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Das Landei in der Stadt -  Katharina Michel-Nüssli

Das Landei in der Stadt (eBook)

Und andere Grenzerfahrungen
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
124 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-8192-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
10,99 inkl. MwSt
(CHF 10,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
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Ein Landei beschloss, die Welt zu entdecken. Es wohnte bislang auf einem abgelegenen Bauernhof in einem Nest aus Stroh. Es hatte noch nicht viel gesehen, aber eines wusste es: Es und seine Gespane glichen sich wie ein Ei dem anderen. Als die Scheunentür offenstand, leuchtete verlockend ein Sonnenstrahl herein. Das Ei nutzte die Gelegenheit und kullerte ins Freie.

Katharina Michel-Nüssli ist am 13. November 1964 geboren, im Tösstal aufgewachsen und lebt im Oberthurgau. Heute arbeitet sie freiberuflich und schafft sich regelmässig Zeitfenster fürs Schreiben. «Das Landei in der Stadt» ist ihr zweites Buch. Wie ihre Texte entstehen? Sie beobachtet. Die Welt. Sich selbst. Oder dich. Wie du lachst, telefonierst, errötest, stolperst. Wie du dich veränderst. Möglich, dass sie dich ungefragt in eine Geschichte eingeflochten hat, ohne dass du etwas davon ahnst. Es sei denn, du erkennst dich beim Lesen wieder.

BLICK ZURÜCK


Feierabend


Auf der anderen Seite des Flusses, wo Durchreisende keine Häuser vermuteten, da wohnten wir. Vom Wohnzimmerfenster aus konnte man die Autos auf der Hauptstrasse gegenüber zählen, ein Hobby meines jüngeren Bruders, der sie akkurat, nach Marken getrennt, auf einer Liste festhielt. Ebenfalls in Sichtweite zog sich der Schienenstrang der Tösstalbahn dahin. Wenn am Abend der Signalpfiff der Lok ertönte, wusste ich, dass mein Vater bald nach Hause kommen würde. Der Arbeiterzug brachte die Berufstätigen zurück in ihre Dörfer.

«Ist er mit dem Fahrrad oder zu Fuss?», fragte ich meine Mutter. Wenn Vater mit dem Velo am Bahnhof war, galt es, sich zu beeilen. Schnell die Schuhe anziehen. Widerwillig, weil es wertvolle Zeit kostete, schlüpfte ich in die Jacke.

«Zieh den Reissverschluss hoch», mahnte mich Mutter, «du erkältest dich!» Schon war ich weg, die Haustür hinter mir blieb offen. Bis zur Brücke durfte ich Vater entgegeneilen. Natürlich war ich zu früh dort. Ungeduldig hüpfte ich auf und ab, den Blick talabwärts gerichtet. Als er endlich auftauchte, rannte ich über die Brücke, um ihn zu empfangen. Er freute sich jedes Mal, wenn er mich sah. Er hob mich auf das Oberrohr, die Verbindung zwischen Lenker und Sattel des Fahrrades. Wie eine Prinzessin segelte ich durch den Weiler bis zu unserem Haus. Einige Meter vor dem Kellerabgang stieg Vater vom Rad und schob es, ohne den Lenker zu halten, in Richtung Treppe. Ich bildete mir ein, ganz ohne Hilfe weiterzufahren. Es kribbelte schon ein wenig, aber ich war voller Vertrauen. So wartete ich Abend für Abend auf ihn. Es kam aber vor, dass ich beim Spielen die Zeit vergass. Meine Brüder und die Nachbarskinder waren mit von der Partie, wenn wir ein neues Ballspiel erfanden, Wettläufe über die frisch gemähte Wiese veranstalteten oder mit dem Leiterwagen durchs Quartier ratterten. Jede Ecke war dann ein anderes Land. Ich war soeben in Italien ausgestiegen und musste warten, bis mich der hölzerne Bus wieder aufladen würde, da erschien am anderen Endeder Strasse, bei der Haltestelle Sahara, ein Mann. Er war zu Fuss unterwegs. Ohne zu überlegen rannte ich los und lief ihm geradewegs in die Arme.

«Wer begrüsst mich denn so stürmisch?» Die fremde Stimme schreckte mich auf. Es war nicht mein Vater, sondern der Onkel meiner kleinen Nachbarin. Eine gefühlte Ewigkeit später kam dann Vater nach Hause. Nach dem Essen kuschelte ich mich auf dem Sofa an ihn. Er las uns Geschwistern aus dem Buch «Onkel Remus erzählt» vor. Ich freute mich immer wieder auf die Geschichten und Streiche von Vetter Hase und Vetter Fuchs und ihren Freunden und Widersachern.

«Dann warfen sie die Schildkröte ins Wasser», vernahm ich und hielt den Atem an. Würde das arme Tier ertrinken? «Die Schildkröte lachte nur, denn im Wasser zu sein war für sie so angenehm wie für euch Kinder, im Bett zu liegen.» Ich atmete auf, aber gleichzeitig fand ich, es gebe schönere Orte als das Bett, besonders am Abend, wenn ich noch gar nicht müde war. So richtig anstrengend waren eigentlich nur das Zähneputzen und das Kleiderwechseln vor dem Schlafengehen. Zum Abschluss bettelte ich:

«Wirfst du mich ins Bett?» Der kurze Flug in die weichen Federn versöhnte mich mit dem Tag, und ich träumte von fernen Ländern und wilden Tieren.

Aprilschnee


Schnee liegt auf den blühenden Sträuchern, weiss auf weiss, welch seltsamer Anblick. Am Waldboden ducken sich Buschwindröschen und Schlüsselblumen unter dem nasskühlen Niederschlag. Ich kenne den Wald, seine vielfältigen Gesichter. Wie ein fremder Gast besuche ich ihn heute, betrete ihn von Süden her, durch die Hintertür, nicht aus östlicher Richtung, wie früher üblich.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Hier wollte ich wohnen, der Wald war zum Greifen nah und bot mir jederzeit die Gelegenheit, einzutauchen. Am Anfang war er mir fremd, auf eine freundliche Art. Ich fühlte mich von den knorrigen Eichen angezogen. Das Gelände ist flach, man sieht nur den Waldrand. Ich stamme aus einer Region mit hügeliger Landschaft, wo sich die Wälder an die Hänge schmiegen. An diesen neuen Anblick musste ich mich gewöhnen. Meine ersten Spaziergänge führten mich durch verschlungene Pfade, mit dem Kinderwagen, darin das kostbarste Geschenk, du – mein erstgeborenes Schätzchen. Es war Frühling, wandernd machte ich die unbekannten Wege zu meinen, zu unseren. Wir lernten einander kennen, du und ich, im Wald. Die Vögel zwitscherten, sogar der Kuckuck war zu hören. Manchmal weintest du, dann nahm ich dich in die Arme und wiegte dich. Wenn du Hunger hattest, setzte ich mich auf eine Bank, um dich zu stillen. Es gab nur dich und mich unter dem schützenden Blätterdach. Und jetzt bist du längst erwachsen, dein kleiner Bruder auch, und ich bin wieder frei. Frei? Vorbei sind die Freuden und Leiden des Familienlebens. Erleichterung und Trauer widersprechen sich in meiner Brust. Plötzlich rinnen Tränen über mein Gesicht, vereinigen sich mit kühlenden Schneeflocken. Es ist gut geworden, warum weine ich denn? Es wird diesen Zauber nicht mehr geben. Den Zauber, durch die Augen meiner Kinder die Welt neu zu entdecken. Die bittersüsse Ungewissheit über ihre Zukunft. Den Aufbau eines glücklichen Zusammenlebens. Es kommt nicht wieder. Es hat seine Richtigkeit. Und es tut weh. Sonnenstrahlen brechen durch. Es tropft von den Ästen. Die Erde dampft. Ich wische die Tränen weg.

Ich war eine Mutter


Vor meinem inneren Auge malen die Sonnenstrahlen einen breiten Streifen auf den Parkettboden, das lenkt den Blick in den Wintergarten, dahinter die Wiese voller Gänseblümchen. Ich bin da. Für meine Kinder. Drinnen. Draussen. In Gedanken. Ob ihnen das Essen schmecken wird heute Mittag? Ich knie nieder, nähere mich ihrer Welt, nehme ihren Rhythmus auf, die Ferne verschwimmt.

Ich bin eine Mutter.

Das Haus mit dem Buchenholzparkett habe ich verlassen. Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich habe meinen Kindern die Türen aufgetan, sie nach bedrohlichen Träumen in meine Arme genommen, sie voller Besorgnis zum Arzt gebracht, ihnen zugetraut, in die Welt hinauszutreten, und doch gefürchtet, dass sie nicht mehr heimkehren von ihren Abenteuern. Die Erinnerung an das sonnenbeschienene Buchenholz warf mich mitten in die Zeit, als ich glaubte, nie mehr etwas anderes zu sein als die Mutter meiner Kinder, voller Zuneigung, und manchmal doch die eigene Freiheit zurückersehnend. Jetzt ist es vorbei. Für uns alle hat sich ein neues Kapitel geöffnet. Es war das prall gefüllte Leben. Und jetzt?

Ort und Zeit


Wir sind umzingelt

Von Nachbarn, logisch

Seit Jahren und Jahrzehnten

Die Kinder wurden gross

Ihre Eltern alt

Wir auch, was soll’s

Die Kinder flogen aus

Die Haustiere gestorben

Oder entsorgt

Ruhe kehrt ein

Gespenstische Ruhe

Nach und nach

Sind alle pensioniert

Tüfels Chile


Das Postauto hält an. Wir steigen aus, jemand anders ein, sonst ist kein Mensch zu sehen. Am Sonntagmorgen liegt das kleine Dorf verschlafen in den letzten Nebelfetzen. Die Strasse führt talwärts. Das Schwimmbad – es war mir stets zu kalt, die wenigen Male, als ich es nach kurviger Bergfahrt mit dem Velo besuchte –, liegt halb im Wald, wir sehen es nicht. Die Saison ist vorbei, die Blätter der Buchen sind leicht angerostet, ihre Früchte vom nächtlichen Regen und Sturm auf dem Boden zerschlagen. Die Abzweigung ins Tobel lädt mich ein. Archaisch wird die Welt, sie nimmt mich auf, erfüllt mich mit Erinnerung und Gegenwart. Wie oft ich diesen Pfad betreten, wie oft davon geträumt. Weit unten schlängelt sich der Bach, noch hält er mich auf Abstand. Zu steil ist das Ufer. Er gurgelt, wispert, lockt. Alles da, ich öffne mich, noch schöner als gedacht, der Farn, die Nagelfluh, ein Sonnenstrahl durchbricht das Spiel der Blätter, lässt die braune Erde leuchten, die bald vom welken Laub bedeckt sein wird. Der Weg ist gut gepflegt, mich freut’s. Nach ausgedehnt beschwingtem Gang geht’s hinunter, senkrecht fast. Da braust er wie seit eh und je, der Wasserfall. Flink steige ich ins Becken, unterquere den silbernen Vorhang. Es dröhnt in meinen Ohren. Nur wenig weiter taucht der grösste Schatz des Waldes auf. Verborgen hinter Farn und Zweigen stürzen drei Fontänen auf moosiges Kalkgestein, das in Treppen geformt wie ein Trugbild sich aus dem Wald erhebt.

Bäntalbach


Da bist du ja, es ist lange her. Ich erkenne deine Stimme. Komm näher, zeig dich. Dekaden sind vergangen, seit du mich besuchtest. Ich habe dein jugendliches Gemüt genährt mit meinem Rauschen, Wispern, Tosen, mit Silberglanz im Sonnenspiel. Die Steine kullern aus der Nagelfluh mir zu, ich schicke sie auf die Reise. Mit Kalk verziere ich mein Bett, biete Unterschlupf den Fischen und den Larven der Köcherfliegen, die deine Fantasie beflügelten, noch ehe sie durch die Luft tanzten, ihrer Bestimmung und ihrem Ende entgegen. Davon ahntest du nichts. Du glaubtest, sie würden ihr Dasein in ihren filigranen Hüllen aus Kieselsteinchen...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
ISBN-10 3-7693-8192-0 / 3769381920
ISBN-13 978-3-7693-8192-4 / 9783769381924
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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