Lichterträume und Kirschblütenwälder (eBook)
140 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-3999-1 (ISBN)
EINS
„TOKIO – NEON AUS GLAS“
Tokio schlief nie, aber es vergaß oft zu atmen. Die Straßen glänzten feucht von einem leichten Nieselregen, der wie ein Schleier über dem Asphalt hing. In der Ferne flackerte das Licht eines Automaten, der kalten Kaffee versprach, als wäre er Trost.
Koji Murakami saß im Führerstand der letzten U-Bahn des Tages, Linie H4, westwärts. Es war seine Stammstrecke – Shinjuku bis Kichijoji, jede Station ein vertrauter Puls in der immer gleichen Nacht. Die Kontrolle war beruhigend. Hebel, Anzeigen, Schienen. Kein Spielraum für Chaos.
Draußen zogen Schatten an den Fenstern vorbei. Hier unten gab es keine Tageszeiten, nur Beton und Neonreflexe. Die Welt an der Oberfläche war längst nicht mehr seine.
Er blickte in den Rückspiegel zur letzten Waggontür. Drei Passagiere, stumm, versunken in ihre leuchtenden Bildschirme. Und dann sah er sie.
Sitzplatz links, Reihe drei.
Langes, schwarzes Haar. Blass, wie aus Licht geschnitten. Ein Profil, das ihn traf wie ein Stromschlag. Yuna.
Sein Herz stockte. Das konnte nicht sein. Nicht hier. Nicht jetzt. Er rieb sich die Augen, fuhr sich über das Gesicht. Als er wieder hinsah, war sie immer noch da. Kopf gesenkt. Kopfhörer. Blick ins Nichts. Und doch: dieselbe Art, die Finger in den Schoß zu falten. Dasselbe kleine Muttermal am Hals.
Der Bordfunk rauschte, als würde die U-Bahn selbst atmen. Koji tastete nach dem Mikrofon, sagte nichts. Die Anzeige zeigte die nächste Station: Kugayama.
Doch da war ein Fehler. Kugayama war seit sechs Jahren geschlossen – ein Umbau, nie abgeschlossen. Kein Halt mehr. Keine Ein- oder Ausstiege. Nur leere Gleise und vergessene Pläne.
Die Bahn verlangsamte, bremste sanft. Ein rotes Licht blinkte.
„Automatischer Zwischenstopp. Signalstörung.“
Die Tür öffnete sich trotzdem. Kurz. Wie ein Flüstern.
Die Frau sah auf. Ihre Augen trafen seine im Spiegel. Und lächelten.
Dann – Dunkelheit. Die Lichter flackerten, der Zug vibrierte. Als sie wieder angingen, war der Platz leer. Kein Geräusch. Kein Schritt. Keine Spur.
Koji stand auf, öffnete die Tür zum Fahrgastbereich. Niemand hatte sie bemerkt. Niemand hatte sie gesehen. Die anderen Passagiere wirkten unverändert, wie eingefroren im digitalen Nebel ihrer Bildschirme.
Er ging zurück, setzte sich. Hände am Steuer. Tunnel voraus.
„Das war nicht Yuna“, sagte er laut.
Aber seine Stimme klang nicht überzeugt.
Am nächsten Morgen stand Tokio in einem milchigen Licht. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel blieb grau, als hätte jemand die Farben vergessen. Koji war früh wach, wie immer. Die Jahre hatten ihm einen inneren Wecker eingepflanzt, präziser als jeder Alarm.
Er kochte Kaffee, obwohl er ihn kaum trank. Der Geruch war ein Ritual. Sicherheit. Etwas Greifbares.
Aber seine Gedanken waren woanders.
Kugayama.
Er hatte es überprüft. Noch in der Nacht. Die Station war offiziell geschlossen. Umbauarbeiten seit 2019, geplante Wiedereröffnung nie erfolgt. Kein Personenzugang. Keine Haltepunkte im System. Und doch war die Tür aufgegangen. Die Lichter hatten geflackert. Und da war sie gewesen.
Koji nahm den alten Fahrplan aus der Schublade – eine ausgedruckte Version von damals, bevor sie alles nur noch über Tablets machten. Kugayama war da noch gelistet. Seine Finger glitten über das Papier, als könnte er etwas spüren, das nicht mehr war.
Er nahm sich vor, nach der Frühschicht dort anzuhalten – auch wenn es verboten war. Ein technisches Problem vorschieben. Ein Notfall. Irgendetwas.
Die Station Kichijoji wirkte leerer als sonst, aber das war vielleicht nur Koji selbst, der heute weniger Menschen wahrnahm. Die Welt war wie gedämpft.
Sein Kollege an der Kontrollstation, ein junger Mann namens Shota, hob kurz die Hand.
„Alles in Ordnung, Murakami-san? Sie sehen müde aus.“
„Schlecht geschlafen“, murmelte Koji.
Keine Lüge.
20:42 Uhr. Linie H4, wie am Vorabend.
Koji saß wieder im Führerstand. Die gleichen Anzeigen. Die gleichen Schienen. Aber sein Blick wanderte immer wieder zur Anzeige für den Notstopp. Die Stelle vor Kugayama. Er kannte sie auswendig – da war keine Weiche, keine Möglichkeit zum Halten. Und trotzdem …
21:07 Uhr.
Sie näherten sich der Stelle. Koji bremste leicht, täuschte einen Widerstand vor. „Stromabfall. Verminderte Sicht.“ Er meldete es durch, wie vorgeschrieben – und blieb stehen.
Die Türen blieben diesmal geschlossen. Kein Lichtflackern. Nur Dunkelheit.
Er trat aus der Kabine, ging den Waggon entlang. Niemand im dritten Abteil. Keine Yuna. Kein Zeichen. Doch dann sah er etwas auf dem Sitz, den sie gestern besetzt hatte.
Ein kleiner, zusammengefalteter Zettel.
Zittrige Schrift. Nur ein Satz:
„Sieh dorthin, wo du weggeschaut hast.“
Koji blieb stehen, als hätte ihn jemand geschlagen.
Er kannte die Handschrift. Er hatte sie in unzähligen Schulheften gesehen, auf Einkaufszetteln, in alten Geburtstagskarten.
Yuna.
Die Türen schlossen sich wieder lautlos. Der Zug setzte sich ruckartig in Bewegung, als hätte er keine Geduld für Erinnerungen. Koji stand noch immer im Gang, die Finger um den kleinen Zettel verkrampft.
„Sieh dorthin, wo du weggeschaut hast.“
Der Satz war kein Vorwurf. Kein Befehl. Er las sich wie ein Echo – weich, fast traurig.
Er kehrte zurück in den Führerstand, setzte sich, startete die automatische Ansage. Seine Hände arbeiteten wie immer, doch sein Geist war weit entfernt.
Erinnerung.
Yuna war acht gewesen, als sie ihn zum ersten Mal gefragt hatte, warum er nie in ihr Zimmer kam, wenn sie weinte. Er hatte nicht geantwortet. Einmal, Jahre später, hatte sie es wieder getan – mit 17, nach einem Streit mit ihrer Mutter. Damals hatte er etwas gesagt. „Ich dachte, du willst allein sein.“
Und Yuna hatte nur gelächelt, dieses zarte, geschlossene Lächeln, das mehr Abstand bedeutete als Worte je könnten.
Er war nie ein guter Vater gewesen. Er war pünktlich, zuverlässig, höflich – aber nie wirklich da. Selbst als sie verschwunden war, hatte er keine Wut gespürt. Nur Leere. Und Schuld.
Später, in seiner Wohnung, legte er den Zettel in eine Schublade – zu alten Fotos und Dingen, die er nicht mehr anzusehen wagte. Doch diesmal tat er es.
Er nahm das Fotoalbum heraus. Yuna, als Kind, auf dem Spielplatz in Nerima. Yuna, mit ihrer ersten Kamera. Yuna, auf der Abschlussfeier. Und er, immer nur halb im Bild – oder gar nicht.
Dann fand er den kleinen Diktierrekorder. Ein älteres Modell, das sie benutzt hatte, als sie für ihre Uni Tonaufnahmen gemacht hatte. Sie hatte Medienkunst studiert. Interviews, Stadtgeräusche, Alltagscollagen – das war ihr Ding gewesen.
Koji wusste nicht, warum er ihn aufgehoben hatte. Oder doch. Vielleicht hatte er gehofft, sie hätte etwas darauf hinterlassen.
Er schaltete ihn ein. Die Batterie war schwach, aber noch lebendig. Ein digitales Klicken, dann rauschte es.
Dann:
„Tokio klingt wie Wasser auf Glas.“
Yunas Stimme. Weich, klar.
Er hielt den Atem an.
„Wenn man lange genug hinhört, erkennt man die Risse. Nicht im Ton – in den Menschen. In den Stimmen. In den Dingen, die sie nicht sagen.“
Eine kurze Pause.
„Manchmal frage ich mich, ob mein Vater jemals hingehört hat.“
Stille.
Koji schloss die Augen.
Am nächsten Tag suchte er sich einen freien Tag, was er seit Jahren nicht getan hatte. Er ging zur alten Station Kugayama, diesmal nicht mit dem Zug, sondern zu Fuß – durch Seitenstraßen, vorbei an geschlossenen Geschäften und halb vergessenen Cafés.
Die Station war mit Bauzäunen abgesperrt, verwittert, voller Graffiti. Doch auf einer der Stützpfeiler entdeckte er ein Symbol – ein stilisiertes Auge, aus Linien gezeichnet. Er hatte es schon einmal gesehen. In Yunas Skizzenbuch, das sie immer bei sich getragen hatte. Immer dieses Auge.
Darunter: ein Wort, mit schwarzem Marker.
„RE:Vision“
Koji war kein neugieriger Mensch. Nie gewesen. In seiner Welt gab es Fahrpläne, Abläufe, Signale. Aber jetzt, da seine Tochter sich aus der Leere gemeldet hatte – oder etwas, das sich so anfühlte – war da ein Drang, den er nicht kannte. Keine Hast. Aber auch kein Zögern mehr.
Er verbrachte den Nachmittag in einem kleinen Café in Kōenji, nahe der alten Station. Ein Ort, in dem junge Leute saßen, mit Laptops, Notizbüchern, Kopfhörern. Er fühlte sich fremd – zu alt, zu leise, zu schwer in der Welt dieser Leichtigkeit.
Er tippte „RE:Vision Tokio“ in die Suchmaschine auf seinem alten Smartphone. Erst kam nichts. Dann: Ein paar kryptische Blogeinträge, halb anonym. Fotos von Projektionen in Tunneln, Street-Art mit dem Auge. Sätze wie:
„RE:Vision ist kein Ort. Es ist ein Blick.“
„Wir bauen die Stadt neu – nicht aus Beton,...
| Erscheint lt. Verlag | 2.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
| ISBN-10 | 3-8192-3999-5 / 3819239995 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-3999-1 / 9783819239991 |
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