Wo beginnt der Osten, Genosse?
Liesmich Verlag
978-3-945491-14-0 (ISBN)
„Genau das habe ich auch gedacht.“
„Aber du hast nichts gesagt.“
„Was sollte ich denn sagen?“
„Was weiß ich? Irgendwas? Vielleicht, was du denkst? Zur Abwechslung?“
„Alex schreibt eine hoffnungslose Doktorarbeit und isst kein Fleisch“ - das scheint das Wesen von Alex zusammenzufassen. Allerdings sieht es in Alex’ Kopf ganz anders aus, denn dort türmen sich Fragen über Fragen: Was sind ‘Ost’ und 'West'? Gibt es das überhaupt? Warum trägt dieser Typ Müll mit sich herum? Ist die Doktorarbeit zum Scheitern verurteilt? Und wer tröstet hier eigentlich wen?
Die Verwirrungen des alltäglichen und des außergewöhnlichen Lebens nehmen kein Ende: Sofiia, die aus der Ukraine fliehen musste, kocht mit Putinisten Piroggen. Liz will, dass Alex endlich für sich selbst einsteht und das Kurioseste – der Kater Genosse braucht kein Katzenklo.
Mit einer überraschenden Leichtigkeit nimmt der Roman das schwere Thema des Ukraine-Kriegs auf und erzählt von Alex’ Versuch, den Konflikt zwischen Ost und West zu verstehen oder zumindest weniger verwirrend zu finden.
„Setz dich, setz dich, Saschenka!“ Sofiia springt auf, holt ein weiteres Glas aus dem Schrank und füllt es mit Wein. Sie stellt einen Teller vor mich hin und türmt Kartoffeln und Gemüse darauf. Den Löffel für die Fleischpfanne in der Hand, blickt sie mich fragend an. „Willst du Fleisch? Lizka hat auch probiert.“ „Nein, danke.“ Ich ziehe schnell den Teller zu mir. Auf Liz‘ Teller liegt tatsächlich ein kleiner Hügel der köstlich duftenden toten Tiere. Sie lädt sich eine Gabel damit voll und stopft sie hektisch in ihren Mund. Sie hat mich noch nicht angesehen, seit ich hereingekommen bin. Wieso isst Liz auf einmal Fleisch? Was ist hier los? „Liz …“ „Shut up.“ Sie isst weiter, mit einer Bewegung, als müsste sie der Welt beweisen, dass sie schon allein essen kann. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Augen glänzen unter dem perfekten Schwung ihrer Brauen, ihre Nasenflügel haben dieses Beben, das ein kommendes Gewitter ankündigt. Die albern bunte Bluse unterstreicht ihre starken Schultern; ihre kleinen Brüste versuchen, durch den Stoff zu pieken. Ohne Vorwarnung trifft mich ein Liebesstich mitten ins Zwerchfell. Tränen stellen sich hinter meinen Augen an, wie eine Meute Kunden vor dem Öffnen der Türen beim Winterschlussverkauf. Mit einem großen Schluck Wein versuche ich, alles wieder zurück nach innen zu spülen. „Lizka hat das Fleisch nicht gekauft. Ich habe gekauft. Schmeckt gut?“ „Schmeckt fantastisch, Sofiia“, sagt Liz mit vollem Mund. Auch sie nimmt einen großen Schluck Wein. „Ihr - gutes Paar“, sagt Sofiia, „ihr habt die gleichen Bewegungen.“ Ohne es zu wollen, sehen wir uns an. In Liz‘ Gesichtsausdruck erkenne ich die Verwunderung, die auch ich spüre. Und noch etwas anderes. Entsetzen? Widerwille? „Wir sind kein Paar, Sofiia“, sagt Liz. „Natürlich. Ich sehe, was ich sehe.“ Sofiia lächelt. Ernster fährt sie fort: „Ich verstehe euch nicht. Ihr liebt euch, aber ihr wollt Liebe nicht. Ihr habt ein Haus …“ „Eine Wohnung.“ „… eine Wohnung, und ihr wollt nicht zusammen darin wohnen.“ Will Liz ausziehen? „Ihr habt gute Arbeit …“ „Nur eine von uns hat eine gute Arbeit.“ Liz stopft sich das Fleisch in den Mund. „… mit Geld, und ihr wollt nicht schöne Sachen kaufen.“ Sofiia zeigt auf ihre neuen Kleidungsstücke auf den Küchenstühlen. Sie nimmt jetzt auch einen Schluck Wein und sagt: „Krieg ist in Ukraine, aber traurig ist hier.“ Dann trinkt sie das fast volle Glas in einem Zug aus. Liz und ich schauen uns unwillkürlich an und sehen dann schnell wieder weg. „Kommt, trinkt, Kinderchen!“ Sofiia verteilt den Rest aus der Flasche in unsere beiden Gläser. „Seid nicht traurig, Krieg ist nicht ewig. Geht vorbei.“ Sie lächelt uns nacheinander an. Die Mascara um ihre großen Augen ist ein wenig verschmiert. Der Saharaschnee auf ihrer Wange beginnt zu bröckeln. Sie ist auf eine beirrende Weise schön. Ich schütte mir mein ganzes Glas Wein in den Schlund. Jetzt habe ich auch ein leeres Glas, wie Sofiia. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Liz mich dabei beobachtet. „Esst noch, Kinderchen!“, sagt Sofiia. Wir essen schweigend. „Sofiia, hast du dort noch Verwandte, in Charkiw?“, fragt Liz irgendwann. Sofiia steckt sich eine Gabel voll Essen in den Mund. „Wenn du es erzählen willst“, mildere ich ab. Liz schießt mir einen Blick zu. Sofiia hat ihren Bissen heruntergeschluckt. „Meine Eltern wohnen in Dorf. Mein Bruder ist an der Front. Gibt es noch etwas zu trinken?“ Ich wühle im Schrank und finde in der hintersten Ecke noch eine angetrunkene Flasche russischen Wodka, der noch von unserer gemeinsamen Geburtstagsparty im Sommer stammen muss. Sofiia starrt auf das Etikett und steht dann auf. „Ich muss schlafen. Träumt schön.“ Sie spült ihren Teller ab, rafft ihre Einkäufe zusammen und geht schnell aus der Küche. Ein Schweigen breitet sich aus, wie ein übler Furz, den sich keiner zu erwähnen traut. „Ich kann es nicht fassen“, sagt Liz schließlich. „Sofiia tröstet uns, weil wir über den Krieg in ihrem Land traurig sind.“ „Genau das habe ich auch gedacht.“ „Aber du hast nichts gesagt.“ „Was sollte ich denn sagen?“ „Was weiß ich? Irgendwas? Vielleicht, was du denkst? Zur Abwechslung?“ „Wenn ich sagen würde, was ich denke …“ „Ja?“ Liz‘ ganzer Körper spannt sich.
| Erscheinungsdatum | 11.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Maße | 135 x 210 mm |
| Gewicht | 400 g |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Aktivismus • Alltagsabsurditäten • Beziehungskrise • Familie • Flucht • Freundschaft • Generationenkonflikt • Gesellschaftskritik • Herkunft • Hoffnung • Humor • Identitätssuche • Individuum • Integration • Ironie • Klavier • Klima • Klimakrise • Kollektiv • Krieg • Kriegstrauma • Liebe • Migration • Musik • Neuanfang • Ost-West-Konflikt • Protest • Putin • Russland • Satire • Solidarität • Sprachwitz • Ukraine • Ukrainekrieg • Verlust • WG-Leben |
| ISBN-10 | 3-945491-14-2 / 3945491142 |
| ISBN-13 | 978-3-945491-14-0 / 9783945491140 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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