Nur Asche, die blieb (eBook)
278 Seiten
NOVUM VERLAG
978-3-7116-0399-9 (ISBN)
Kapitel 1
Zuvor
17. November 2024
Das Leben zog an ihm vorbei. Mit Warnrufen und Feuerwerk, Sirene und Fahnen überrundete es ihn, und irgendwie verpasste er selbst das, dieses endgültige Überholtwerden. Den Moment, in dem seine Entscheidungen eben nicht mehr ganz die eigenen waren.
Einar Steinberg wusste, dass es sich gerade eine Ehrenrunde leistete, das Leben, das mehr seines war als alles andere und das sich doch so fremd anfühlte, während er es vor seinem inneren Auge davonsprinten sah. Der aufgewirbelte Staub verklebte ihm die Wimpern.
Sein Leben zog also an ihm vorbei. Nahm seine Entscheidungen, Taten und verblüfften Blick mit, und so wusste der alte Mann nicht, wie er plötzlich in den Bus gekommen war. Da war nur ein Gedanke hinter seiner Stirn: Endlich nach Hause.
„Hören Sie mal, ohne Fahrkarte darf ich Sie hier nicht einsteigen lassen!“ Einige Tropfen Spucke flogen mitsamt dem strengen Tonfall der Fahrerin an die Trennscheibe aus Plastik, begleitet von einer Stimme, die eher müde als verärgert klang. „Dann müssen Sie wieder aussteigen, ohne Fahrkarte.“ Er sah sich um. Trübe Augen blickten in die der wartenden Passagiere. Was noch mal wollte die?
„Was? Ich will bitte nach Hause fahren.“ Seine Socken waren wohl in der feuchten Wärme des Zimmers geblieben.
„Aber ganz sicher nicht ohne Ticket! Hören Sie, ich …“
Das also war es gewesen. Hätte sie auch gleich sagen können, dachte Einar. „Junger Herr, zählen Sie doch mein Kleingeld ab, bitte.“ Das viele Rotgeld schepperte leise und erwartungsvoll in seiner Hand, als er sich zu dem Fahrgast drehte, der der Fahrerkabine am nächsten saß.
„Dafür haben wir aber wirklich keine Zeit, ich habe hier einen Plan zu befolgen.“ Wieder die Busfahrerin.
„Sechs Euro achtundsiebzig haben Sie noch.“ Er lächelte, nickte kurz.
„Sechs Euro achtundsiebzig, bis wohin komme ich da?“
„Für sieben bis an den Bahnhof, ohne Rückfahrt. Den ganzen Tag habe ich nicht Zeit.“ Die Tippgeräusche der Fahrerin auf dem Display waren bis zum Ende des Fahrzeuges zu hören.
„Aber zum Bahnhof will ich gar nicht.“
„Also das ist dann wohl Ihr Problem. Dann eben Innenstadt.“ Erneutes Tippen. Die langen Fingernägel kratzen, klackerten, klopften an der Kasse.
„Danke.“ Er schlurfte samt Gehstock, fünfzig Cent Rückgeld und verschatteten Augen zu einem freien Platz. Der Bus fuhr mit einem Ruckeln an, noch bevor er sich setzen konnte. Er fiel auf den Sessel mit diesem seltsamen, deprimierenden Muster. Innenstadt also.
„Ich weiß es nicht, Papa.“ Der Junge hatte einen Schulranzen auf dem Schoß. Das Grün biss sich mit dem Muster der Sitze. Er trug einen Ausdruck der müden Verzweiflung auf dem Gesicht. Zusammengezogene Augenbrauen und zerbissene Unterlippe. „Ich will auch gerade gar nicht.“
„Was soll das denn heißen, du weißt es nicht?“
Das Kind zuckte die Schultern, sah kurz aus dem Fenster, wieder hoch zu seinem Vater und begann dann, an der Schnalle seines Ranzens herumzuspielen.
„Was das heißen soll, hab` ich gefragt.“ Donner-gleich knallte die Stimme des Mannes hervor. Er bekam keine Antwort, wieder nicht. Stattdessen fing das Kind an, an seiner zerbissenen Unterlippe zu zupfen.
Einar versuchte, wegzusehen. Er bemühte sich wirklich. Immer wieder aber fanden seine Augen den Weg zu denen des Jungen, der überall hinzusehen schien, eben nur nicht ins Gesicht seines Vaters.
„Dass ich es eben nicht weiß“, erwiderte er schließlich. Seine Unterlippe schien zu bluten, jedenfalls hatte er mit einer Grimasse von ihr abgelassen. „Außerdem hat die Lehrerin gesagt, dass …“
Kurze Pause. Aber da kam nichts mehr, der Satz blieb angefangen und nicht zu Ende gebracht zwischen den Sitzen kleben. „Da gibt es ja auch nichts zu wissen!“, spie der Mann schließlich.
Das Kind zuckte mit den Schultern. Wieder: Fenster, Vater, Blick abwenden. Es hatte angefangen, sich immer und immer wieder am Hals zu kratzen. Einar bemerkte, dass die Stelle sich bereits hummerrot färbte.
„Du sollst mir nur vorlesen, was da steht!“ Beschämt sah der große Mann sich um. Erst Richtung Busfahrerin, dann nach hinten, sodass Einar sich gezwungen sah, den Blick auf seine Schuhe zu richten. Der Mann trug eine orangefarbene Krawatte, das hatte er noch erkennen können. Und riesige Hände hatte er, die gefaltet über dem Griff der Ledertasche kauerten. „Das kann doch nicht so schwer sein“, meinte er dann, mit ruhigerer Stimme.
Höchstens dritte Klasse, dachte Einar. Eher in der zweiten vielleicht. Er seufzte leise. In seinem Bauch spürte er ein seltsames Brennen. Herunterschlucken, bloß herunterschlucken, genauso wie die Gedanken an seinen eigenen Vater.
„Jetzt mach schon, Junge, was soll das denn?“, zischte der Mann. Noch mal drehte er sich, wand seinen langen, schmalen Rücken. Einar senkte abermals den Blick.
Flora und Ines tanzten durch seine Gedanken und dass sie niemals Probleme in der Schule hatten. Niemals, auch an der Universität nicht. Ein Lächeln breitete sich in seinem Brustkorb aus, während er an seine Töchter dachte. Wenn es auch nicht sein Gesicht erreichte, so war es doch Grund für einen zeitweise gleichmäßigeren Atem. An seine eigene Schulzeit aber …
„Doch.“ Ganz klein war die Stimme des Jungen, mäanderte aber dennoch durch den ganzen Bus, prallte an der hintersten Scheibe wieder ab, um dem Vater mit voller Wucht an die Stirn zu schlagen.
Was dieser nun sagte, konnte Einar nicht verstehen. In Zeitlupe wechselte das Gesicht des Mannes erst von Irritation zu Wut. Sein Mund bewegte sich wie die Schnauze eines Tieres, rot aufblitzendes Zahnfleisch über viel zu weißen Zähnen. Spuckefetzen flogen an seinem Sohn vorbei gegen die Scheibe. Dieser sah ihn immer noch nicht oder eben nicht mehr an, sondern blickte nur auf seine Hände, die immer weiter am Schulranzen nestelten. Nur von ihm abließen, um am dünnen Hals zu kratzen.
In Einars Ohren rauschte es, und er atmete bewusst langsam ein und wieder aus. Feuer in seinem Bauch, das ihm Lunge und Zwerchfell verbrannte. Er krallte sich am Sitz fest. Er wollte die Augen öffnen und dem Mann etwas sagen. Irgendwas, vermutlich, dass es die Tränen seines Sohnes nicht wert waren. Oder aber, dass seine Wut nichts bringen würde, gar nichts, vermutlich nur das Gegenteil von dem, was er sich für sein Kind wünschte.
Aber seine Lider hoben sich nicht. Langsam drang die Stimme des Vaters wieder zu ihm durch. Schwärze vor seinen Augen.
1. Wahrheit
Als sie ins Zimmer B 011 trat, war Einar sich vollkommen sicher: Das war die Frau, die er einmal heiraten würde. Hellblondes Haar hatte sie, das bis zur Taille fiel, und dunkelbraune Augen, die ihn direkt an ein übervolles Honigglas denken ließen.
„Setzen Sie sich ruhig, wohin Sie wollen.“ Der Lehrer der Abendschule lächelte ihr aufmerksam zu und deutete auf den beinahe leeren Raum. Außer Einar hatten sich nur sechs weitere Lernwillige eingefunden. Während die junge Frau sich in der letzten Reihe hinter einem Berg von mitgebrachten Büchern versteckte, fiel Einar auf, dass er ihren Namen verpasst haben musste.
„Seien Sie bitte nett zu Frau Holley. Wenn wir Glück haben, wird sie uns öfter mit ihrer Anwesenheit beehren.“ Einar drehte sich um und konnte gerade noch erkennen, wie sie dem Lehrer ein schüchternes Lächeln schenkte.
„Gut, also machen wir weiter, wo wir gerade aufgehört haben.“
Es kostete Einar kaum Überwindung, nach der Stunde auf seine neue Leidensgenossin zuzugehen. „Und, viel langweiliger geht es nicht, oder?“ Er setzte sich auf ihre Tischkante und hoffte inständig, dass es müheloser aussah, als es sich anfühlte.
„Wie bitte?“
Er lächelte und spannte den Bauch an, um nicht vom Tisch zu kippen. „Ich fürchte, ich habe vorhin deinen Namen verpasst. Ich bin Einar.“
„Louise. Hi.“ Sie sah zwischen einigen Haarsträhnen hervor, hörte aber nicht auf, hektisch ihre Bücher einzupacken. „Ich fand die Stunde ziemlich gut.“
„Das muss die Motivation der Anfängerin sein.“ Er fuhr sich durch die Haare und bemühte sich, nicht zu laut zu lachen. „Ich habe die Hausaufgaben schon seit Wochen nicht mehr gemacht.“
„Wenn du meinst.“ Sie drehte sich von ihm weg, als sie ihren kirschroten Schal über die Schultern warf.
„Und der Prof ist auch nur ehrenamtlich hier, der gibt sich nicht mal Mühe.“ Einar bemerkte, dass er ins Plappern kam. Als er den Mund ruckartig schloss, klackten seine Schneidezähne aufeinander.
„Also ich arbeite ehrenamtlich im Tierheim.“ Als sich Louise ihm abermals zuwandte, sah er, dass sie ebenfalls rotfarbene Ohrstecker trug, die die Form von kleinen Herzen hatten. „Und ich gebe mir da sehr viel Mühe.“ Mit ihren blassen Händen malte sie Anführungszeichen in die Luft,...
| Erscheint lt. Verlag | 23.7.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Neckenmarkt |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Belletristik • Krimi • Luna Marie Schmidt • Spannung |
| ISBN-10 | 3-7116-0399-8 / 3711603998 |
| ISBN-13 | 978-3-7116-0399-9 / 9783711603999 |
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