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Schwarz oder Weiß -  Maria Di Canali

Schwarz oder Weiß (eBook)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
264 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783819239953 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
(CHF 7,80)
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Immer wieder staune ich darüber, wie die Stärke und Widerstandsfähigkeit, die wir Menschen in uns tragen, sich oft erst in den dunkelsten Momenten offenbart: wenn alles stillzustehen scheint und doch jeder Schritt nach vorn unaufhaltsam notwendig ist. Mein Weg war nie geradlinig. Aus einer Kindheit, in der es mir äußerlich betrachtet an nichts fehlte und in der ich mir selbst einredete, glücklich zu sein, warf mich das Leben völlig unerwartet in einen Krieg und legte mir Prüfungen in den Weg, die mir alles abverlangten. Ich kam nach Deutschland, habe geliebt und verloren, das Scheitern meiner Ehe durchlitten und brach auf in ein fremdes Land, um das lebendige Sein zu kosten. Als ich glaubte, endlich angekommen zu sein, zerbrach die Liebe, die ich dort gefunden hatte, und ließ mich erneut taumeln. Schließlich kehrte ich nach Deutschland zurück, anfangs als Probezeit, aus der ein unbefristeter Vertrag mit meinem Leben wurde. Und dann, ganz unerwartet, fand mich die wahre Liebe.

Maria Di Canali wurde in Kroatien geboren und lebt heute in Deutschland. Als Künstlerin findet sie in der Malerei, Musik und vor allem im Schreiben ihren Ausdruck. Ihre - bisher unveröffentlichten - Geschichten sind geprägt von ihren Reiseerlebnissen und kreativen Impulsen. Mit ihrem Debütroman - Schwarz oder Weiß - betritt sie die literarische Bühne und lädt ihre Leser und Leserinnen ein, in eine facettenreiche Welt voller Emotionen und Inspiration einzutauchen.

Meine Noten nehme ich mit


Es war wenige Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag, Anfang Oktober 1991. Ein paar Jungs aus dem Dorf kamen und riefen: „Ihr müsst schnell weg! Die Tschetniks sind einmarschiert und kommen auf uns zu.“ Die Grenze zu Montenegro und auch Bosnien und Herzegowina war nicht weit weg von uns, nur dreißig Kilometer etwa.

Wir hatten die Detonationen zwar schon den ganzen Morgen gehört, haben aber nicht glauben können, dass es doch so weit kommen würde. Und tatsächlich, als wir aus den Fenstern unseres Hauses übers Feld blickten, sahen wir, wie die Angreifer unser Tal mit Bomben und Granaten beschossen.1

Es war unfassbar für uns und geradezu surreal, als wären wir plötzlich zu Statisten in einem Kriegsfilm geworden. Ich schaute wie erstarrt aus dem Fenster unseres Salons und beobachtete, wie die Granaten beim Aufprall auf den Boden wie bei einem Vulkanausbruch Erde und Weinreben in die Luft schleuderten. Die Jungs schrien: „Beeilt euch, fahrt in die Nachbardörfer! Hier seid ihr nicht mehr sicher!“

Wir bekamen die Anweisung, unsere Häuser zu verlassen und umliegende Gemeinden oder ein nahe gelegenes Hotel mit einem bombensicheren Bunker aufzusuchen.

Es war Sommer, wir hatten keine Ahnung, was wir mitnehmen sollten. Wie denn auch? Man kann sein Haus nicht mitnehmen, dachte ich. Aber man braucht alles, was man in seinem Haus hat! Ich hatte Angst, dass womöglich eine Bombe alles zerstören würde. Also fing ich an, die Dinge, die mir besonders wichtig waren, aus meinem Kleiderschrank herauszusuchen. Auch meinen geliebten Walkman, auf dem ich Kassetten abspielen konnte. Meine Mutter mahnte mich: „Bring bloß nichts durcheinander, alles ist so gut einsortiert. Und die Stapel mit der Winterkleidung brauchst du sowieso nicht durchzusehen, so kalt wird es selbst im Bunker jetzt im Sommer nicht sein. Am besten lässt du alles, wie es ist. Außerdem gibt es im Hotel bestimmt Kinder, die nicht solche schönen Dinge haben wie du, und dann ist es ihnen gegenüber nicht fair, wenn du deinen Walkman dabeihast. Wir kommen sicher bald wieder zurück.“

Mein Geburtstagsgeschenk war eine Musikanlage gewesen. Ich hatte sie wieder in ihren Karton eingepackt und mit einer Decke umhüllt unter den Tisch gestellt, um sie zu schützen. Diese Anlage war zu groß, um sie mitzunehmen. Natürlich. Auf eins wollte ich aber auf keinen Fall verzichten: Ich hatte Noten für das neue Schuljahr im Musikgymnasium bei meiner Tante Marija, die in Deutschland lebte, bestellt und sie gerade geschickt bekommen. Also nahm ich einen Jagdrucksack meines Opas und steckte die Notenhefte hinein. Der Rucksack lastete schwer auf meinem Rücken, ich schleppte ihn mühsam zum Auto. Damals konnte ich nicht ahnen, wohin er mich überall begleiten würde.

Mit einem letzten Blick streifte ich die fünfzehn weißen Anthurien in der Vase auf dem Tisch, die mich an meinem Geburtstagsmorgen begrüßt hatten. Sie zurückzulassen, berührte mich aus irgendeinem Grund besonders. Wir verließen das Haus meines Opas in Flip-Flops und T-Shirts, meine Oma Maja fütterte noch die Hühner, damit sie bis zu unserer Rückkehr am Abend genug zu picken haben würden. Falls es ein bisschen später werden würde. „Ein paar Stunden nur, bis der Angriff vorbei ist. Dann kommt ihr zurück!“, hatten die Jungs uns beruhigt.

Meine Mutter, die Oma und ich stiegen ins Auto, mein Opa weigerte sich: „Ich gehe nicht hier weg! Niemand vertreibt mich aus meinem Haus, keiner kann mir was! Wo soll ich denn hin?“ Er wollte unbedingt bleiben. Wir fuhren einige Meter und besannen uns dann: „So geht es nicht. Wir können Opa hier nicht alleine zurücklassen!“ Die jungen Männer, die zur Verteidigung des Dorfes die Stellung halten sollten – meine erste Mädchenliebe war unter ihnen, und ich hatte mich gefreut, ihn ein paar Minuten zu sehen –, redeten meinem Opa zu: „Luka, ihr müsst jetzt alle weg!

Es ist hier nicht sicher, die Tschetniks sind in Kürze bei uns im Ort! Ihr könnt darauf vertrauen. Ihr kommt wieder und könnt zurück in eure Häuser! Wir überlassen den Angreifern nichts!“

Die politischen Auseinandersetzungen, die diesem Krieg vorausgingen, hatten wir natürlich schon längere Zeit in den Nachrichten verfolgt. Wir wussten, dass es in Nordkroatien bereits zu militärischen Angriffen gekommen war. Doch niemals hätten wir gedacht, dass die Situation solch ein Ausmaß annehmen würde. Unten im Tal hatten wir schon Tage zuvor die ersten Bomben explodieren gehört. Wir hatten uns nächtelang in den verschlungenen und tiefliegenden Katakomben unseres alten Steinhauses versteckt. Auf Anweisung des Krisenstabs waren alle Nachbarn zu uns gekommen, die selbst keine sicheren Keller hatten. Mein Opa hatte einige Holzbretter montiert, auf denen wir alle sitzen und schlafen konnten. In der Ferne sahen wir durch den Innenhof oben am Himmel immerzu die Leuchtraketen über unsere Terrasse fliegen. Ich konnte die verschiedenen Typen und auch ihre Entfernung am Klang sehr schnell sicher unterscheiden. Eines Abends hatte ich es nicht mehr ausgehalten, ich sagte: „Ich kann nicht mehr, ich muss wieder eine Nacht im Haus verbringen!“ „Dann gehen wir beide nach oben ins Schlafzimmer“, tröstete mich mein Opa, „ich brauche auch mein bequemes Bett.“ Meine Mutter bremste uns: „Nein, das könnt ihr nicht machen, das ist zu gefährlich!“ Aber ich war sicher: Mit meinem Opa passiert mir nichts! Ich wusste, ich musste einfach in mein Bett und schlafen. Wir huschten über die Terrasse nach oben, mein Opa beschützte mich. Mit ihm zusammen hatte ich keine Angst.

Tagsüber erzählten meine Großeltern und ihre Freunde Kriegsgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Erinnerungen daran wurden leider wieder sehr wach, und wir Kinder hörten aufmerksam und mit Spannung zu. Sogar in dieser Situation kamen uns die Erzählungen der Ältesten wie unwirkliche Abenteuergeschichten vor. Dabei waren wir selbst mittendrin im Krieg. Aber wir alle konnten nicht wirklich glauben, dass es dermaßen eskalieren und kriegerisch werden würde.

Nun befanden wir uns unerwartet auf der Flucht und standen in einer riesigen Autokolonne. Natürlich, denn jeder um uns herum versuchte, möglichst schnell wegzukommen. Um Zeit und einen Vorsprung zu gewinnen, fuhren wir erst einmal ins Nachbardorf. Der Motor des alten Wagens röhrte verzweifelt, während das Fahrzeug über die zerklüftete Straße holperte, die mittlerweile von Granatenkratern übersät war. Es war ein Auto, das schon in seinen besseren Zeiten mehr Staub als Geschwindigkeit verursacht hatte, doch an diesem Tag schien es alles zu geben, als wäre auch die Maschine von einem Überlebenswillen angetrieben. Ich saß auf dem Rücksitz, eingekeilt zwischen meiner Oma und dem Rucksack mit meinen Noten, der hastig zusammengeschnürt worden war. Die Luft im Wagen war stickig vor Angst und Enge, aber niemand wagte es, ein Fenster zu öffnen – zu groß war die Gefahr, dass der Funke eines Geschosses uns treffen würde. Rundherum schlugen die Granaten ein, die von Bombern aus der Luft abgeworfen wurden, Artilleriefeuer war in der Nähe zu hören, ganz plötzlich waren wir im Zentrum eines Infernos.

Nie werde ich dieses Bild vergessen: Meine Mutter saß am Steuer, die Hände so fest um das Lenkrad geklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Augen blickten starr geradeaus, als könnte sie allein durch Willenskraft die Straße vor uns stabil halten. Neben ihr, auf dem Beifahrersitz, kauerte mein Opa, seine Schultern angespannt, sein Blick ebenso wachsam und auch verwundert, als würde er nach Erklärungen für das suchen, was sich unseren Augen darbot – und sie nicht finden. Er war still, wie er es immer war, wenn die Dinge sich zum Schlimmsten wendeten, doch die Spannung in seinem Unterkiefer verriet, wie viel es ihn kostete, Ruhe zu bewahren.

Ich drückte mich eng an meine Oma und spürte ihre zittrige Hand, die schützend auf meinem Knie lag. Draußen heulten die Sirenen, und irgendwo in der Nähe detonierte eine Granate. Der Einschlag ließ die Scheiben zittern, als wolle die Explosion sie von innen zerreißen, und der Wagen sprang für einen Moment wie ein Esel auf der Straße hoch.

„Bleib auf dem Asphalt!“, rief mein Opa, während meine Mutter das Lenkrad herumriss, um einem Krater auszuweichen, der plötzlich wie ein Schlund vor uns aufgetaucht war.

Einer der Granatenblitze, die in der Nähe einschlugen, war uns so nah, dass ich meinte, die Hitze auf meiner Haut zu spüren. Ich biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. „Alles wird gut, mein Kind“, versuchte mich die Oma zu beruhigen, obwohl ihre Stimme bebte. Sie drückte mich an sich, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass es mehr ein Trost war, den ich der Großmutter gab, als umgekehrt.

Der Wagen roch nach heißem Gummi, nach Angst und nach den verbliebenen Düften eines Lebens, das wir zurücklassen mussten – das Parfum meiner Mutter, das sich schwach in die Polster gefressen hatte, und der Pfefferminzgeruch,...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-13 9783819239953 / 9783819239953
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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