sie sich.</p> <p>&bdquo;Mir ist nicht gut&ldquo;, murmelt sie. &bdquo;Ich muss nach Hause.&ldquo; Sie versucht aufzustehen. F&auml;llt wieder hin. &bdquo;Ich f&uuml;hle mich furchtbar&ldquo;, murmelt sie.</p> <p>&bdquo;Leg dich wieder hin&ldquo;, sagt der &auml;ltere Junge.</p> <p>&bdquo;Vielleicht sollten wir &hellip;&ldquo;, beginnt der J&uuml;ngere, doch sein &auml;lterer Bruder bringt ihn mit einem Blick zum Schweigen.</p> <p>&bdquo;Leg dich hin&ldquo;, wiederholt der &Auml;ltere.</p> <p>&bdquo;Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen&ldquo;, wimmert sie. Aber der &auml;ltere Junge tritt vor und versperrt ihr den Weg. Wei&szlig; sie es, fragt sich der J&uuml;ngere, wei&szlig; sie, was sie tun? Warum sie sie hierhergebracht haben? Die Planung dahinter. Das Warten. Den Verrat.</p> <p>Sie bewegt sich weiter.</p> <p>Sie lebt noch, versucht erneut aufzustehen, H&auml;nde und Beine kratzen und schaben.</p> <p>Es muss etwas geschehen.</p> <p>Der &auml;ltere Junge tritt vor, h&auml;lt ihr eine Schale an die Lippen und kippt sie zur&uuml;ck, versucht, sie zum Trinken zu zwingen.</p> <p>Sie prustet und schnappt nach Luft.</p> <p>Als sie versucht zu entkommen, gibt er ihr einen Sto&szlig;, nur einen kleinen Schubser, und sie f&auml;llt zur&uuml;ck und knallt mit dem Kopf gegen die Wand des Baumhauses. Sie r&uuml;hrt sich nicht. Er gibt ihr einen kleinen Schubs. Nur einen kleinen. Aber weil sie schwach und m&uuml;de ist, st&uuml;rzt sie schnell. Das dumpfe Aufschlagen ihres Kopfes an der R&uuml;ckwand des Baumhauses klingt wie ein Kanonenschuss, dessen gewaltiger Einschlag sich durch die Zeit ausbreitet, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ber&uuml;hrt.</p> <p>Der j&uuml;ngere Bruder ist sich dessen sicher. Er sp&uuml;rt es in sich. Es ist unm&ouml;glich, dass dies hier <i>nicht</i> ihre Zukunft beeinflusst. Sie neu formt und umgestaltet. Sie beide auf einen neuen Weg schickt, sie zu anderen Menschen macht.</p> <p>&bdquo;Hat ihre Seele sie verlassen?&ldquo;, fragt der j&uuml;ngere Junge.</p> <p>&bdquo;Ja&ldquo;, sagt der &Auml;ltere. &bdquo;Sie schwebt jetzt davon. Ich kann es sp&uuml;ren.&ldquo;</p> <p>Der j&uuml;ngere Bruder sp&uuml;rt pl&ouml;tzlich einen Ansturm der Realit&auml;t &ndash; es ist, als ob die Fassade des ganzen Opfers und die Theorie dahinter l&auml;cherlich zu werden beginnen und das wahre Grauen dessen, was geschieht, deutlich wird.</p> <p>&bdquo;Oh Gott&ldquo;, st&ouml;hnt er. &bdquo;Oh Gott. Was haben wir getan?&ldquo;</p> <h2>Kapitel Eins</h2> <div class="style_time_loc"> <p>ROBERT</p> </div> <p>Es kommt nicht oft vor, dass Robert einen wirklich gro&szlig;artigen Tag hat, aber heute wei&szlig; er ganz sicher, dass dies einer davon ist. Alles ist gut gelaufen. Er ist von Natur aus ein vorsichtiger Mensch und macht sich oft Sorgen, dass selbst die besten Pl&auml;ne irgendwo auf dem Weg auf Hindernisse sto&szlig;en k&ouml;nnten. Aber nicht heute.</p> <p>Er macht sich auf den Weg zu seiner Wohnung, steigt an der U-Bahn-Station Knightsbridge aus und bemerkt kaum die Menschenmassen, die dr&auml;ngeln und schubsen. Mit den Gedanken ist er noch immer im B&uuml;ro, wo der CEO der Wohlt&auml;tigkeitsorganisation, f&uuml;r die er arbeitet, ihn pers&ouml;nlich in einem internationalen Memo an das gesamte Unternehmen erw&auml;hnt hat. Er denkt auch an Laura aus der Rechtsabteilung, die ihm bei WhatsApp gratuliert und gefragt hat, ob sie beide in der folgenden Woche etwas trinken gehen k&ouml;nnten. Zwei Gl&uuml;cksf&auml;lle an einem Tag. Er hat sich nie als einen vom Gl&uuml;ck gesegneten Menschen gesehen. Sein &auml;lterer Bruder Kieran ist normalerweise der Gl&uuml;ckspilz. Beide hatten ihre eigenen Wege gefunden, um durch die unruhigen Gew&auml;sser des Erwachsenseins zu navigieren. Sie mussten sich Pfade bahnen, die zu ihnen passten, die zu ihren Pers&ouml;nlichkeiten passten. Beide haben ihre eigenen D&auml;monen zu bek&auml;mpfen. Gemeinsame D&auml;monen. Dinge, mit denen sie im Laufe der Jahre ringen mussten. Aber daran will er jetzt nicht denken. Nicht heute.</p> <p>Robert geht den Lowndes Square entlang, in Richtung seiner Wohnung in der Wilton Crescent, und nimmt die etwas l&auml;ngere Route. Er m&ouml;chte seine Zeit drau&szlig;en verl&auml;ngern. Es ist ein wundersch&ouml;ner Abend, die Sonne taucht die Stra&szlig;en Londons in ein goldenes Licht. Die Stadt befindet sich seit ein paar Wochen in einer Hitzeperiode, und bis jetzt hat er sich wie alle anderen, die regelm&auml;&szlig;ig die U-Bahn nehmen, dar&uuml;ber beschwert &ndash; aber nicht heute. Heute genie&szlig;t er die Hitze, liebt die warme Brise, die durch die Stra&szlig;en weht, die vertrockneten Bl&auml;tter, die fallen und um die geparkten Autos geweht werden. &bdquo;Scheinherbst&ldquo;, hat er geh&ouml;rt, wird das genannt. Die Farben der n&auml;chsten Jahreszeit treten verfr&uuml;ht auf, weil die Bl&auml;tter ausgetrocknet sind. Wie auch immer der technische Begriff daf&uuml;r lautet, er findet den Effekt beeindruckend.</p> <p>Zu Hause angekommen, trifft er auf seinen Mitbewohner Albie, der ein Tumblerglas mit gesto&szlig;enem Eis, Fruchtsaft und Wodka f&uuml;llt.</p> <p>&bdquo;Gute Idee&ldquo;, sagt er. &bdquo;Mach mir auch einen davon.&ldquo;</p> <p>Albie grinst. Urspr&uuml;nglich hat Robert ihn bei sich einziehen lassen, um dessen &auml;lterem Bruder einen Gefallen zu tun, mit dem er in seiner Schulzeit befreundet war. Albie ist neunundzwanzig, Schauspieler in West-End-Shows, und die Lage der Wohnung im Zentrum Londons bedeutet, dass er zu Fu&szlig; zur Arbeit gehen kann, wobei Robert ihm eine niedrige Miete f&uuml;r die Gegend berechnet. Sie hatten sich sofort gut verstanden, als er im vergangenen Jahr eingezogen war, und die Vereinbarung, die urspr&uuml;nglich nur ein paar Monate dauern sollte, bis er eine andere Wohngemeinschaft mit irgendwelchen <i>Theaterleuten</i> gefunden h&auml;tte, ist auf unbestimmte Zeit verl&auml;ngert worden. Robert st&ouml;rt das nicht. Auch wenn er das Geld nicht wirklich braucht, gef&auml;llt ihm das Gef&uuml;hl, in der Freundschaft wie ein &auml;lterer Bruder zu sein. In seiner Familie war er immer <i>der J&uuml;ngere</i> und wurde auch so behandelt, als w&auml;re er eine naive Seele, die eines Tages noch herausfinden wird, wie die Welt funktioniert. Mit Albie hingegen kann er der erfahrene Mann in den Drei&szlig;igern sein, der den unerfahrenen J&uuml;ngeren in die Wege der gro&szlig;en Stadt einf&uuml;hrt &ndash; oder so &auml;hnlich. Und als Single Mitte drei&szlig;ig kann das Leben einsam sein, also freut er sich &uuml;ber die Gesellschaft.</p> <p>&bdquo;Ich dachte, du f&auml;ngst heute Abend bei Phantom an?&ldquo;, erkundigt sich Robert, als er seine Laptoptasche abstellt und das Getr&auml;nk aufnimmt.</p> <p>&bdquo;Das ist n&auml;chste Woche&ldquo;, sagt Albie. &bdquo;Heute war Probe. Willst du irgendwohin ausgehen?&ldquo;</p> <p>Robert &uuml;berlegt einen Moment, lehnt dann aber ab. Er hat den Abendspaziergang vom Bahnhof genossen, aber jetzt, da er zu Hause ist, will er den Abend im k&uuml;hlen, ruhigen neuen Kinoraum verbringen, den er in einem der umgebauten G&auml;stezimmer eingerichtet hat. Also organisiert er mit ein paar Fingertipps auf seinem Telefon eine Essenslieferung von Ottolenghi, und er und Albie verbringen ein paar angenehme Stunden damit, sich w&auml;hrend des gr&ouml;&szlig;ten Teils des Filmes zu unterhalten, bis das Gespr&auml;ch verstummt und Albie einschl&auml;ft. Als der Abspann l&auml;uft, stupst Robert ihn an und sagt, dass es vorbei ist, woraufhin Albie murmelt, dass ihn der Probentag m&uuml;de gemacht hat. Dann schlurft er in Richtung Badezimmer und schlie&szlig;lich ins Bett.</p> <p>Robert bleibt vor dem Bildschirm sitzen, f&uuml;hlt sich zu wach, um an Schlaf zu denken. Er schaltet auf normales Fernsehen um und sieht sich das Ende einer Sp&auml;tnachrichten-Sendung an. Danach folgt eine Wiederholung der ersten Folge einer neuen Dramaserie, die Anfang der Woche gestartet ist.</p> <p>&bdquo;Mit Szenen, die einige Zuschauer gleich zu Beginn des Programms als verst&ouml;rend empfinden k&ouml;nnten&ldquo;, warnt der Ansager, &bdquo;hier eine weitere Gelegenheit, den ersten Teil unseres neuen Thrillers <i>The Tree House</i> zu sehen.&ldquo;</p> <p>Der Titel des Dramas l&ouml;st einen tiefen Stich in ihm aus. Es ist ein Ger&auml;usch wie eine ferne Sirene, die Unruhe signalisiert. Er ist das gewohnt, auch wenn es das Ganze nicht weniger unangenehm macht. Es gibt st&auml;ndig Erinnerungen an das, was vor all den Jahren geschehen ist.</p> <p>Aber das, was folgt, ist mehr als nur eine Erinnerung. Als die Vorspannsequenz vorbei ist, steht Roberts Welt Kopf.</p> <p>Zwei Teenagerjungen, die vor einem M&auml;dchen stehen.</p> <p>Mit dem R&uuml;cken zur Kamera, w&auml;hrend ein M&auml;dchen vor ihnen am Boden liegt.</p> <p>Ein silberner Kelch rollt zu Boden.</p> <p>Dann sieht man die Gesichter der beiden Jungen, die zuschauen.</p> <p>&bdquo;Hat ihre Seele sie verlassen?&ldquo;, fragt der J&uuml;ngere der beiden.</p> <p>&bdquo;Ja&ldquo;, sagt der &Auml;ltere. &bdquo;Sie schwebt jetzt davon. Ich kann es sp&uuml;ren.&ldquo;</p> <p>Robert schaltet den Fernseher aus, st&uuml;rzt aus dem Raum und erbricht sich in die K&uuml;chensp&uuml;le.</p> <p>Seine H&auml;nde klammern sich an die Seiten, wobei er einige T&ouml;pfe auf dem Abtropfgestell scheppernd zu Boden st&ouml;&szlig;t. Das Ger&auml;usch schmerzt in seinem Kopf, seine Gedanken sind wirr, seine Sicht verschwimmt, sein Herz rast.</p> <p>&bdquo;Was ist los?&ldquo;, fragt eine Stimme aus der T&uuml;r. Robert richtet sich schwankend auf und &ouml;ffnet den Wasserhahn. Er wirft einen Blick zu Albie, der in der T&uuml;r steht, die Stirn gerunzelt, Sorge im Gesicht.</p> <p>&bdquo;Woah, du siehst furchtbar aus. Alles okay?&ldquo;</p> <p>Robert nickt, unf&auml;hig, Worte zu formen. Er tr&auml;gt noch immer sein Arbeitshemd und &ouml;ffnet die obersten Kn&ouml;pfe, w&uuml;nschend, er h&auml;tte sich fr&uuml;her umgezogen &ndash; ja, er w&uuml;nscht, alles Fr&uuml;here w&auml;re nicht passiert. Er h&auml;tte Albies Angebot annehmen sollen, irgendwohin auszugehen, oder gleich nach dem Film ins Bett gehen sollen. Alles, was ihn davon abgehalten h&auml;tte, den Fernseher einzuschalten und zu sehen, was er gerade gesehen hat.</p> <p>Albie kommt zu ihm her&uuml;ber. &bdquo;Bist du krank? Du gl&uuml;hst ja geradezu.&ldquo;</p> <p>Robert schweigt ein paar Sekunden lang, versucht nur, seinen Atem zu beruhigen.</p> <p>&bdquo;Ja&ldquo;, sagt er schlie&szlig;lich. &bdquo;Es ist&nbsp;&hellip; Ich glaube, es ist nur die Hitze. Das ist alles. Vielleicht das Essen und die Drinks und&nbsp;&hellip; Mir geht&rsquo;s gut. Mir geht&rsquo;s gut.&ldquo;</p> <p>Albie f&uuml;llt ein Glas aus dem Wasserspender im K&uuml;hlschrank und reicht es ihm.</p> <p>&bdquo;Danke&ldquo;, keucht Robert und nimmt ein paar Schlucke.</p> <p>&bdquo;Brauchst du vielleicht einen Arzt oder ein Krankenhaus?&ldquo;, fragt Albie und mustert ihn vorsichtig. &bdquo;Du siehst wirklich nicht gut aus.&ldquo;</p> <p>Robert sch&uuml;ttelt den Kopf. &bdquo;Nein, nein, mir geht&rsquo;s gut. Das wird schon wieder. Nur so ein komischer Anfall, nehme ich an.&ldquo; Er hat in seinem Leben noch nie die Worte <i>komischer Anfall</i> benutzt, wei&szlig; nicht einmal genau, was sie bedeuten sollen. Er will nur, dass Albie zur&uuml;ck ins Bett geht, damit er versuchen kann, seine Gedanken zu ordnen.</p> <p>Nachdem er ihm auf die Schulter geklopft und gesagt hat, er solle ihn rufen, falls er Hilfe brauche, schlurft Albie wieder in sein Schlafzimmer und l&auml;sst Robert allein, der noch immer schwer atmet, das Gesicht brennend vor Hitze. Aber schlie&szlig;lich ist er in der Lage, zu einer n&uuml;chternen, klaren Schlussfolgerung zu kommen. Der einzigen Schlussfolgerung, die erkl&auml;ren k&ouml;nnte, was er gerade im Fernsehen gesehen hat.</p> <p>Jemand wei&szlig;, was er und sein Bruder vor zwanzig Jahren getan haben.</p> <h2>Kapitel Zwei</h2> <div class="style_time_loc"> <p>ROBERT</p> </div> <p>Sobald er sich dazu in der Lage f&uuml;hlt, verl&auml;sst Robert die K&uuml;che und geht in sein Schlafzimmer. Hektisch zieht er seine Kleidung aus, rei&szlig;t dabei einen Knopf von seinem Hemd ab und wirft einen Stapel B&uuml;cher auf seinem Nachttisch um. Es ist ihm egal. Er ist nur dankbar, dass der L&auml;rm Albie nicht dazu veranlasst, hereinzukommen und mehr Fragen zu stellen und ihn von dem abzulenken, was er tun muss. N&auml;mlich mit seinem Bruder sprechen. Kieran wird die Antworten haben. Er wird wissen, wie man das regelt.</p> <p>Er greift nach seinem Telefon, tippt auf Kierans Namen in seinen Kontakten und wartet, bis der Anruf durchgestellt wird. Doch das wird er nicht. Es klingelt blo&szlig;. Kieran hat nicht einmal seine Mailbox eingeschaltet. <i>Wenn jemand wirklich mit mir sprechen muss, ruft er mich zur&uuml;ck</i>, hat er mal gesagt.</p> <p>&bdquo;Verdammte Schei&szlig;e&ldquo;, murmelt Robert vor sich hin, w&auml;hrend er erneut auf den Namen seines Bruders tippt. &bdquo;Geh ran, Kieran. Bitte geh ran.&ldquo; Nichts. Er fragt sich, ob Kieran zu Hause vor dem Fernseher eingeschlafen ist, und versucht, das Handy seiner Mum anzurufen, um sie zu fragen, bekommt aber auch dort keine Antwort.</p> <p>Robert schleudert sein Telefon aufs Bett und sp&uuml;rt ein Stechen im Arm. Solche Schmerzen sind nicht ungew&ouml;hnlich &ndash; sein rechter Unterarm und das Handgelenk bereiten ihm oft Schmerzen, obwohl die &Auml;rzte nie erkl&auml;ren konnten, weshalb. Instinktiv &ouml;ffnet er die Schublade seines Nachttischs und nimmt eine Schachtel Codein und Ibuprofen heraus. Nachdem er zwei Tabletten geschluckt hat, versucht er es erneut bei Kieran. Zu seiner &Uuml;berraschung nimmt dieser ab.</p> <p>&bdquo;Was gibt&rsquo;s, Rob?&ldquo;, sagt Kieran, die Stimme langsam und undeutlich.</p> <p>&bdquo;Kieran &hellip; Es ist etwas Schreckliches&nbsp;&hellip;&ldquo;</p> <p>Seine Worte werden von einem verzerrten Ger&auml;usch unterbrochen, gefolgt von gemurmelten Fl&uuml;chen.</p> <p>Robert sp&uuml;rt einen Anflug von Wut. &bdquo;Kieran, h&ouml;r mir zu!&ldquo;</p> <p>Er glaubt, seinen Bruder lachen zu h&ouml;ren.</p> <p>&bdquo;Verdammt!&ldquo;, faucht Robert. &bdquo;Bist du betrunken, zugedr&ouml;hnt oder gerade am Ficken? Oder alles zusammen?&ldquo;</p> <p>Ein dumpfes Atemger&auml;usch rauscht in der Leitung, dann h&ouml;rt er eine andere Stimme, einen Mann mit schottischem Akzent, deutlich sagen: &bdquo;Willst du noch &lsquo;ne Line, Kumpel? Oder bisschen Keta?&ldquo;</p> <p>Dann wird das Gespr&auml;ch unterbrochen.</p> <p>Robert umklammert sein Telefon so fest, dass es an ein Wunder grenzt, dass es nicht bricht. Er w&auml;hlt erneut, doch es klingelt blo&szlig;. Nicht, dass er viel Sinnvolles aus Kieran herausbekommen w&uuml;rde, selbst wenn er noch einmal dranginge.</p> <p>Nach ein paar Sekunden leuchtet der Bildschirm mit einem eingehenden Anruf auf. Robert nimmt ab, ohne den Namen auf dem Display richtig wahrzunehmen, und ist f&uuml;r einen Moment verwirrt, die Stimme seiner Mutter zu h&ouml;ren.</p> <p>&bdquo;Tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe, Robert. So sp&auml;t rufst du doch sonst nicht an. Geht es dir gut?&ldquo;</p> <p>&bdquo;&Auml;h &hellip; Mum, ja&nbsp;&hellip; Ich&nbsp;&hellip;&ldquo; Er bereut sofort, sie angerufen zu haben, besonders da er wei&szlig;, dass Kieran sich irgendwo zudr&ouml;hnt. Er muss versuchen, ruhig zu bleiben, sich normal zu geben.</p> <p>&bdquo;Hey, Mum&ldquo;, sagt Robert, wobei sein Versuch, seine Stimme leicht klingen zu lassen, seltsam hoch ausf&auml;llt. &bdquo;Ich wollte mit Kieran sprechen. Und fragen, ob er bei dir ist, aber ich glaube, er ist unterwegs.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Ob Kieran bei mir ist?&ldquo;, wiederholt sie, sichtlich verwirrt. Sie spricht leise, und Robert fragt sich, ob sein Vater in der N&auml;he schl&auml;ft. &bdquo;Nein, nein, er ist ausgegangen? Was ist los?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Nichts ist los&ldquo;, antwortet er, und verzieht das Gesicht, weil die Worte so unnat&uuml;rlich klingen. Offensichtlich ist etwas los. Aber das wird er ihr sicher nicht sagen. Mit einem dumpfen Ger&auml;usch l&auml;sst Robert sich auf sein Bett fallen und verflucht sich daf&uuml;r, nicht einfach behauptet zu haben, er habe sie aus Versehen angerufen. &bdquo;Ich wollte nur mit ihm &uuml;ber etwas sprechen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Du hast mich nicht geweckt. Ich war blo&szlig; kurz bei deinem Vater, um nach ihm zu sehen, aber ich bin schon wieder aus seinem Zimmer raus. Ich war damit besch&auml;ftigt, B&uuml;cher in der Bibliothek zu katalogisieren. Ist schon eine Weile her, dass ich eine richtige Bestandsaufnahme gemacht habe. Du klingst seltsam, Robert. Was ist los?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Nichts &hellip; Muskelschmerzen. Ich nehme ein Schmerzmittel. Es geht schon.&ldquo;</p> <p>Seine Mutter seufzt. &bdquo;Du musst kein Schmerzmittel nehmen. Du musst dich nur vor und nach dem Fitnessstudio oder dem Joggen dehnen, morgens ein paar &Uuml;bungen machen, und schon ist alles wieder gut.&ldquo;</p> <p>&bdquo;So einfach ist das nicht&nbsp;&hellip;&ldquo;</p> <p>&bdquo;Falls du weiterhin die gro&szlig;en Pharmakonzerne unterst&uuml;tzen willst, ist das nat&uuml;rlich deine Entscheidung. Aber wenn du mich fragst&nbsp;&hellip;&ldquo;</p> <p>&bdquo;Ich frage dich nicht, Mum, du hast keine besonders gute Bilanz, was medizinische Ratschl&auml;ge angeht.&ldquo;</p> <p>Eine angespannte Stille entsteht.</p> <p>Dann antwortet seine Mutter: &bdquo;Wie gesagt, Kieran ist nicht hier. Du solltest es morgen versuchen. Vorausgesetzt, sein Kater ist nicht zu schlimm. Viel Gl&uuml;ck, etwas Vern&uuml;nftiges aus ihm herauszubekommen. Er ist oft die ganze Nacht unterwegs. Als er meinte, er w&uuml;rde wieder nach Hause ziehen, um mir bei der Pflege deines Vaters zu helfen, hatte ich mir etwas mehr Einsatz und Aufmerksamkeit erhofft.&ldquo; Sie schnaubt missbilligend. Dies ist nicht das erste Mal, dass seine Mutter das erw&auml;hnt, aber er kann sich jetzt nicht mit ihren Beschwerden &uuml;ber Kieran befassen. Er muss sich auf das Wesentliche konzentrieren. &bdquo;Aber ich vermute, die Verlockung von Alkohol und Frauen ist zu stark&ldquo;, w&auml;rmt sie sich weiter f&uuml;r das Thema auf.</p> <p>&bdquo;Ich versuch&rsquo;s sp&auml;ter noch mal&ldquo;, unterbricht er sie. &bdquo;Oder morgen. Es ist&nbsp;&hellip; nichts Dringendes.&ldquo; Schon wieder hat er das Gef&uuml;hl, dass seine L&uuml;ge offensichtlich ist. &bdquo;Ich muss auflegen, Mum. Ich rufe dich bald wieder an oder komme vorbei. Gute Nacht.&ldquo;</p> <p>Robert beendet das Gespr&auml;ch, bevor sie ihn noch l&auml;nger aufh&auml;lt. Er l&auml;sst das Telefon fallen, wirft sich r&uuml;cklings aufs Bett und starrt an die Decke. Er hat eine vage Vorstellung, dass er am Morgen klarer denken k&ouml;nnen wird. Einen Plan entwickeln kann. Eine Strategie. Ja, das ist es, was er braucht &ndash; eine Strategie. So wie er sie bei der Arbeit entwirft, um Probleme zu l&ouml;sen. Das macht er st&auml;ndig &ndash; Situationen managen, Krisen bew&auml;ltigen, &Uuml;berraschungen auffangen, Pl&auml;ne &auml;ndern und anpassen, Ideen umleiten&nbsp;&hellip; All diese W&ouml;rter bringen eine seltsame Art von Trost in seinen vor Gedanken wirbelnden Kopf. Das Gef&uuml;hl von Ordnung, das sie erzeugen, tr&auml;gt ihn in einen unruhigen Schlaf.</p> <p>Vor vielen Jahren hatten sie sich darauf geeinigt, nicht &uuml;ber jene Nacht zu sprechen. Es war eine Bitte von Robert gewesen, nicht lange nachdem es passiert war. Nein, keine Bitte. Eine Forderung. Er erinnert sich, als w&auml;re es gestern gewesen. Wie er in einem Krankenhausbett gesessen hatte. Kieran, der ihn besuchte. Robert, der ihm sagte, dass er nie wieder &uuml;ber das sprechen wolle, was geschehen war. Und Kieran, das muss man ihm lassen, hatte sich daran gehalten. Er war nie derjenige gewesen, der dieses Thema aufbrachte. Im Laufe der Jahre hatte es gelegentlich Andeutungen gegeben, aber meistens hatten sie einfach ihr Leben weitergef&uuml;hrt. So getan, als w&auml;re nie etwas passiert.</p> <p><i>Aber das hier ist etwas anderes</i>, denkt Robert, w&auml;hrend er nach seinem Telefon greift. Dann z&ouml;gert er. Ist es wirklich anders? Oder macht Robert einfach wieder das, was er manchmal tut &ndash; katastrophisieren? Im Laufe der Jahre hatte es einige Vorf&auml;lle gegeben, die ihn aus der Bahn geworfen haben, ihn in dunkle Phasen voller Qual &uuml;ber die Rolle gest&uuml;rzt haben, die er bei dem Geschehen im Jahr 2004 gespielt hatte.</p> <p><i>Aber nichts wie das</i>, l&auml;sst eine kleine Stimme in seinem Kopf vernehmen. <i>Nichts so&nbsp;&hellip; Ungew&ouml;hnliches</i>.</p> <p>&bdquo;Geht&rsquo;s dir gut?&ldquo;</p> <p>Albie steht im T&uuml;rrahmen. Robert muss wohl die T&uuml;r nicht geschlossen haben, als er ins Bett gegangen ist. Er merkt, dass er in einer seltsamen Position liegt, halb aus dem Bett h&auml;ngend, halb drin, einen Fu&szlig; auf dem Teppich, eine Hand ausgestreckt mit dem Telefon darin. Das Abbild der Unentschlossenheit.</p> <p>&bdquo;Ja&ldquo;, sagt Robert, legt das Telefon wieder ab und bringt sich in eine normalere Haltung, indem er sich auf die Bettkante setzt. &bdquo;Ja, ich glaube schon.&ldquo;</p> <p>Albie sieht ihn mit dem gleichen Blick an wie in der Nacht zuvor. Dann bemerkt Robert, dass Albie auf den Boden schaut, wo leere Blister der Schmerzmittel liegen.</p> <p>&bdquo;Vielleicht solltest du heute nicht zur Arbeit gehen&ldquo;, schl&auml;gt Albie vor, die Augen noch immer auf das Medikament gerichtet.</p> <p>Arbeit. Robert hatte alles, was so gew&ouml;hnlich ist wie Arbeit, v&ouml;llig vergessen. Er greift nach seinem Telefon und tippt auf den Bildschirm, f&uuml;r einen Moment glaubt er, dass es bereits zehn Uhr und er Stunden zu sp&auml;t ist, doch es ist erst sieben Uhr morgens. Er hat noch Zeit. Er steht vom Bett auf, streckt sich und versichert Albie, dass er v&ouml;llig in der Lage sei, ins B&uuml;ro zu gehen.</p> <p>Er erinnert sich kaum an den Weg. Seine F&uuml;&szlig;e tragen ihn zu den richtigen Rolltreppen, Bahnsteigen, Waggons und Ausg&auml;ngen, aber er nimmt kaum wahr, wohin er geht. Als er an seinem Schreibtisch sitzt, wei&szlig; er, dass es ein Fehler war, herzukommen. Sein Kopf ist ganz woanders. Arbeiten erscheint ihm unvorstellbar kompliziert. Sinnlos sogar. Er h&auml;tte eine Krankheit vort&auml;uschen oder sich einen famili&auml;ren Notfall ausdenken sollen. Irgendetwas, das ihn davon befreit h&auml;tte, ein voll funktionsf&auml;higer, normaler Mensch sein zu m&uuml;ssen. Die Leute sagen etwas zu ihm, aber die Informationen dringen nicht zu ihm durch. Er nickt, versucht, sich normal zu verhalten, wei&szlig; aber, dass ihm das nicht gelingt. Laura kommt an seinen Schreibtisch, erz&auml;hlt ihm, wie sehr sie sich auf ihre Verabredung zum Trinken in der n&auml;chsten Woche freut. Sie schl&auml;gt Dienstag als M&ouml;glichkeit vor.</p> <p>&bdquo;Dienstag?&ldquo;, fragt er vage und runzelt die Stirn.</p> <p>Sie sieht sofort verletzt aus. Murmelt etwas davon, dass sie &bdquo;versteht, wenn er zu besch&auml;ftigt ist&ldquo;, und sie sich sp&auml;ter melden wird. Sie wirft einen Blick zur&uuml;ck auf seinen Schreibtisch, Verwirrung im Gesicht.</p> <p>Ein Nachmittag voller Meetings liegt vor ihm. Er ist sich nicht sicher, ob er das durchsteht. Was ihn endg&uuml;ltig zur&uuml;ck in die Sph&auml;re der Panik st&ouml;&szlig;t, ist ein Gespr&auml;ch, das er zuf&auml;llig mith&ouml;rt.</p> <p>Zwei junge Frauen aus der Buchhaltung unterhalten sich in der K&uuml;che bei der Kaffeemaschine.</p> <p>&bdquo;Das muss ich mir ansehen&ldquo;, sagt die eine, w&auml;hrend sie ihre Tasse f&uuml;llt.</p> <p>Robert stellt gerade einen Teller in die Sp&uuml;le, als er die andere Frau &ndash; er glaubt, sie hei&szlig;t Steph &ndash; antworten h&ouml;rt: &bdquo;Oh, auf jeden Fall. Es hei&szlig;t <i>The Tree House</i>. Mein Mann und ich haben es an einem Abend durchgeschaut. Diese ganze Szene, wo die Jungs das M&auml;dchen in einem Baumhaus opfern &hellip; Das ist kein Spoiler &ndash; man wei&szlig;, dass das passiert, das sieht man in den ersten paar Minuten. Aber trotzdem, es ist so unheimlich. Die Jungs sind total psycho.&ldquo;</p> <p>Das ist zu viel f&uuml;r Robert. Er verl&auml;sst die K&uuml;che. Verl&auml;sst das B&uuml;ro. Geht hinaus auf die Stra&szlig;en von Southwark. Er l&auml;uft und l&auml;uft, bis er in irgendein Caf&eacute; in der Great Suffolk Street kommt, weit genug vom B&uuml;ro entfernt, dass es unwahrscheinlich ist, Kollegen zu begegnen. Dort nimmt er sein Handy heraus und googelt <i>The Tree House TV series</i>.</p> <p>Er liest Rezensionen, Zusammenfassungen, Reaktionen in sozialen Medien. Die Leute fanden die dreiteilige Serie offenbar &bdquo;fesselnd&ldquo;, &bdquo;packend&ldquo;, &bdquo;verst&ouml;rend&ldquo;, und einige Schl&uuml;ssels&auml;tze stechen heraus. Wichtige Details, die er lieber nie gelesen h&auml;tte, deren Bedeutung er aber nicht leugnen kann.</p> <p>Von zwei Jungen vergiftet.</p> <p>Ihr zerfetzter K&ouml;rper wurde im Wald gefunden.</p> <p>In St&uuml;cke gerissen.</p> <p>Als er erkennt, dass es keinen Weg gibt, das zu ignorieren, keinen Weg, einfach so weiterzumachen, navigiert er in seinen Kontakten erneut zu einem Namen und tippt auf <i>Anrufen</i>.</p> <p>&bdquo;Kieran, ich bin&rsquo;s. Es ist etwas Seltsames passiert. Etwas Schreckliches.&ldquo;</p> <h2>Kapitel Drei</h2> <div class="style_time_loc"> <p>KIERAN</p> </div> <p>Kieran wird von seinem Handy geweckt. Das harte, mechanische Brummen unter seiner Wange l&auml;sst ihn aufschrecken und aufblicken.</p> <p>Wo ist er? Er ist sich nicht sicher, aber er sp&uuml;rt, dass er sich drau&szlig;en befindet. Er sieht Geb&auml;ude. Keine Wolkenkratzer allerdings, also ist das nicht London. Er ist auf einem Balkon &ndash; so viel kann sein vom Kater vernebeltes Gehirn feststellen. Aber wo?</p> <p>Das Telefon vibriert weiter. Er blickt auf das Display und sieht den Namen seines Bruders.</p> <p>&bdquo;Hey, was gibt&rsquo;s?&ldquo;, fragt er g&auml;hnend.</p> <p>&bdquo;Kieran, ich bin&rsquo;s. Bist du&nbsp;&hellip; Kannst du gerade reden?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Gerade reden? Was meinst du?&ldquo;, murmelt er, der Mund trocken und die Stimme kratzig.</p> <p>&bdquo;Du klangst gestern Abend total zugedr&ouml;hnt. Ich musste mit dir sprechen und du klangst wie ein Junkie.&ldquo;</p> <p>Jetzt erinnert sich Kieran. Er war mit seinen Kumpels in Soho unterwegs gewesen, und einer von ihnen, Matt, hatte ihn &uuml;berredet, in einen besonders zwielichtigen Laden in der Greek Street namens <i>Club Pleasure</i> zu gehen, danach in eine noch zwielichtigere Wohnung gleich daneben mit einer Gruppe M&auml;dchen. Er erinnert sich daran, wie er mit einer von ihnen auf dem Sofa rumgemacht hat und sie sich beschwert hat, dass die Jeans um seine Kn&ouml;chel st&auml;ndig vibrierten, weil Anrufe eingingen.</p> <p>&bdquo;Ach ja &hellip; Ich glaube, ich habe mit dir gesprochen&ldquo;, murmelt Kieran. &bdquo;War kein guter Moment. Ich war v&ouml;llig breit.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Ja, das wei&szlig; ich. Bist du in letzter Zeit ziemlich oft. Und es ist verdammt nervig, wenn ich mit dir reden muss.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Was ist dir denn &uuml;ber die Leber gelaufen?&ldquo;, st&ouml;hnt Kieran.</p> <p>&bdquo;Es ist was passiert&ldquo;, sagt Robert, sichtlich gestresst. &bdquo;Was Schreckliches.&ldquo;</p> <p>Mit einem Schlag ist er hellwach. &bdquo;Was? Was ist los? Ist was mit Dad?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Nein, nein, was anderes.&ldquo;</p> <p>Kieran steht auf und streckt sich. Er sp&uuml;rt ein Ziehen im rechten Arm. Er glaubt, sich neulich im Fitnessstudio beim Rudern etwas gezerrt zu haben, und die seltsame Schlafposition auf einer Zweisitzer-Gartenbank hat es auch nicht gerade besser gemacht.</p> <p>&bdquo;Kann ich dich zur&uuml;ckrufen?&ldquo;, murmelt er. &bdquo;Ich bin gerade erst wach geworden.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Es ist <i>Mittag</i>&ldquo;, sagt Robert, die Frustration, durchsetzt mit einem Hauch Verurteilung, deutlich in seiner Stimme h&ouml;rbar. &bdquo;An einem <i>Wochentag</i>. Bist du noch in London? K&ouml;nnen wir uns treffen?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Nee&nbsp;&hellip; Ich glaube, ich bin in Colchester, bei Matt in der Wohnung. Verdammt, ich wei&szlig; nicht mal mehr, wie ich hierhergekommen bin.&ldquo;</p> <p>Er balanciert &uuml;ber den Balkon, steigt &uuml;ber leere Bierflaschen. In der Wohnung sieht er ein M&auml;dchen, das er nicht kennt, schlafend auf dem Sofa, nur in Unterw&auml;sche, ohne Oberteil. Matts j&uuml;ngerer Bruder Jesse liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich neben ihr.</p> <p>&bdquo;Ah. Du lebst also noch&ldquo;, spottet Matt. Er steht an der K&uuml;cheninsel und sieht genauso fertig aus, wie Kieran sich f&uuml;hlt, ein gro&szlig;es Glas Wasser in der Hand.</p> <p>&bdquo;Ja. Habe auf dem Balkon geschlafen. Muss weggepennt sein.&ldquo;</p> <p>Dann h&ouml;rt er ein fernes, blechernes Ger&auml;usch und blickt auf das Handy in seiner Hand. Gerade noch h&ouml;rbar br&uuml;llt Robert &bdquo;Kieran! Kieran!&ldquo; durch die Leitung.</p> <p>&bdquo;Warte kurz&ldquo;, murmelt Kieran zu Matt und geht durch die Wohnung ins Bad. Er setzt sich auf den Badewannenrand und sagt: &bdquo;Beruhige dich, ich bin hier. Also, was ist los?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Es ist&nbsp;&hellip; kompliziert&nbsp;&hellip; Vielleicht sollte ich&nbsp;&hellip; Ich wei&szlig; nicht, wie&nbsp;&hellip;&ldquo; In Roberts Stimme liegt jetzt ein Z&ouml;gern, und es klingt, als bereue er es, Kieran angerufen zu haben &ndash; oder zumindest erw&auml;gt er, das Gespr&auml;ch auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben, wenn Kieran klarer bei Verstand ist. Und tats&auml;chlich lenkt Robert ein: &bdquo;Ich glaube, ich sollte dich sp&auml;ter anrufen.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Warum? Worum geht&rsquo;s &uuml;berhaupt?&ldquo;, fragt Kieran gereizter, als er es beabsichtigt hat. Mit dem Zeh schiebt er die hellblaue Badematte hin und her, runzelt die Stirn und &uuml;berlegt, ob er den Schrank &uuml;ber dem Waschbecken nach Paracetamol durchw&uuml;hlen sollte, um gegen die zunehmenden Kopfschmerzen anzuk&auml;mpfen.</p> <p>&bdquo;Hast du zuf&auml;llig diese Woche ein Drama im Fernsehen gesehen, <i>The Tree House</i>?&ldquo;</p> <p>Die beiden letzten Worte der Frage lassen Kieran erstarren. &bdquo;Wie hei&szlig;t das?&ldquo;</p> <p>&bdquo;<i>The Tree House</i>.&ldquo;</p> <p>Ein leichtes Kribbeln l&auml;uft ihm den Nacken hinunter &ndash; ein kleiner Schauer, der ihn mit den Schultern zucken l&auml;sst. &bdquo;Nein, habe ich nicht. Worum geht&rsquo;s dabei, Rob?&ldquo;</p> <p>Am anderen Ende der Leitung herrscht eine Pause. Kieran h&ouml;rt jemanden rufen: &bdquo;Caramel Latte f&uuml;r Elaine!&ldquo;</p> <p>&bdquo;Das ist nicht der richtige Ort, um dar&uuml;ber zu reden. Tut mir leid&ldquo;, sagt Robert. &bdquo;Ich sollte zur&uuml;ck zur Arbeit. Oder vielleicht gehe ich nach Hause. Mir ist nicht so gut. Geh einfach&nbsp;&hellip; wenn du zu Hause bist, geh online und gib <i>The Tree House ITV series</i> ein und schau&rsquo;s dir an. Alle Folgen sind verf&uuml;gbar. Ich glaube &hellip; Ich glaube, wir haben ein Problem. Aber schau es dir erst an, dann reden wir. Du wirst schon sehen, was ich meine.&ldquo;</p> <p>Dann ist die Leitung tot. Desorientiert und nun mit h&auml;mmernden Kopfschmerzen steht Kieran auf und macht sich auf die Suche nach den Schmerzmitteln, die er nehmen muss, bevor er Auto f&auml;hrt.</p> <p>Eineinhalb Stunden sp&auml;ter bringt Kieran seinen Wagen mit quietschenden Reifen vor dem Elternhaus zum Stehen. Seine Mutter steht vor dem Haus, Gie&szlig;kanne in der Hand, und k&uuml;mmert sich um die trockenen, welken Pflanzen vor dem gro&szlig;en Geb&auml;ude aus der Regentschaftszeit.</p> <p>&bdquo;Es gibt ein Schlauchverbot&ldquo;, verk&uuml;ndet sie, als Kieran aus dem Auto steigt, als w&auml;re das eine wichtige Information, die er wissen sollte. &bdquo;Ich dachte nicht, dass es so was noch gibt. Wahrscheinlich wegen des Drucks von diesen &Ouml;ko-Aktivisten. Eine &Uuml;berreaktion, wenn du mich fragst. Andererseits bewundere ich ihre Entschlossenheit und ihr Engagement.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Gro&szlig;artig&ldquo;, grummelt er und schwankt ein wenig, w&auml;hrend er auf die Haust&uuml;r zugeht.</p> <p>&bdquo;Dir auch einen guten Morgen. Oder sollte ich besser sagen <i>guten Nachmittag</i>.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Komm mir nicht so&ldquo;, grummelt er und hebt eine Hand an die Schl&auml;fe. &bdquo;Ich habe Kopfschmerzen.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Du meinst einen Kater&ldquo;, erwidert sie scharf. Er geht weiter und durch die ge&ouml;ffnete T&uuml;r. Hinter sich h&ouml;rt er ein metallisches Klirren &ndash; vermutlich wurde die Gie&szlig;kanne im Eingangsbereich abgestellt&nbsp;&ndash;, gefolgt von einem knappen &bdquo;Kieran.&ldquo;</p> <p>&bdquo;<i>Was</i>?&ldquo;, fragt er und dreht sich um.</p> <p>&bdquo;Du bist betrunken.&ldquo;</p> <p>Er lacht genervt auf. &bdquo;Betrunken? Ein Kater ist nicht dasselbe wie betrunken sein.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Du solltest in diesem Zustand nicht Auto fahren&ldquo;, sagt sie, ihre Stimme eisig und leise, aber dennoch durchdringend. Sie hatte schon immer diese F&auml;higkeit &ndash; es so wirken zu lassen, als h&auml;tte sie geschrien, obwohl ihre Stimme nur ein paar Stufen &uuml;ber dem Fl&uuml;stern lag. &bdquo;Du k&ouml;nntest deinen F&uuml;hrerschein verlieren und jemanden verletzen. Und nicht nur das &ndash; ich mache mir Sorgen um deinen Platz hier.&ldquo;</p> <p>Er verzieht das Gesicht. &bdquo;Meinen <i>Platz</i> hier?&ldquo;</p> <p>&bdquo;Deinen Platz hier, zu Hause. Und generell im Leben.&ldquo; Sie tritt einen Schritt auf ihn zu und legt ihm eine Hand auf die Schulter. &bdquo;Liebling, so ein Verhalten mag akzeptabel gewesen sein, als du noch jung warst &ndash; wenn man gro&szlig;z&uuml;gig ist. Aber langsam wird es etwas erb&auml;rmlich.&ldquo;</p> <p>Kierans Augen weiten sich. &bdquo;Du findest, ich bin erb&auml;rmlich?&ldquo;</p> <p>Sie seufzt. &bdquo;Nun, du bist fast vierzig. Verantwortungslose Abst&uuml;rze h&auml;ttest du vor einem Jahrzehnt hinter dir lassen sollen.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Ich bin noch Jahre von vierzig entfernt, also mach mich nicht &auml;lter, nur weil es dir in den Kram passt. Und ich wohne nur hier, um dir mit Dad zu helfen.&ldquo;</p> <p>Sie hebt eine Augenbraue. Er wei&szlig; genau, was sie damit sagen will, auch ohne dass sie es ausspricht. Besonders viel geholfen hat er nicht mit seinem Vater. Er hatte gedacht, er sei unglaublich selbstlos, als er mit siebenunddrei&szlig;ig wieder ins Elternhaus zog, um seine Mutter bei der Betreuung seines Vaters zu entlasten. Als bei ihm vor zwei Jahren Lungenkrebs diagnostiziert worden war, sah die Prognose zun&auml;chst positiv aus &ndash; er schien gut auf die erste Behandlung anzusprechen, und obwohl er l&auml;ngere Zeit krankgeschrieben war, wirkte er im Allgemeinen zuversichtlich. Doch dann wurde es schlimmer, und schlie&szlig;lich noch viel schlimmer, bis seine Frau und die S&ouml;hne die deutliche Verschlechterung nicht mehr &uuml;bersehen konnten. Seitdem war st&auml;ndige Pflege n&ouml;tig.</p> <p>Obwohl Kieran nun seit ein paar Monaten wieder im Haus lebt, hat er das meiste den anderen &uuml;berlassen &ndash; seiner Mutter oder der Pflegekraft Maude, die jeden Tag kommt.</p> <p>&bdquo;Okay, tut mir leid. Ich werde versuchen, mehr zu machen&ldquo;, verspricht er schlie&szlig;lich, nun peinlich ber&uuml;hrt, w&auml;hrend er in den Klamotten von gestern vor seiner Mutter steht, noch mit Sonnenbrille, der Kopf flehend nach mehr Tabletten und Ruhe.</p> <p>&bdquo;Ich wei&szlig;, dass du dir &uuml;ber Geld keine Sorgen machen musst, und ich sage nicht, dass dein Vater und ich nicht dankbar sind f&uuml;r deine Hilfe bei der Instandhaltung dieses Hauses. Aber ich w&uuml;rde es hassen, wenn du einer dieser Lottogewinner w&auml;rst, die zu jung reich werden und dann ihr Leben zwar mit gut gef&uuml;lltem Bankkonto, aber mit Defiziten in anderer Hinsicht verbringen.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Okay, okay&ldquo;, erwidert Kieran und wedelt abwehrend mit den H&auml;nden. &bdquo;Ich helfe mehr im Haus und&nbsp;&hellip; so weiter. Ich muss mich nur kurz hinlegen. Mein Kopf&nbsp;&hellip;&ldquo;</p> <p>&bdquo;Im K&uuml;chenschrank sind Schmerztabletten, falls du welche brauchst&ldquo;, sagt seine Mutter, dreht sich auf dem Absatz um und nimmt beim Hinausgehen die Gie&szlig;kanne wieder auf.</p> <p>Kieran findet das Ibuprofen, schenkt sich ein Glas Wasser ein und l&auml;sst sich auf das Sofa in der Bibliothek fallen. Es ist so unfair, denkt er, dass man ihm im Grunde <i>vorwirft</i>, im jungen Alter im Lotto gewonnen zu haben und sein Erwachsenenleben ohne Arbeit zu verbringen.</p> <p>Obwohl seine Familie nach allen Ma&szlig;st&auml;ben schon vorher wohlhabend war, kostet der Unterhalt eines Hauses dieser Gr&ouml;&szlig;e viel, und er wei&szlig;, dass er seinen Eltern vieles erleichtert hat, indem er einen Scheck nach dem anderen schrieb &ndash; f&uuml;r Dachsanierungen, Mauerarbeiten, neue Verkabelung und Gott wei&szlig; was noch. Ganz zu schweigen davon, dass er seinem Bruder eine Wohnung im Zentrum Londons gekauft hat, in der er mietfrei lebt.</p> <p>Er denkt an Robert, und der merkw&uuml;rdige Anruf von vorhin f&auml;llt ihm wieder ein. Und zwei Worte &ndash; <i>The Tree House.</i></p> <p>Er nimmt die Fernbedienung und schaltet den Fernseher an der Wand am anderen Ende der Bibliothek ein, &ouml;ffnet die ITVX-App. Er muss nicht lange suchen, um die Serie zu finden. Sie prangt auf der Startseite, mit einem Zitat der <i>Daily Mail</i>, die sie offenbar <i>erschreckend, fesselnd, verst&ouml;rend</i> nennt. Er klickt auf <i>Play</i> bei der ersten Folge.</p> <p>Knapp drei Stunden sp&auml;ter sitzt er immer noch auf dem Sofa, das Licht der Nachmittagssonne durch die hohen Fenster hat einen fr&uuml;habendlichen Ton angenommen. Er greift nach seinem Telefon.</p> <p>&bdquo;Hi, ich bin&rsquo;s. Ich hab&rsquo;s mir angesehen. Ich sage nicht, dass wir in Panik geraten m&uuml;ssen, aber ich glaube, du k&ouml;nntest recht haben. Wir m&uuml;ssen uns treffen.&ldquo;</p> <h2>Kapitel Vier</h2> <div class="style_time_loc"> <p>ROBERT</p> </div> <p>Robert geht gerade im Hyde Park spazieren, als er Kierans Anruf erh&auml;lt.</p> <p>Er hat beschlossen, nicht ins B&uuml;ro zur&uuml;ckzukehren, weil er wei&szlig;, dass er sich sowieso nicht konzentrieren k&ouml;nnte. Gleichzeitig will er aber auch nicht zur&uuml;ck in seine Wohnung. Pl&ouml;tzlich f&uuml;hlt sich sein komfortables Apartment klein und beengt an, wie ein erstickender K&auml;fig. Doch jetzt, wo er drau&szlig;en ist in der dunstigen Abendsonne und das Licht gesprenkelt durch die B&auml;ume f&auml;llt und das Wasser glitzern l&auml;sst, f&uuml;hlt er sich abgestumpft gegen&uuml;ber der Sch&ouml;nheit Londons im Sommer. Ihm ist hei&szlig; und unwohl, und er kann kaum glauben, dass er noch vor vierundzwanzig Stunden auf dem Heimweg war, ganz beschwingt, voller Wertsch&auml;tzung f&uuml;r das berauschende Summen und die Hitze der Stadt mitten in einer Hitzewelle. Die Menschen um ihn herum scheinen genau das in diesem Moment zu genie&szlig;en &ndash; sich fr&ouml;hlich unterhaltend, auf dem Weg zur U-Bahn-Station Hyde Park Corner, voller Vorfreude auf das Wochenende, das vor ihnen liegt.</p> <p>Wohingegen er das Gef&uuml;hl hat, ein drohendes Unheil schwebe &uuml;ber ihm. Seine pers&ouml;nliche Gewitterwolke, unsichtbar f&uuml;r alle anderen, f&uuml;r ihn jedoch deutlich sp&uuml;rbar.</p> <p>Der Anruf von Kieran ist wie eine Best&auml;tigung seiner schlimmsten Bef&uuml;rchtungen. Sein gro&szlig;er Bruder, sonst so ruhig, gelassen, unbeeindruckt, hat einen besorgten Tonfall, der Robert pl&ouml;tzlich fr&ouml;steln l&auml;sst.</p> <p>&bdquo;Du hast recht. Irgendwas Seltsames geht hier vor.&ldquo;</p> <p><i>Du hast recht</i> ist nicht das, was Robert h&ouml;ren will. <i>Du &uuml;bertreibst.</i> <i>Das ist nichts, wor&uuml;ber man sich Sorgen machen m&uuml;sste</i>. Das hatte er gehofft, von Kieran zu h&ouml;ren. Aber Kieran redet weiter, und was er erz&auml;hlt, tut nichts, um das aufsteigende Gef&uuml;hl der Angst in Roberts Magen zu lindern.</p> <p>&bdquo;Die Szene im Baumhaus. Sie ist&nbsp;&hellip; seltsam. Wie die Jungs miteinander reden&nbsp;&hellip;&ldquo;</p> <p>&bdquo;Ich wei&szlig;&ldquo;, antwortet Robert. &bdquo;Ich werde diesen Moment nie vergessen. Es ist&nbsp;&hellip;&ldquo; Er schluckt, versucht, die Worte zu finden. &bdquo;Es ist etwas, das sich in mein Ged&auml;chtnis eingebrannt hat, und ich verstehe nicht, wie irgendjemand wissen kann, was wir gesagt haben. Was wir <i>getan</i> haben.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Langsam&ldquo;, beschwichtigt Kieran. &bdquo;Lass uns das jetzt nicht wieder alles aufrollen.&ldquo; Er spricht, als w&uuml;rden er und Robert regelm&auml;&szlig;ig die Details dessen besprechen, was vor fast einundzwanzig Jahren passiert ist, obwohl sie das eigentlich nie tun. Robert hat sich oft gefragt, ob es Kieran ebenso im Kopf herumgeht wie ihm &ndash; wie eine Fliege, die man nicht loswird. Oder eine Wespe mit sehr scharfem Stachel.</p> <p>&bdquo;Ich kann nicht glauben, dass es schon zwanzig Jahre her ist&ldquo;, sagt Robert leise und bleibt unter einem Baum am Rand der Serpentine stehen.</p> <p>&bdquo;Lass das&ldquo;, f&auml;hrt Kieran ihn an. &bdquo;Lass uns dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beimessen.&ldquo;</p> <p>Robert sp&uuml;rt einen Anflug von Wut. &bdquo;Du hast mich angerufen&ldquo;, zischt er. &bdquo;Du h&auml;ttest mich nicht angerufen, wenn du nicht denken w&uuml;rdest, dass ich recht habe.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Nein, Rob, du bist derjenige, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, der mich &uuml;berhaupt erst darauf aufmerksam gemacht hat. Und ich stimme dir zu, es ist seltsam. Ich sage nur &ndash; lass uns nicht in blinde Panik verfallen und paranoid werden. Seltsame Dinge passieren.&ldquo;</p> <p><i>Allerdings</i>, denkt Robert. F&uuml;r ein paar Sekunden herrscht Stille in der Leitung, dann fragt Kieran: &bdquo;Hast du es dir komplett angeschaut?&ldquo;</p> <p>Rob sch&uuml;ttelt den Kopf, obwohl sein Bruder ihn nicht sehen kann.</p> <p>&bdquo;Nein, habe ich nicht. Nur das erste St&uuml;ck der ersten Folge. Aber ich habe ein paar Rezensionen gelesen und andere Details gesehen&nbsp;&hellip;&ldquo; Um ihn herum ist niemand, aber trotzdem senkt er die Stimme. &bdquo;Details wie&nbsp;&hellip; Der Zustand der Leiche. Dass sie von Hunden angegriffen wurde.&ldquo;</p> <p>Kieran macht ein seltsames Ger&auml;usch, als w&uuml;rde er Luft durch die Z&auml;hne einziehen. &bdquo;Ja, dieser Teil&nbsp;&hellip; Ist auch beunruhigend.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Verdammt, das ist furchtbar&ldquo;, sagt Robert und bem&uuml;ht sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. &bdquo;Ich gehe nach Hause und schaue mir alles an. Ich muss genau wissen, womit wir es zu tun haben. Ich hatte Angst davor. Ich glaube, deshalb bin ich nicht direkt nach Hause gegangen.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Wo bist du jetzt?&ldquo;, fragt Kieran.</p> <p>&bdquo;Im Hyde Park.&ldquo;</p> <p>&bdquo;Dann geh nach Hause und schau es dir an. Danach reden wir weiter. Aber bitte, versuch einen klaren Kopf zu bewahren, w&auml;hrend du es siehst. Wir kommen da durch. Alles wird gut. Es wird immer alles gut.&ldquo;</p> <p>Robert verabschiedet sich von seinem Bruder und steckt nachdenklich das Telefon in die Tasche. Er denkt an die Vergangenheit. An Probleme, die jetzt die Gegenwart infizieren. Daran, dass er und sein Bruder offenbar sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was <i>gut</i> bedeutet.</p> <div class="divider"> <p>***</p> </div> <p>Nach einem langsamen Spaziergang durch den Park geht Robert &uuml;ber den Belgrave Square in Richtung seiner Wohnung zur&uuml;ck. Er ist dankbar, dass Albie heute Abend auf einem Date ist, obwohl Robert inst&auml;ndig hofft, dass er das M&auml;dchen nicht mit nach Hause bringt. Der Gedanke, h&ouml;flich und nett zu einem Besuch sein zu m&uuml;ssen, ist ihm unertr&auml;glich &ndash; nicht, wenn er sich so f&uuml;hlt.</p> <p>Wie aufs Stichwort f&auml;hrt seine Nachbarin, eine Frau in den Sechzigern namens Cassandra, mit ihrem Auto auf ihren Parkplatz und steigt mit einer Harrods-T&uuml;te aus.</p> <p>&bdquo;Hallo, Robert, sch&ouml;n, Sie zu sehen&ldquo;, sagt sie. W&auml;hrend er sich w&uuml;nscht, er h&auml;tte sich unbemerkt in die Wohnung schleichen k&ouml;nnen, l&auml;chelt er und gr&uuml;&szlig;t zur&uuml;ck, bleibt auf dem Gehweg stehen. Sie ist recht nett, Cassandra, und erinnert ihn ein wenig an seine eigene Mutter &ndash; auf eine k&uuml;hle und distanzierte Art. Freundlich und wohlerzogen, aber mit einem st&auml;hlernen Unterton, den er nicht ganz einordnen kann.</p> <p>&bdquo;Wie geht es Kieran?&ldquo;, fragt sie und stellt die Papiert&uuml;te ab, um ihren Schl&uuml;sselbund herauszuholen. &bdquo;Hilft er immer noch bei Ihren Eltern?&ldquo;</p> <p>Robert best&auml;tigt das. Kieran kannte ihren Sohn aus der Schulzeit, und er war es auch, der ihm den Tipp gegeben hatte, dass in dem Haus neben dem seiner Mutter eine Wohnung zum Verkauf stand. Deshalb fragt sie regelm&auml;&szlig;ig nach ihm, und Robert wei&szlig; nie so recht, was er antworten soll, da sich im Leben seines Bruders von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr kaum etwas &auml;ndert.</p> <p>&bdquo;Ein so netter Junge&ldquo;, sagt sie, w&auml;hrend sie ihre Haust&uuml;r aufschlie&szlig;t. &bdquo;Ich denke, manche Menschen sind einfach dazu bestimmt, das Richtige im Leben zu tun &ndash; und er geh&ouml;rt dazu.&ldquo;</p> <p>Sie verabschiedet sich mit einem L&auml;cheln, und Robert fragt sich, ob in ihren Worten irgendwo ein Seitenhieb versteckt war. Vielleicht denkt sie, er selbst h&auml;tte zu seiner Familie nach Essex zur&uuml;ckziehen sollen, als sein Vater krank wurde. Dieses Muster ist nicht ungew&ouml;hnlich &ndash; die Leute denken gut von Kieran, loben jede gute Entscheidung von ihm &uuml;berm&auml;&szlig;ig und &uuml;bersehen seine Fehler. In dieser Hinsicht hat er einfach Gl&uuml;ck. Nur ihre Mutter scheint ihn zu durchschauen.</p> <p>Er schlie&szlig;t seine Wohnungst&uuml;r auf und denkt an ein k&uuml;rzliches Gespr&auml;ch, in dem seine Mutter ihre Sorgen &uuml;ber Kierans Alkoholkonsum ge&auml;u&szlig;ert hatte &ndash; und dar&uuml;ber, dass er sich immer noch benehme, als w&auml;re er in den Zwanzigern. Robert hatte ihr antworten wollen, dass das nichts Neues sei und dass es sie offenbar erst st&ouml;re, seit es unter ihrem eigenen Dach geschieht. Aber stattdessen hatte er versucht, sie zu beruhigen, ihr versprochen, mit ihm zu reden.</p> <p>&bdquo;Er hatte in so mancher Hinsicht immer Gl&uuml;ck&ldquo;, hatte seine Mutter gesagt, &bdquo;aber ich frage mich, ob das eines Tages sein Untergang sein wird.&ldquo;</p> <p>Robert schenkt sich ein Glas Wein ein und macht es sich im Kinoraum bequem. Er l&auml;sst den Alkohol ein wenig seine Nerven beruhigen und zwingt sich, erneut die Er&ouml;ffnungsszene von <i>The Tree House</i> anzusehen. Sie ist genauso ersch&uuml;tternd, wie er sie vom Vorabend in Erinnerung hat. Danach folgt eine unheimliche Titel-Sequenz mit einem d&uuml;steren, hallenden Remix eines bekannten Popsongs als Titelmelodie, w&auml;hrend Splitter von Holz aufblitzen, durchsetzt mit den Namen der Schauspieler. Am Ende f&uuml;gen sich all diese Holzst&uuml;cke zu einem Baum zusammen, mit einem Baumhaus in den gezackten &Auml;sten und dem Serientitel in fetter Blockschrift dar&uuml;ber.</p> <p>Das ist wahnsinnig, denkt Robert, w&auml;hrend er die erste Folge ansieht. Das ist buchst&auml;blich wahnsinnig.</p> <p>Er schaut sich alle drei Teile an. Ohne Werbung dauert jede Folge weniger als f&uuml;nfzig Minuten, doch es sind bereits &uuml;ber drei Stunden vergangen, bis er sich geistig und emotional in der Lage f&uuml;hlt, aufzustehen und den Kinoraum zu verlassen. In der K&uuml;che schnappt er sich seinen Laptop und &ouml;ffnet Chrome.</p> <p>Er z&ouml;gert ein paar Sekunden, &uuml;berlegt, wie er am besten vorgeht, geht dann auf IMDb, findet die Seite zu <i>The Tree House</i> und klickt auf den Namen des Regisseurs: Jim Strike. Robert hat noch nie von ihm geh&ouml;rt, aber offenbar hat er viele bekannte Fernsehserien f&uuml;r BBC und ITV inszeniert, dazu ein paar kleinere britische Filme und einige Pilotfolgen von amerikanischen Kabelserien.</p> <p>Dann klickt er auf den Drehbuchautor.</p> <p>R.R. Dread.</p> <p>Der Name l&auml;sst ihn fr&ouml;steln. Auf IMDb gibt es kein Foto, und <i>The Tree House (2025)</i> scheint sein einziger Eintrag zu sein. Robert versucht es mit Google und landet nach kurzem Suchen auf der Website einer Literaturagentur mit Sitz in Hammersmith, die Autoren und Drehbuchautoren vertritt. Beim Herunterscrollen auf der Seite von R.R. Dread erscheint ein Foto, daneben eine kurze Biografie, in der steht, dass es sich um das Drehbuch-Pseudonym eines Romanautors namens Sean Smith handelt.</p> <p>Er sieht ganz gew&ouml;hnlich aus, vermutlich Anfang bis Mitte drei&szlig;ig, aber das l&auml;sst sich schwer sagen. Das Foto ist schwarz-wei&szlig;, aber er scheint helles Haar zu haben &ndash; und sehr tiefe, dunkle Augen.</p> <p>Robert liest die Biografie. Er ist ein Schriftsteller aus dem S&uuml;dwesten Englands, arbeitet an Romanen und Drehb&uuml;chern, wobei <i>The Tree House</i> seine erste beauftragte Arbeit war. Es scheint, als seien seine Romane nicht ver&ouml;ffentlicht worden &ndash; oder zumindest findet Robert keinen Hinweis darauf.</p> <p>Er liest die Worte <i>S&uuml;dwesten Englands</i> noch einmal, dann sieht er sich erneut das Gesicht des Mannes an.</p> <p>Je l&auml;nger er hinschaut, desto st&auml;rker beschleicht ihn ein ungutes Gef&uuml;hl.</p>

Erscheint lt. Verlag 1.11.2025
Übersetzer Katja Fischer
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Domestic Thriller • dunkles Geheimnis • Mord • psychologische Abgründe • Psychologischer Thriller • Psychothriller • Spannungsroman • Thriller Hörbuch • tödliche Vergangenheit
ISBN-13 9783690903530 / 9783690903530
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