Sommergras (eBook)
128 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-6951-7480-5 (ISBN)
Die Deutsche Haiku-Gesellschaft (DHG) ist ein 1988 gegründeter Verein, der die Förderung und Verbreitung deutschsprachiger Lyrik in traditionellen japanischen Gattungen (Haiku, Tanka, Haibun, Haiga und Kettendichtungen) sowie die Vermittlung japanischer Kultur unterstützt. Sie organisiert den Kontakt der deutschsprachigen Haiku-Dichter/-innen untereinander und pflegt Beziehungen zu entsprechenden Gesellschaften in anderen Ländern. Der Vorstand unterstützt mehrere Arbeits- und Freundeskreise in Deutschland sowie Österreich, die wiederum Mitglieder verschiedener Regionen betreuen und weiterbilden.
Haiku-Kaleidoskop
Klaus-Dieter Wirth
Die Evolution des Haiku als eigenständiges Genre in der westlichen Welt (Teil 2)
Zum Glück entstand in diesem Sinne gleich mit der Entdeckung des Haiku speziell in Frankreich eine zweite Rezeptionsschiene, einerseits bedingt durch den kulturellen Zeitgeist, andererseits durch die eher zufällig zustande gekommene Initiative wiederum eines Einzelnen:
Einmal war nämlich insbesondere Frankreich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. (fin de siècle) Jahrhundert sowohl in der Literatur als auch Malerei tonangebend bei der großen allgemeinen Aufbruchstimmung, in der man nach neuen Wegen abseits der bloßen Nachahmung überkommener klassischer Konventionen6 suchte. Unmittelbarer Ausdruck dessen waren an dieser epochalen Schwelle die rasch neu aufkommenden Kunstrichtungen des Impressionismus, Symbolismus, Fauvismus und Kubismus. Entsprechend aufgeschlossen bewunderte man zum Beispiel in der Folge insbesondere die ebenso fremdartige wie eigenwertige Kunst des japanischen Farbholzschnitts (s. o.) wegen ihres ganz anderen Zugriffs auf die Realität. Zum anderen wurde schon früh auf direktem Wege vor Ort und in ganz persönlicher Umsetzung von dem französischen Philosophen, Arzt und Literaten Paul-Louis Couchoud (1879–1959) anlässlich eines halbjährigen Japanaufenthalts erstaunlich viel von dem wahren Charakter und Geist des Haiku eingefangen und verinnerlicht. Denn bereits ein Jahr später, 1905, machte er mit seinen Freunden, dem Bildhauer Albert Poncin und dem Maler André Faure, bei der Mitfahrt auf einem Lastkahn entlang der Seine und ihren Seitenkanälen erste eigene Haiku-Versuche, die damit zugleich überhaupt als die ersten in der westlichen Welt anzusehen sind! Obwohl das kleine Werk Au fil de l’eau (Am Wasser entlang), 72 Dreizeiler im freien Stil, in nur 30 Exemplaren, dazu anonym, veröffentlicht wurde, erweckte es sogleich großes Aufsehen. Daraus zwei Beispiele:
| Le vieux canal | Der alte Kanal |
| Sous l’ombre monotone | Unter dem eintönigen Schatten |
| S’est vert-de-grisé | Zu Grünspan geworden |
| Horizon solennel | Feierlicher Horizont |
| Le fleuve magnifique | Der prachtvolle Fluss |
| Agonise dans les sables | Stirbt in den Sandbänken |
Und schon ein Jahr später, 1906, ließ Couchoud seine Épigrammes lyriques du Japon7 mit einem scharfsinnigen Essay über das neue Genre zusammen mit Übersetzungen japanischer Haiku folgen, die starke Beachtung fanden und erkennen ließen, dass er durchaus verstanden hatte, worauf es letztlich in Wirklichkeit ankam. Dass auch er zu diesem Zeitpunkt noch die Bezeichnung „Epigramm“ verwendete, hängt damit zusammen, dass er selbstverständlich die wegweisende Veröffentlichung von Basil Hall Chamberlain gelesen hatte und genau wusste, dass er nur so die infrage kommende Leserschaft erreichen konnte. Außerdem hatte er allerdings schon erkannt, dass diese Bezeichnung am Ende nicht angebracht war und deshalb auch das korrigierende Attribut „lyrisch“ hinzugefügt, um sich von der traditionellen Sinnspruchvorstellung abzusetzen. Für Chamberlain war das Haiku nur eine Art von Unterhaltungsspiel, „eine Optik, die auch die englischsprachigen Übersetzungen von Aston8, Porter9, Hearn10 und anderen bestimmte und dazu beitrug, die imagistische Bewegung in einer bildhaften Poetik zu verankern“11. Couchoud dagegen „definierte das Haiku als, ein kurzes Erstaunen“, eine Bewegung im Geist, wie eine musikalische Note, deren Harmonien im Leser nachklingen. Indem er das diskursive Feld von der kolonialistischen Bevormundung auf die ästhetische Harmonie und die Reaktion des Lesers verlagerte, stellte er somit das Haiku bereits fest auf den Boden der Moderne und fügte es als ‚diskontinuierliche Poesie‘ in die zeitgenössischen Diskurse des Kubismus und der literarischen Moderne ein. Er argumentierte, dass das Haiku durch sorgfältig kalibrierte Fragmente und elliptische Gegenüberstellungen darauf abzielt, uns ein gewisses Etwas, fühlen zu lassen‘. Da die endgültige Resonanz eine potenziell unendliche Ausdehnung hat, liegt die Kürze des Textes eher im Bereich des Unermesslichen als im Bereich der Miniatur, auch wenn er unsubjektiv aus einer impliziten Verankerung in der phänomenalen Welt heraus funktioniert.“12 Kurzum: Für Couchoud stellte das Haiku die ersehnte, neue moderne Art, die Welt zu sehen und zu erfassen dar, die damit auf geradezu wundersame Weise den dem Untergang geweihten konventionellen Ausdrucksformen des Westens entgegentrat.
Am besten lassen sich Chamberlains und Couchouds unterschiedliche Ansätze und Auffassungen anhand eines Beispiels veranschaulichen, das wir bereits weiter oben, nämlich Bashōs Zikaden-Haiku, unter einem anderen Gesichtspunkt mit einer englischen Version von Harold Gould Henderson und einer deutschen von Gerolf Coudenhove. herangezogen haben:
| yagate / shinu | kashiki / wa / miezu | semi / no / koe |
bald / sterben
Anzeichen / Themenmarker = was anbetrifft / nicht zeigen
Zikade / Genitivpartikel / Zirpen
Nothing in the cicada’s voice
Gives token of a speedy death.
B. H. Chamberlain
Nichts in der Stimme der Zikade
Deutet auf einen baldigen Tod hin.
Never an intimation in all those voices of sémi
How quickly the hush will come – how speedily all must die.
L. Hearn
Nie eine Andeutung in all diesen Stimmen von Sémi
Wie schnell die Stille kommen wird – wie schnell alle sterben müssen.
| The cry of the cicada | Der Schrei der Zikade |
| Gives no sign | gibt kein Zeichen |
| That presently it will die. | Dass sie bald sterben wird. |
| W. G. Aston |
Zum direkten Vergleich anschließend an dieser Stelle nun die französische Übersetzung von P.-L. Couchoud aus dem Jahre 190613:
| La mort tout prochaine, | Der Tod so ganz nah, |
| Rien ne l’annonce | Nichts kündigt ihn an |
| Dans le chant de la cigale. | Im Gesang der Zikade.14 |
Bei Chamberlain und Hearn gibt noch die Orientierung an der zweizeiligen Epigrammform den Ausschlag. „Alle drei englischen Übersetzer stellen indes die Syntax um und bringen damit die affektive Struktur durcheinander, indem sie die zentrale Schlussfolgerung, das Zikadenzirpen, an den Anfang rücken. Keiner dieser viktorianisch geprägten Autoren kann offensichtlich weder auf seine dominante Stimme, eine erzählerische Entwicklung, oder den Gedanken an eine geschlossene Einheit, eine aufsteigende Komplikation noch auf einen leicht didaktischen Ton verzichten. Couchoud dagegen bietet eine neue Art von poetischem Text, eine seltsam zurückhaltende, elliptische Klangmischung aus Angst und Empathie, die sich schnell und überraschend ausgerechnet im Gesang eines Insekts auflöst.“15
Im Anschluss an zwei weitere Reisen nach Japan und China brachte Couchoud 1916 seine Sammlung Sages et poètes d’Asie (Weise und Dichter Asiens)16 heraus, eine Erweiterung seiner Erstveröffentlichung von 1906 (s. o.) auf insgesamt 156 Haiku-Übersetzungen, dazu mit einem Abschnitt über zeitgenössische, französische Kriegs-Haiku, die in ihrer Radikalität zugleich aufzeigten, bis zu welchem Grad das Genre in seinem unmittelbaren Realitätsbezug neue Wege beschreiten konnte. Bezeichnenderweise lag der Transferschwerpunkt hier in erster Linie auf dem Inhalt und nicht vordergründig auf der Form!
Daraus, die Spannweite des Werks belegend, zunächst Arakida Moritakes Schmetterlings- und Yosa Busons Kamm-Haiku in Couchouds Übersetzung und im ultimativen Kontrast dazu zwei der besagten französischen Kriegs-Haiku von Julien Vocance17 und René Druart:
| Un pétale tombé | Ein gefallenes Blütenblatt |
| Remonte à sa branche | Kehrt an seinen Zweig zurück |
| Ah! c’est un papillon! | Ah! es ist ein Schmetterling! |
Épouvantement …
J’ai marché dans la chambre,
Sur le peigne de ma femme morte.
Entsetzen … .
Ich bin im Schlafzimmer
Auf den Kamm meiner toten Frau getreten
| Je l’ai reçu dans la fesse | Mich hat’s am Hintern erwischt, |
| Toi dans l’oeil | Dich im Auge, |
| Tu es un héros, moi... |
| Erscheint lt. Verlag | 13.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
| Schlagworte | Gedicht • Haiku • Japan • Kultur • Lyrik |
| ISBN-10 | 3-6951-7480-3 / 3695174803 |
| ISBN-13 | 978-3-6951-7480-5 / 9783695174805 |
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