Die Inseln, auf denen ich strande (eBook)
224 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-4084-3 (ISBN)
Lucien Deprijck, Jahrgang 1960, ist ein belgischer, deutschsprachiger Autor und Übersetzer. Unter anderem übertrug er Werke von Mark Twain, Robert Louis Stevenson und Stephen Crane ins Deutsche. Bekannt wurde er mit seinen Romanen "Die Wälder der Verschollenen" und "Ein letzter Tag Unendlichkeit". Zuletzt erschien "Gott in den Tagen der Schöpfung".
4
Irgendwie kommt mir diese Bucht bekannt vor. Seltsam bekannt. Als wäre ich schon hier gewesen.
Doch das war ich nicht.
Es muss das südamerikanische Festland sein, wenn man den Berechnungen von Kapitän Nab glauben mag. Und der musste es doch wissen. Kapitän Nab, der jetzt auf dem Meeresgrund liegt. Das, was von ihm übrig ist.
Das hier ist eine halbmondförmige Bucht, an deren einem Ende eine Landzunge ins Meer ragt. Der ansteigende Strand besteht aus Geröll und Kies. Jenseits davon erhebt sich dichte Vegetation. Laubbäume. Ein Urwald gemäßigter Zonen. Die Kulisse hat nichts Subtropisches mehr, wir müssen weiter nach Süden geraten sein, als ich dachte. Über die Bäume hinweg sind Erhebungen zu sehen, ein Gebirge im Landesinneren. Nördlich – nach dem Sonnenstand zu urteilen – erheben sich Klippen, mit vorgelagerten Riffen. Südlich reihen sich Buchten aneinander, die Küstenlinie verliert sich in der Ferne.
Meine Sachen, Hose, Socken, Schuhe, sind völlig durchnässt von der Fahrt in dem halb vollgelaufenen Boot. Nur mein Pullover ist unter dem Ölmantel leidlich trocken geblieben. Der kalte Wind geht mir durch und durch, am Himmel treiben tief und dicht dunkle Wolken dahin.
Als Erstes versuche ich, das Boot an den Strand zu ziehen, aber weit komme ich damit nicht, es bleibt halb im Wasser liegen. Meine durchfrorenen Hände kann ich kaum vernünftig einsetzen, ich habe keinerlei Gefühl darin.
Dann ziehe ich Rodríguez aus dem Boot. Der sich auf See stundenlang nicht gerührt hatte. Beim Aufprall auf die Riffe hat er einen dumpfen Schrei vernehmen lassen. Danach habe ich ihn jammern hören, als das Boot langsam volllief und das kalte Wasser ihn umspülte. Seitdem hat er nur noch apathisch dagelegen, und auch jetzt, als ich ihn aus dem Boot hieve – unter äußerster Mühe, denn er ist viel schwerer als ich –, lässt er kaum eine Reaktion erkennen. Ich wuchte ihn auf den steinigen Strand, wo er unsanft der Länge nach hinplumpst, auf den Rücken. Unter der Kapuze des Südwesters kommt sein bärtiges Gesicht zum Vorschein. Es ist bleich, eher schon blau. Er rührt sich nicht, atmet nur schwer.
Ich ohrfeige ihn zaghaft, auf beide Wangen.
»Stirb mir jetzt bloß nicht weg!«, rufe ich.
Aber genau das tut er. Nach nur wenigen heftigen Atemzügen sackt er zusammen, mit einem ausladenden Stöhnen. Liegt dann still, mit nach hinten verdrehten Augen.
Seltsam, bis jetzt ist alles halb so schlimm gewesen, weil ich nicht alleine war. Nicht einmal das vollgelaufene Boot versetzte mich in Panik, weil wir bereits nahe der Küste trieben, die seit Stunden zu sehen gewesen war. Ich war zu angespannt und zu beschäftigt, um Angst zu haben. Ich war mir sicher, dass wir dieses Land erreichen würden, und dann konnten wir weitersehen. Gemeinsam. Rodríguez war stark, wirkte unverwundbar. Instinktiv hatte ich mich auf ihn verlassen, hatte einfach angenommen, dass er sich erholen würde, wenn wir erst aus dem Boot und dem kalten Wasser heraus waren.
Doch er, der Unverwundbare, ist tot, und ich bin derjenige, der noch lebt.
Jetzt umklammert mich die Verzweiflung wie ein physisches Phänomen. Ich hocke neben Rodríguez und ziehe sinnlos an den Aufschlägen seines Ölmantels herum. Dann blicke ich mich erneut um, betrachte den Strand, die Bäume, die Klippenwand, das Kap über den Baumkronen, und erst jetzt ist alles bedrohlich. Nicht die Spur einer Siedlung, diese Küste ist vollkommen verlassen.
Aber immer noch kommt mir die Bucht, die ganze Kulisse vertraut vor. Als erinnerte sie mich an irgendetwas.
Wenn ich jetzt die Nerven behalte, wird bald alles gut werden. Nab hatte SOS gefunkt und immer wieder die Position des Schiffes durchgegeben, kurz bevor es sank. Zweifellos wird man uns suchen, und mehr als einige Stunden können wir seit Anbruch des Tages im Beiboot nicht getrieben sein.
Vom Beiboot aus mussten wir zusehen, wie die Con Dios explodierte. Warum, wird mir vielleicht einmal irgendjemand erklären können. Vermutlich, nein, ganz offenbar war Wasser in den Maschinenraum eingedrungen. Explodieren Schiffe dann? Dieses tat es jedenfalls. Nicht in einem hollywoodreifen, gigantischen feurigen Knall, sondern mit einem dumpfen Puffen, woraufhin das ganze Schiff in dichtem Qualm aufging. Die Druckwelle hätte uns fast umgeworfen, so nah, wie wir dem Schiff waren. Die Schwaden hüllten uns augenblicklich ein. Ich hörte Rodríguez husten.
Kapitän Nab und drei Männer waren noch an Bord gewesen. Auf das gewaltige Puffen hin gab nichts mehr Aufschluss darüber, was aus ihnen geworden war. Wir riefen eine ganze Weile, aber ohne Ergebnis. Das Beiboot trieb davon. Eine Zeit lang versuchten wir es noch in der Nähe des qualmenden Wracks zu halten, doch dann sank die Con Dios immer tiefer in die Fluten, bis nur noch eine dampfende Stelle erkennen ließ, wo sie verschwunden war. Auch weitere Rufe blieben unbeantwortet. Trümmer trieben auf dem Wasser, aber es war kein Laut zu hören.
Jetzt ist Rodríguez tot, und ich bin ganz allein. Wenn ich wenigstens wüsste, woran er gestorben ist. Stellenweise war der Rauch sehr dicht, ich konnte Rodríguez nicht mal mehr sehen. Kann er so viel mehr von dem Qualm eingeatmet haben, dass er eine Rauchvergiftung bekam? Während ich mit einem andauernden Hustenreiz im Rachen und etwas Übelkeit davongekommen bin?
Ich weiß es nicht, und ich kann mich jetzt nicht lange damit beschäftigen. Ich muss die Sachen aus dem Boot holen, alles, was dort in der umherschwappenden Suppe schwimmt, die nassen Decken, die Konserven, die Blechbehälter mit Trockenfleisch. Und was es sonst noch gibt.
Ich muss Schutz suchen vor dem Wind. Muss ein Feuer in Gang setzen und die Sachen trocknen.
Wenn ich bloß wüsste, warum mir dieser Landstrich am Ende der Welt so bekannt vorkommt …
Drei Tage habe ich damit zugebracht, ein Notlager zu errichten und meine Sachen trocknen zu lassen, und ich bin die Küste entlang nach Süden gezogen, in der Hoffnung, auf irgendein Zeichen von Zivilisation zu stoßen.
Vier Buchten weiter wurde ich fündig. Dort gab es einen Landesteg für Boote und einige alte Container. Doch der Steg war halb verrottet, die hölzernen Pfähle dick mit Moos bewachsen, die Container rostig und offenbar dem Verfall überlassen. Weswegen auch immer man diesen Teil der Küste angelaufen hatte, es war lange her. Immerhin waren es Hinweise auf die Zivilisation, die ich suchte, und wenn ich weiterginge, würde ich wahrscheinlich andere und jüngere Spuren von Besiedlung finden.
Rodríguez’ Leiche habe ich den Strand hinaufgezerrt und mit Steinen bedeckt. Mehr kann ich nicht tun, zum Graben fehlen mir die Werkzeuge. In Büchern und Filmen geht so etwas immer per Schnitt, im Nu sind die Steine akkurat aufgeschichtet. Aber in Wahrheit ist es eine unendliche Plackerei. Die Steine zu finden, sie heranzuschleppen. Und wie viele es sein müssen, um eine Leiche ganz zu bedecken!
Aber ich konnte ihn doch nicht einfach so liegen lassen.
Ich habe versucht, die Klippen zu ersteigen, um mir einen Überblick zu verschaffen, wie die Küste im Norden weiter verläuft, doch der Aufstieg war überall zu steil, und ich musste es aufgeben. Stattdessen will ich nun ein Stück ins Landesinnere, an dem Wasserlauf entlang, der zwischen den Bäumen hervorkommt und in die Bucht mündet. Und der mich zunächst aller Sorgen um frisches Wasser entledigt. Obwohl ich ein Stück flussaufwärts gehen muss, weil das Wasser im Mündungsbereich brackig schmeckt.
Noch bin ich mit Nahrungsmitteln versorgt, auch mit Kleidung. Mein Rendezvous mit der bewohnten Welt hätte keine Eile. Trotzdem bin ich bestrebt, Auswege aus dieser Situation zu finden. Die Einsamkeit und die völlige Ungewissheit, wie es weitergehen und wohin ich mich am besten wenden soll, zerren an den Nerven. Also mache ich mich auf, zunächst den Flusslauf entlang und dann nach Norden, in die Richtung, in der sich das Kap erhebt. Von wo aus ich mir einen Überblick erhoffe, der Aufschluss darüber gibt, in welcher Richtung Städte oder kleine Orte existieren.
Der Weg ist jedoch sehr mühsam, führt durch Gestrüpp und sumpfige Abschnitte. Moskitos fallen über mich her, ich bin ununterbrochen damit beschäftigt, um mich zu schlagen. Es gibt stellenweise kaum ein Vorwärtskommen, und bald muss ich mich entscheiden, ob ich lieber umkehren oder weitergehen soll. Bei der zweiten Variante ist es fraglich, ob ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu meinem Lagerplatz zurückfinden werde.
Ich gehe weiter, in der Hoffnung, bald aufsteigendes Gelände zu erreichen und dem dichten Wald zu entrinnen. Viel schneller, als ich dachte, wird es dunkel, und mir bleibt nichts anderes übrig, als die Nacht irgendwo auf einem Lager aus Zweigen und Blättern zu verbringen, ein gutes Stück vom Bach entfernt, wo die Moskitos lauern.
Dennoch bin ich am nächsten Morgen ganz zerstochen, im Gesicht und an den Händen. Sehr früh, sobald zwischen den Bäumen Dämmerlicht erkennbar wird, breche ich wieder auf und kämpfe mich voran in Richtung Kap. Bald steigt das Gelände tatsächlich an,...
| Erscheint lt. Verlag | 31.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Abenteuer • Inseln • Schiffbruch • Stranden • Survival |
| ISBN-10 | 3-8192-4084-5 / 3819240845 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-4084-3 / 9783819240843 |
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