Tagebuch eines Verrückten (eBook)
250 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-9026-8 (ISBN)
I
Mit verschwitztem Körper wachte ich in jener
dunklen Stunde auf,
die mich an den Werdegang des Schreis erinnerte.
Wieso schrie er?, fragte ich mich.
Warum konnte er nicht lächeln?
Seine gespenstische Erscheinung erinnerte mich
an die dunklen Dämonen meiner nächtlichen
Widersacher.
Er wirkte zugleich zerbrechlich und erschrocken.
Sag, werter Freund –
weshalb stößt du so viel Angst aus dir heraus?
Welcher Teil deiner Seele tut weh?
Was hast du gesehen?
Warum verschränkst du deine Arme vor deinem
Gesicht
und schaust, als würdest du jemanden suchen?
Vermisst du jemanden –
oder hast du etwas entdeckt?
Obwohl du stumm in der Ewigkeit eines Gemäldes
gefangen bist,
höre ich deine schmerzhaften, gottverlassenen Töne.
Oh, mein armer Freund,
welch bemitleidenswertes Wesen du doch bist.
Du stehst auf einer wackligen Brücke,
die kurz vor dem Einsturz steht.
Wäre ich nur bei dir,
ich würde deine kalten, grauen Hände in meine legen
und dir einen Kuss auf die Stirn geben.
Ich wünschte,
ja – ich wünschte, ich wäre bei dir.
Du wirkst so einsam.
Vielleicht könntest du auch
die Einsamkeit meiner Seele spüren.
Sag – verspüren wir dieselbe Art von Einsamkeit?
Sind wir Brüder des Einsamen
und können nur wir einander trösten?
Ich will in die Leere deiner Augen blicken
und darin den stillen Drang der Freiheit erkennen,
der sich hinter ihnen verbirgt.
Gern würde ich dich in dieser Stunde umarmen
und dich in meine Welt hineinziehen.
Du könntest das Leben
in einer anderen Dimension kennenlernen.
Doch bedenke, werter Freund:
Einsamkeit ist dimensionslos.
Sie bohrt sich in dein Fleisch,
bis sie sich zur Genüge ernährt hat.
Verstehst du, von welcher Einsamkeit ich spreche,
mein leidender Bruder der Ewigkeit?
Jene Einsamkeit,
die ich in meinem Herzen trage.
Die Einsamkeit,
die Länder einstürzen lässt
und den Hass dieser Welt
durch ihren kalten Atem nährt.
Ich spreche von der Einsamkeit,
die selbst dem Bösen einen Schreck einjagt –
eine tiefe, dunkle Einsamkeit,
die wie ein grau-schwarzer Schleier
die Seelen und Körper der Menschen umhüllt
und nie wieder loslässt.
Diese Einsamkeit
ist die grausamste aller Einsamkeiten.
Sie reden mit dir
und lassen dich nicht mehr los.
Sie flüstern dir unerträgliche Dinge ins Ohr
und greifen dich in deinen schwächsten Momenten
an.
Sie warten am Bettende wie Dämonen,
schauen dir beim Einschlafen zu
und wecken dich mit einem grässlichen Lächeln.
Das Tragische an dieser Einsamkeit ist,
dass du sie als Notwendigkeit deiner schöpferischen
Kraft ansiehst.
Sie halten deine Hände beim Schreiben.
Sie halten deine Mundwinkel beim Lächeln.
Und – viel schlimmer noch –
sie umarmen dich, nachdem sie dich zerstört haben.
Sie ist paradox – und klar zugleich.
Diese Einsamkeit lächelt,
und sticht mit unsichtbaren Klingen in deinen
weichen Körper.
Deine Seele muss rennen.
Denn wenn sie dich einmal erwischt,
verbreitet sie ihr Gift –
und deine Seele vergraut.
Graue Seelen aber
sind wie schwere Steine beim Tragen.
Schwer kommst du hoch –
denn sie wiegen wie Tonnen.
Essen kannst du nicht.
Denn diese Felsen stecken in deinem Hals
und nehmen dir jeden Appetit.
Schlafen kannst du nicht.
Denn jene Steine ziehen dich zu Boden,
wollen dich durch stählernen Beton zerreißen.
Im Inneren breiten sie sich aus,
wollen dich vierteilen.
Selbst lächeln kannst du nicht.
Denn kleine, unscheinbare Kiesel
verstecken sich in deinem Mund
und ziehen deine Winkel nach unten.
Dein Rücken wird krummer und krummer.
Denn diese Steine sind verführerisch.
Sie sagen dir,
dass sie getragen werden wollen.
Und du, armer Freund –
du wirst sie tragen.
Denn sie sind Meister des Wortes.
Und wenn du nicht zuhörst,
weil deine Angst zu laut ist,
reißen sie dir die Ohren heraus
und schreien dich an –
bis du sie aus Machtlosigkeit tragen wirst.
Verstehst du mich?
Dann höre mir zu.
Sei vorsichtig, werter Freund.
Du musst rennen,
wenn du eines dieser Monster erkennst.
Renn – so schnell du kannst.
Und lass dich niemals verführen
vom Weibe der Einsamkeit.
Sie wird dir schöne Dinge
in dein ahnungsloses Ohr flüstern:
„Ich liebe dich.“
„Ich bleibe für immer bei dir.“
„Keiner bedeutet mir so viel wie du.“
Und plötzlich merkst du,
dass du gefangen bist.
Sie umschlingt dich wie eine Kobra,
und ihr Biss ist verführerisch.
Du glaubst,
diese scharfen Zähne berühren deinen Leib aus Liebe.
Nichts könnte der Wahrheit ferner sein,
mein ärmster aller Freunde.
Dieser Biss raubt dir
den Geschmack und die Farbe deiner Seele.
Oh Freund,
wie leid du mir tust.
Verschwinden möchte ich
in deinen orange-roten Nachthimmel
und Gott entgegentreten.
Gibt es einen Gott in deiner Welt –
oder bist du wie ich:
nur ein irrender Gefangener
im absurden Spiel des Lebens?
In meiner Welt
stehe ich meinem Gott nicht sehr nahe.
Er redet selten mit mir.
Ununterbrochen verspüre ich eine Schuld ihm
gegenüber.
Ich weiß nicht,
ob er mich hasst –
oder etwas von mir erwartet.
Ehrlich gesagt:
Ich wüsste nicht einmal,
was ich ihm schulde.
Was will er nur von mir?
Er hat mir das Leben geschenkt –
und nun soll ich den Weg gehen,
den er mir geebnet hat?
Aber warum hat er mich in diese Welt geschickt,
wenn er wusste,
wie ich enden würde?
Warum schenkt er ausgerechnet
Selbstmördern das Leben –
oder gar Mördern?
Welchen Sinn verfolgt mein Gott,
wenn Mörder und Seelenschänder
in diese Welt hineingeworfen werden?
Ich kann ihn nicht verstehen.
Es ist,
als spiele er Schach gegen sich selbst –
und verliere absichtlich,
um Außenstehenden eine Lektion zu erteilen.
Doch was ist die Lektion, Gott?
Was willst du uns sagen?
Dass das Leben heilig ist?
Dass jedes Leben –
so erbärmlich, so verlassen es auch sei –
würdig ist,
geliebt und angenommen zu werden?
Werter Freund,
erkennst du diesen Konflikt?
Erkennst du meinen Zwiespalt mit Gott?
Und er schweigt.
Wie soll ich gegen eine Wand antworten?
Ich bin wie ein Künstler,
der weiße Leinwände mit weißer Farbe bemalt.
So sehr und so oft ich mich auch anstrenge –
keiner erkennt meine Spuren.
Lassen wir das Thema ruhen.
Mein Herz blutet,
wenn ich mit ihm rede –
und viel Blut besitze ich nicht.
Ich bin ein dürrer, armer, zerbrochener Mensch.
Folglich –
um meinen Schmerz lindern zu können –
beantworte mir:
Was ist schlimmer?
Zu leben wie Vieh,
mit dem Tod als treuem Gefährten an der Seite –
oder seinem einsamen Atem nachzulaufen
und daran zu sterben?
Ich würde Letzteres wählen.
Warum, fragst du sicherlich?
Nun denn, werter Freund –
ich verrate es dir.
Was bringt es dir,
ahnungslos in die Sterne zu schauen,
wenn du dabei den Zauber des Lebens verfehlst?
Richtig: Nichts.
Du schaust in die Sterne –
und sie antworten dir nicht.
Du kannst nicht mit ihnen träumen,
sie nicht umarmen
und nicht auf einer weiteren Seinsebene lieben.
Das Strahlen deiner Augen
wäre einzig das Lichtlein deiner eigenen Dummheit.
Nur ein törichter Verschwender des Lebens
würde eine solch dumme Wahl treffen.
Lieber leide ich
mit voller Bewusstseinsebene,
als wie ein halbtoter Idiot
das Leben als billige Wiederholung
tragischer Filme meiner Vorfahren zu sehen.
Wir wurden geboren,
um uns selbst zu zerstören.
Denn:
Schönheit muss sich eines Tages selbst zerstören,
damit wir auf ewig in den Köpfen anderer weiterleben
können.
Ich glaube, du verstehst nicht,
was ich damit sagen möchte.
Nun –
du schreist.
Und zersplitterst deine Seele.
Ab diesem Moment entsteht etwas Größeres.
Etwas Göttliches.
Du hast den inneren Teil –
jenes kosmische Etwas,...
| Erscheint lt. Verlag | 21.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
| Schlagworte | Existenzkrise • innere Zerrissenhei • Lyrik • Melancholie • Poesie |
| ISBN-10 | 3-8192-9026-5 / 3819290265 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-9026-8 / 9783819290268 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich