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Die fremde Tochter & Ich weiß, was du getan hast (eBook)

Zwei Thriller in einem Band

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025
566 Seiten
dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH (Verlag)
9783690902946 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die fremde Tochter & Ich weiß, was du getan hast - Sonya Bateman
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Zwei Frauen, zwei tödliche Geheimnisse – und die eine Wahrheit, die alles zerstören kann
Zwei unfassbar spannende Psychothriller, die dich bis zur letzten Seite in ihren Bann ziehen

Die fremde Tochter

Ich dachte, mein Mann hätte meine Tochter getötet. Aber er ist unschuldig.

Ich dachte, mein Vater sei an einem Schlaganfall gestorben. Doch er wurde ermordet.

Ich war überzeugt, meine Schwester lebe in Florida. Aber sie ist seit zehn Jahren tot.

Ich dachte, meine Pflegetochter sei bei mir sicher. Doch das ist sie nicht.

Alles, was ich zu wissen glaubte, war eine Lüge.

Jetzt muss ich mich auf die Zukunft konzentrieren – auf das junge Mädchen, das ich in Pflege habe. Ich fand sie eines Nachts in meinem Hinterhof, winzig, verängstigt und verloren. Jemand hat sie dort zurückgelassen. Ich weiß nicht, woher das Mädchen kommt. Sie will mir nichts sagen. Nicht einmal ihren Namen und ich habe keine Ahnung, wen ich mir da in mein Haus geholt habe …

 

Ich weiß, was du getan hast

Ich bin eine alleinerziehende Mutter. Ich sorge für mein kleines Mädchen, indem ich Leuten ihre Traumhäuser verkaufe. Aber ein einziger Moment wird alles zerstören, was ich mir aufgebaut habe. Es ist der erste Kindergartentag meiner Tochter und sie sprudelt vor Aufregung, als ich sie absetze. Alles, woran ich denken kann, ist, dass unser selbstaufgebautes, kleines Leben endlich auf dem richtigen Weg ist.
Doch dann treffe ich am Schultor auf eine alte Freundin. Sie erzählt mir, dass mein College-Freund Brad Dowling nach fünf Jahren aus dem Koma erwacht ist. Niemand hätte erwartet, dass er jemals wieder aufwachen würde – am allerwenigsten ich. Denn ich habe mein gesamtes Leben darauf aufgebaut, dass er nie wieder zurückkommen würde. Dass ich in Sicherheit sei. Jetzt droht mein sorgfältig organisiertes, größtenteils stabiles Leben in sich zusammenfallen. Und dann bekomme ich eine Nachricht: Ich weiß, was du getan hast. Mörderin.

Erste Leser:innenstimmen
„Ungewöhnliche und starke Protagonistinnen mit dunklen Geheimnissen!“
„Zwei düstere und packende Thriller, die zeigen, dass man seiner Vergangenheit nie ganz entkommen kann.“
„Diese beklemmenden Domestic Thriller sind nichts für schwache Nerven!“
„Beide Thriller kombinieren psychologische Tiefe mit rasantem Tempo und sorgen für ein nervenaufreibendes Leseerlebnis – ich konnte sie nicht mehr aus der Hand legen.“



<p>Sonya Bateman ist eine preisgekr&ouml;nte Werbetexterin und Romanautorin, eine Liebhaberin von Fantasy-Filmen aus der Zeit zwischen Mitte der Achtziger und Ende der Neunziger, eine Kaffeehasserin und Sammlerin von coolen Steinen, die einen nicht unerheblichen Teil ihrer Kindheit damit verbracht hat, auf B&auml;ume zu klettern, um in Ruhe B&uuml;cher lesen zu k&ouml;nnen. Sie wuchs in Central New York auf, wo es die Jahreszeiten &bdquo;Winter&ldquo; und &bdquo;Stra&szlig;enbau&ldquo; gibt und &bdquo;nicht die Stadt&ldquo; offiziell Teil ihrer Adresse ist.</p> <p>Sonya schreibt seit mehr als 15 Jahren professionell. Derzeit lebt sie in einem gro&szlig;en Haus in einer kleinen Stadt, immer noch in Central New York (nicht in der Stadt), mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihren Katzen. Sie schreibt rasante urbane Fantasy und verworrene, schockierende psychologische Romane, die einen misstrauisch gegen&uuml;ber Freunden und Nachbarn werden lassen &ndash; und die einen nur mit eingeschaltetem Licht schlafen lassen.</p>

<h2>Kapitel 1</h2> <div class="style_time_loc"> <p>Heute</p> </div> <p>Meine Tochter schreit.</p> <p>Der Klang weckt mich &ndash; zumindest glaube ich das. Ich kann mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht sehen. Ein Echo des Schreis, dem panischen, wortlosen, schrillen Hilferuf, klingt noch in meinen Ohren nach. Vielleicht ist es auch in meinem Kopf, denn meine Tochter kann es nicht gewesen sein.</p> <p><i>Bin ich wach?</i></p> <p>Sobald mir der Gedanke in den Sinn kommt, verstehe ich, was passiert. Ich hatte schon seit Jahren keine Episode mehr, doch jetzt kehrt sie mit voller Wucht zur&uuml;ck.</p> <p><i>Hello, darkness, my old friend.</i></p> <p>Mein Gehirn versucht hastig, die Schritte zu rekapitulieren. <i>Atmen.</i> Das war der erste. Kurzzeitig bezweifle ich, dass ich das kann. Die Vorstellung, nie wieder einen Atemzug zu tun, l&auml;sst Panik in mir aufsteigen. Ich frage mich, wie lange ich ohne Sauerstoff &uuml;berleben kann. Mein Herz rast vor Angst.</p> <p>Ich kann mein Herz sp&uuml;ren. Das hei&szlig;t, ich kann atmen.</p> <p>Luft rauscht in meine Lungen, noch bevor ich merke, dass ich einatme. Ich nutze das kleine bisschen Kontrolle und zwinge mich dazu, langsam auszuatmen. Noch mal. St&uuml;ck f&uuml;r St&uuml;ck legt sich der Sturm in meinem Herzen und der Schrecken l&auml;sst nach, bis ich in einem Meer aus nichts treibe.</p> <p><i>Beweg dich.</i></p> <p>Ich brauche einen Anker, eine Erinnerung daran, dass ich ein physisches Wesen bin, f&auml;hig, meinen K&ouml;rper zu kontrollieren. Ich dr&auml;nge meine Gedanken nach au&szlig;en und stelle mir vor, wie sie durch meine Venen rasen und sie im Dunkel leuchten lassen. Sie gl&uuml;hen karminrot, wie das Blut, das sie f&uuml;llt. Und ich folge dem ver&auml;stelten Pfad bis zu einem Finger, dem Zeigefinger. <i>Das ist meiner</i>, sage ich mir selbst. <i>Ich werde auf die Decke zeigen.</i></p> <p>Ich sp&uuml;re ein Zucken, entfernt und fremd. Doch ich erinnere mich zu atmen. Ich versuche es noch einmal und dann noch einmal, bis sich der Pfad in Sekundenschnelle von meiner Fingerspitze zu meinem Hirn gr&uuml;n f&auml;rbt. Ich zeige.</p> <p>Ein weiterer Finger zuckt, dann ein dritter. Ich lasse sie wackeln. Meine Hand schlie&szlig;t sich schw&auml;chlich und ich sp&uuml;re das Laken in meiner Handfl&auml;che.</p> <p>Endlich, eine Faust.</p> <p>Gr&uuml;nes Licht durchflutet meinen K&ouml;rper und ich strecke mich aus, keuche, w&auml;hrend sich meine Muskeln entkrampfen und meine Sicht sch&auml;rfer wird. Doch die Panik lauert weiterhin in mir, wartet darauf, mich abermals zu &uuml;bermannen, denn irgendetwas stimmt noch immer nicht. Ich bin nicht da, wo ich sein sollte.</p> <p>Dies ist nicht mein Schlafzimmer.</p> <p>Bevor mich der Nebel der Angst wieder umh&uuml;llen kann, zwinge ich mich, logisch zu denken, mein Gehirn zur Vernunft zu bringen. <i>Es ist eine Schlafparalyse</i>, sage ich mir mit entschlossener Stimme. <i>Dir passiert nichts. Wach einfach auf.</i> Doch die Angst steigt weiter.</p> <p>Dann erinnere ich mich an den Countdown, den mir mein Therapeut beigebracht hat.</p> <p><i>F&uuml;nf Dinge, die du siehst.</i></p> <p>Ich sehe Stoff. Weicher blauer Stoff in meinem Augenwinkel, der zu einem Kissen geh&ouml;ren k&ouml;nnte. Ich sehe &hellip; Teppich? Ja, ein dunkel gestreifter L&auml;ufer auf einem Holzboden. Holzboden: Das sind drei Dinge.</p> <p>Halt. Ich habe keinen Holzboden. Oder doch? Aber der L&auml;ufer kommt mir so bekannt vor.</p> <p>Zwei weitere Dinge, die ich sehe. Meine Hand, die hinabbaumelt, die Fingerspitzen nur wenige Zentimeter &uuml;ber dem Boden. Ein h&ouml;lzernes Bein, das zu einem Couchtisch geh&ouml;rt. Es ist ein Wohnzimmer und ich liege auf einer Couch. Es ist aber nicht meine Couch. Nicht mein Wohnzimmer. Und gleichzeitig ist es das.</p> <p>Ich bin zu Hause. Nicht das Zuhause, in dem ich lebe, sondern das Zuhause, in dem ich aufgewachsen bin. Und aus Gr&uuml;nden, die ich in diesem getr&uuml;bten Zustand nicht ausmachen kann, erf&uuml;llt mich diese Realisierung mit neuer Angst.</p> <p>Damit kann ich mich jetzt nicht befassen.</p> <p><i>Vier Dinge, die du f&uuml;hlst.</i></p> <p>Das pralle Armpolster des Sofas im Wohnzimmer meiner Eltern, gem&uuml;tlich genug, um als Kissen zu dienen &ndash; der blaue Stoff, den ich gesehen habe. Den klammen Schwei&szlig; auf meinem R&uuml;cken, der gegen die Couch gepresst wurde, und auf meinem Kopf, der wegen den Albtr&auml;umen, von denen ich dachte, ich h&auml;tte sie hinter mir gelassen, und den Bem&uuml;hungen, meine Kontrolle wiederzuerlangen, auf Hochtouren gelaufen ist. Die Brise des Deckenventilators &uuml;ber mir, die meine Kopfhaut zum Fr&ouml;steln bringt, w&auml;hrend der Schwei&szlig; abk&uuml;hlt.</p> <p>Die Schmetterlinge in meinem Bauch, ein Rausch der Emotionen, als ich mich an den schrecklichen Grund erinnere, aus dem ich hier bin.</p> <p>Stoff, Teppich, Holzboden, Hand, Bein.</p> <p>Polster, Schwei&szlig;, Brise, Schmetterlinge.</p> <p><i>Drei Dinge, die du h&ouml;rst.</i></p> <p>Ich h&ouml;re ein entferntes, rhythmisches Quietschen, immer dann, wenn die Bl&auml;tter des Deckenventilators an einer bestimmten Stelle kurz absinken. Es ist vertraut, beruhigend. Fr&uuml;her bin ich hier oft zu diesem Klang eingeschlafen. Mein Vater sagte stets, er w&uuml;rde ihn reparieren, aber ich &hellip;</p> <p><i>Nein.</i> Daran denke ich jetzt noch nicht. Noch zwei Dinge.</p> <p>Ich h&ouml;re <i>wusch, wusch, wusch,</i> als fl&uuml;stere jemand im Innern meines Sch&auml;dels. Es ist mein Herz, das mir bis in die Ohren schl&auml;gt. Es wird langsamer, w&auml;hrend ich mir meiner Umgebung immer bewusster werde, auch wenn die Angst vor der vollst&auml;ndigen Erinnerung es schwerer schlagen l&auml;sst. Ich h&ouml;re das <i>tick, tick, tick</i> der Standuhr im Esszimmer.</p> <p>T&uuml;r, Robe, Uhr, Ventilator, Fenster.</p> <p>Laken, Kissen, Brise, Schmetterlinge.</p> <p>Quietschen-Wusch-Tick.</p> <p><i>Zwei Dinge, die du riechst.</i></p> <p>Ein schwacher, saurer Geruch aus meiner feuchten Achselh&ouml;hle. Die Frische des Weichsp&uuml;lers, der aus der Kleidung dringt, die ich gerade gewaschen habe.</p> <p><i>Eine Sache, die du schmeckst.</i></p> <p>S&auml;ure, die mir bei dem Gedanken daran, aufzuwachen, in die Kehle steigt. Bei dem Gedanken daran, mich einer Realit&auml;t zu stellen, die ich nicht akzeptieren will.</p> <p>Als ich den Countdown beende, l&ouml;st sich die Angst auf, als w&uuml;rde jemand den Dimmerknopf herunterdrehen. Tiefe, schmerzende Trauer und Schuldgef&uuml;hle nehmen ihren Platz ein. Das Gef&uuml;hl ist dem, was ich nach Marisol erlebt habe, so &auml;hnlich, dass ich mich f&uuml;r einen Moment in das Krankenhauszimmer zur&uuml;ckversetzt f&uuml;hle, wo Lynette schrie und mich von meinem in Handschellen gefesselten Ehemann wegzerrte.</p> <p>Ex-Ehemann. Das Einzige, was ich in den letzten f&uuml;nf Jahren richtig gemacht habe, war die Einleitung eines Scheidungsverfahrens, bevor dieser kranke Mistkerl, der mir vorgemacht hatte, er sei ein Mensch, seinen Fu&szlig; in den ersten Gerichtssaal gesetzt hatte.</p> <p>Tyler Martin ist ein weiteres dringendes Problem, um das ich mich bald k&uuml;mmern muss. Als ich vor ein paar Wochen erfahren habe, was mit ihm los war, habe ich gelernt, was die wahre Bedeutung von Apoplexie ist. Es ist eines dieser Gef&uuml;hle, die man nicht wirklich verstehen kann, bis man sie erlebt hat. Aber dann ist etwas anderes passiert &ndash; etwas viel Wichtigeres als der Schei&szlig;fleck, den ich geheiratet habe.</p> <p>Und jetzt bin ich hier. Ich muss mit den Folgen fertig werden, nachdem ich eine weitere Person, die ich liebte, im Stich gelassen habe.</p> <p>Ich st&ouml;hne und zittere, als ich mich auf den R&uuml;cken lege und den Deckenventilator &uuml;ber der Couch anstarre. Ich h&auml;tte wirklich nicht einschlafen d&uuml;rfen. Es war schon nach sieben, als ich mich hingelegt habe, in der Hoffnung, einen Film zu sehen und f&uuml;r eine Weile zu vergessen. Jetzt dr&uuml;ckt die Dunkelheit gegen die Au&szlig;enseite der Fenster und der sanfte Schein der Beistelltischlampe reicht nicht &uuml;ber das tote Auge des Fernsehers hinaus, den ich nie angeschaltet habe.</p> <p>Mein Handy liegt auf dem Couchtisch. Ich schnappe es mir, schaue auf die Uhr und st&ouml;hne erneut. Es ist fast elf. Heute Nacht werde ich auf keinen Fall mehr richtig schlafen k&ouml;nnen.</p> <p>Schon gar nicht in diesem unheimlich stillen Haus, das fr&uuml;her so voller Leben war.</p> <p>Ich stehe auf und stecke mein Handy in die Tasche, dann durchquere ich den Raum, um das Oberlicht einzuschalten. Als der Schein jede Ecke des Raums erhellt, f&auml;llt mein Blick auf die Wand auf der anderen Seite, wo sich der Kamin befindet. Seit ich hier bin, habe ich es vermieden, sie direkt anzusehen.</p> <p>Aber pl&ouml;tzlich kann ich den Blick nicht mehr davon abwenden. All diese Gesichter. All diese Namen.</p> <p>Alle siebenundzwanzig meiner Br&uuml;der und Schwestern.</p> <p>Meine Eltern wussten immer, dass sie mehrere Kinder wollten. Sie planten, ihre eigenen zu bekommen, aber nachdem ich geboren war, konnte meine Mutter nicht mehr schwanger werden, egal, was sie versuchten. Es bedurfte nur eines langwierigen und gescheiterten Befruchtungsversuchs, um zu beschlie&szlig;en, dass sie das nicht noch einmal durchmachen wollte. Stattdessen beschlossen sie, Pflegeeltern zu werden.</p> <p>Sie hatten von Anfang an so viel geplant. Sie wollten &auml;ltere Kinder ab zehn Jahren aufnehmen, die weit weniger Chancen auf eine dauerhafte Unterbringung oder Adoption hatten. Sie w&uuml;rden allen die gleiche Aufmerksamkeit schenken und daf&uuml;r sorgen, dass niemand das Gef&uuml;hl hatte, das &bdquo;Biokind&ldquo; w&uuml;rde eine Sonderbehandlung bekommen. Wer auch immer hierherkommen w&uuml;rde, sollte zur Familie geh&ouml;ren.</p> <p>Aus diesem Grund haben sie die Familienwand errichtet.</p> <p>Jeder, der in diesem Haus wohnte, einschlie&szlig;lich meiner Eltern und mir, kam an die Wand. F&uuml;r jede Person gab es ein Blatt Papier, auf dem oben ihr vollst&auml;ndiger Name stand, und ein Polaroid-Foto von ihr. Unter dem Bild befand sich ein Miniprofil. <i>Nenn mich</i>, <i>Mag</i>, <i>Mag nicht</i> und <i>Wissenswertes</i>. Schlie&szlig;lich gab es unter jedem Papier einen gemalten Handabdruck, f&uuml;r den sich jedes Kind eine eigene Farbe aussuchen durfte.</p> <p>Ich habe meinen gr&uuml;n gemalt. Ich war sechs Jahre alt, als ich mein kleines Profil ausf&uuml;llte, nur wenige Tage bevor die erste Pflegefamilie eintraf. Es lautete:</p> <div class="style_letters"> <p>Katrina Gray</p> <p>Nenn mich: Kat</p> <p>Mag: Meine Kamera</p> <p>Mag nicht: Wurst (igitt!)</p> <p>Wissenswertes: Ich w&uuml;nschte, ich h&auml;tte Fl&uuml;gel</p> </div> <p>Als kleines M&auml;dchen verstand ich die Kategorie Wissenswertes nicht wirklich.</p> <p>Dort oben gibt es so viele Gesichter. Egal, ob man jahrelang oder nur ein paar Tage geblieben ist, man ist immer an der Familienwand gelandet. Als Teil der Familie. Ich bin so stolz auf meine Mutter und meinen Vater. Sie haben so viel Gutes in der Welt getan.</p> <p>Ich habe ihr Erbe vernachl&auml;ssigt.</p> <p>An der Wand kommt nach meinen Eltern und mir das erste Pflegekind, das bei uns eingezogen ist. Michelle DiMarco. Sie war f&uuml;nfzehn, als sie kam, und achtzehn, als sie ging. Ich erinnere mich, dass ich als Sechsj&auml;hrige Ehrfurcht vor diesem Teenager hatte, dieser lauten, frechen, rechthaberischen Frau mit ihren gef&auml;rbten Haaren und engen Kleidern, ihren ausdrucksstarken braunen Augen und all dem Make-up, das sie trug. Ich war fasziniert, als sie mir ihre BHs zeigte &ndash; sie hatte ein Dutzend, alle h&uuml;bsch und spitzenbesetzt in so vielen Farben.</p> <p>Damals verstand ich nicht, dass sie gezwungen war, schnell erwachsen zu werden.</p> <p>Ich lese das Profil, das sie sorgf&auml;ltig in schicken seifenblasenartigen Buchstaben ausgef&uuml;llt hat.</p> <div class="style_letters"> <p>Michelle DiMarco</p> <p>Nenn mich: Mickey</p> <p>Mag: Weltfrieden</p> <p>Mag nicht: Schwindler</p> <p>Wissenswertes: Ich kann einen Spagat machen</p> </div> <p>Ihr Handabdruck ist ein elektrisches Violett, das &uuml;ber die Jahre leicht verblasst ist.</p> <p>Mein Blick streift &uuml;ber die Wand, nimmt Fotos und gekritzelte Worte auf, die wie Geschosse in meinem Herzen einschlagen. Da ist Jackson Green, der erste Junge, der bei uns blieb, nachdem drei M&auml;dchen gekommen und eines gegangen war. Er wollte Crusher oder Ranger genannt werden, aber wir nannten ihn schlie&szlig;lich Jax. Ihm gefielen &bdquo;Ritterwaffen&ldquo; und er mochte &bdquo;schlafen&ldquo; nicht, und wissenswert war, dass er heimlich Drachen trainierte. Er war ein seltsames Kind, aber ich erinnere mich, dass mir seine Geschichten gefallen haben.</p> <p>Ich fahre fort und schaue sie mir alle an. An einige erinnere ich mich nur noch vage oder gar nicht mehr, wir hatten jedoch mehrere kurze vor&uuml;bergehende Aufenthalte. Als ich mich dem Ende n&auml;here, wo sich die letzten Zug&auml;nge befinden, erinnere ich mich an deutlich mehr. Alina Cruz, mag B&uuml;cher, keine Splitter. Drew Seaborn, l&auml;chelt gern und spielt gern drau&szlig;en, mag keinen Schnee und keine wirklich gro&szlig;en Schlangen.</p> <p>Naomi Young. Ihre Nenn mich-Zeile sagt</p> <div class="style_letters"> <p><i>Nichts</i>.</p> </div> <p>Mag ist leer. Neben Mag nicht hat sie geschrieben:</p> <div class="style_letters"> <p><i>Dich</i>.</p> </div> <p>Und Wissenswertes?</p> <div class="style_letters"> <p><i>Ich hasse dieses Haus.</i></p> </div> <p>Meine Mutter nannte Naomi eine &bdquo;Herausforderung&ldquo;. Meistens nannte ich sie den Feind, weil sie es vom ersten Tag an auf mich und alle anderen abgesehen hatte.</p> <p>Ich schaudere unwillk&uuml;rlich und gehe zum letzten Profil &uuml;ber. Evelyn Wells, nenn mich Evie, mag Taco-Dienstage und mag es nicht, kalte F&uuml;&szlig;e zu haben. Unter Wissenswertes hat sie geschrieben: &bdquo;Ich bin zu h&auml;sslich, um geliebt zu werden.&ldquo;</p> <p>Evelyn hatte mit so vielen Dingen zu k&auml;mpfen. Als sie bei uns ankam, haben meine Eltern die Regeln f&uuml;r die Gleichbehandlung etwas gebogen, weil sie wirklich besondere Aufmerksamkeit brauchte, aber niemand von uns hatte etwas dagegen. Wir hatten alle Mitleid mit Evie. Wir alle, au&szlig;er Naomi nat&uuml;rlich.</p> <p>Sie kam ein Jahr vor meinem Highschool-Abschluss zu uns, und es ging ihr schon viel besser, als ich aufs College ging. Wenn ich mich zu Hause erkundigte, sagten mir meine Eltern, dass sie einen immer besseren Eindruck machte.</p> <p>Deshalb war es ein Schock, als sie mit f&uuml;nfzehn Jahren weglief.</p> <p>Evies Verschwinden war der Anfang vom Ende einer &Auml;ra. Innerhalb von zwei Wochen nach ihrem Weglaufen verloren wir Mom f&uuml;r immer und die &uuml;brigen Pflegekinder wurden meinem trauernden Vater entzogen. Und dann waren wir zu zweit.</p> <p>Jetzt gibt es nur noch mich.</p> <p>Vor zwei Tagen gab der geliebte lokale Meteorologe Joe Gray &ndash; eine kleine Ber&uuml;hmtheit in der Gegend &ndash; seinen letzten Wetterbericht. Um 9.03 Uhr, w&auml;hrend seines vierten Berichts zur vollen Stunde, sahen Hunderte oder vielleicht Tausende von Zuschauern zu &ndash; mich eingeschlossen &ndash;, wie mein Vater live im Fernsehen zusammenbrach und starb. Gestern h&auml;tte ich mir fast eine Alkoholvergiftung zugezogen, als ich versuchte, den Mut aufzubringen, mein Haus in North Syracuse zu verlassen. Das, was unser Haus gewesen war, der Ort, an dem meine Tochter einst lebte. Der Ort, den ich kaum noch betreten habe, seit ich sie verloren habe. Heute Morgen machte ich mich auf den halbst&uuml;ndigen Weg nach Fulton, dem Heimatort meiner Kindheit, und betrat zum ersten Mal seit Marisols Beerdigung das Haus meiner Eltern. Dort brach ich sofort zusammen und weinte gef&uuml;hlte Stunden lang. Von all den vielen Menschen, die ich in meinem Leben entt&auml;uscht habe, habe ich meinen Vater am meisten entt&auml;uscht. Ich lenke meine Aufmerksamkeit von der Familienwand ab und verlasse das Wohnzimmer, gehe durch das Esszimmer in die K&uuml;che. Dort schnappe ich mir aus dem K&uuml;hlschrank eine Flasche Bier aus dem Sixpack, das ich vorhin gekauft habe, und setze mich damit an den K&uuml;chentisch. Ich sage mir, dass es keine Wiederholung des gestrigen Saufgelages geben wird. Ich hoffe nur, dass mir ein wenig Alkohol nach einem so langen und unerwarteten Nickerchen beim Einschlafen helfen wird. Ich habe bereits beschlossen, in meinem Kinderzimmer zu schlafen, solange ich hier bin. In den Zimmern der Pflegekinder wird es mir nur noch schlechter gehen und ich kann es nicht ertragen, einen Fu&szlig; in das Zimmer meiner Eltern zu setzen. Mit dem Bier in der Hand greife ich nach meinem Handy und tippe auf das Facebook-Symbol. Ich muss noch eine Sache erledigen, bevor ich versuche, ins Bett zu gehen. Ich wische zu meinen Gruppen und &ouml;ffne die Seite der Fulton Grays. Auch wenn ich mich in den letzten f&uuml;nf Jahren in einen Einsiedler verwandelt habe, habe ich zumindest das geschafft. Ich habe die Gruppe etwa sechs Monate nach dem Tod meiner Tochter &ndash; dem <i>Mord</i> an meiner Tochter &ndash; gegr&uuml;ndet, als mir klar wurde, dass ich seit meinem letzten qu&auml;lenden Auftritt vor Gericht in Tylers Prozess kaum mehr als vier oder f&uuml;nf Worte mit einem echten Menschen gesprochen hatte. Ich arbeitete von zu Hause aus und kommunizierte mit meinen Kunden per E-Mail. Ich lie&szlig; mir Eink&auml;ufe und gelegentlich auch Essen liefern. Ich schrieb mit meinem Vater, anstatt ihn anzurufen. Und selbst dann sah ich nicht, dass sich das in naher Zukunft &auml;ndern k&ouml;nnte. Jeder Tag war ein dunkler Tag, ein Kampf darum, einen Grund zu finden, das Bett zu verlassen.</p> <p>Doch ein Teil von mir wusste, dass ich eine Form der menschlichen Interaktion brauchte. Ich konnte es immer noch nicht ertragen, mit physischen Menschen zusammen zu sein, aber es gab ja Facebook. Ich begann damit, Mickey DiMarco, meine erste Pflegeschwester, zu finden und zu kontaktieren, die zu diesem Zeitpunkt Mitte drei&szlig;ig bis Anfang vierzig war und immer noch so forsch und lebensfroh wirkte wie der wilde Teenager, den ich gekannt hatte. Mit ihr zu plaudern, sich &uuml;ber ihr Leben zu informieren, war ein unerwarteter Balsam f&uuml;r meine zerrissene Seele. Also suchte ich online nach weiteren Pflegegeschwistern und gr&uuml;ndete eine Gruppe, in der wir alle in Kontakt bleiben konnten. Insgesamt gab es zweiundzwanzig Mitglieder, einschlie&szlig;lich mir &hellip; und Dad, der von der Idee begeistert war und sich h&auml;ufig beteiligte. Es war uns sogar gelungen, Evie Wells zu finden, die Ausrei&szlig;erin, die in Florida lebte und der es nach einigen schwierigen Jahren sehr gut ging. Nachdem ich mich gezwungen hatte, die n&ouml;tigen Vorkehrungen zu treffen, gelang es mir, in der Gruppe &uuml;ber Dad zu berichten. Ich musste ihnen mitteilen, wann und wo die Beerdigung stattfinden w&uuml;rde. Jetzt muss ich auf eine Menge herzzerrei&szlig;ender Beileidsbekundungen reagieren. Zu meinem Beitrag gibt es siebzehn Care-Emojis und achtunddrei&szlig;ig Kommentare. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dazu durchringen kann, auf alle zu antworten, oder ob ich &uuml;berhaupt in der Lage bin, etwas anderes zu tun, als auf das kleine Herz zu tippen. Trotzdem &ouml;ffne ich die Kommentarspalte und beginne zu lesen. Die erste Antwort kommt von Evie. Evelyn Wells:</p> <div class="style_letters"> <p>Nein, nicht Daddy Joe!!! Kat, es tut mir so, so leid. Ich kann im Moment nicht einmal hinfahren, es ist zu kurzfristig, um mir freizunehmen. Ich w&uuml;nschte, ich k&ouml;nnte dich umarmen!</p> </div> <p>Sie hat eine Antwort von Mickey bekommen:</p> <div class="style_letters"> <p>Oh, Schatz, gleichfalls. Ich schicke dir auch Umarmungen runter.</p> </div> <p>Die beiden sind sich nie begegnet &ndash; in den vierzehn Jahren, in denen meine Eltern Pflegekinder aufgenommen haben, war Mickey die erste und Evie die letzte &ndash; aber sie sind durch die Gruppe Online-Freunde geworden. Mickeys Kommentar zum Hauptbeitrag ist der n&auml;chste. Mickey Dee:</p> <div class="style_letters"> <p>Ich kann es einfach nicht glauben. Ich habe zugesehen, als er zusammengebrochen ist, und es scheint immer noch nicht real zu sein. Kat, Schatz, ich liebe dich. Das ist schei&szlig;e.</p> </div> <p>Meine Augen brennen und ich lasse die Tr&auml;nen laufen, w&auml;hrend ich weitere Kommentare meiner Pflegegeschwister &uuml;berfliege. Blake Mulder:</p> <div class="style_letters"> <p>Gott, wie schrecklich. Er war ein gro&szlig;artiger Mann. Ruhe in Frieden, Mr. G. Ich werde versuchen, zur Beerdigung zu kommen, wenn ich es einrichten kann.</p> </div> <p>Mary P. Lovell:</p> <div class="style_letters"> <p>Es bricht mir das Herz. Ganz viel Liebe f&uuml;r dich, Kat.</p> </div> <p>Jackson Green:</p> <div class="style_letters"> <p>Dein Verlust tut mir so leid.</p> </div> <p>Nevaeh Davidson:</p> <div class="style_letters"> <p>Ich habe zugesehen! Ich kann nicht aufh&ouml;ren zu weinen. Er war der beste Pflegevater. Ich liebe euch alle so sehr.</p> </div> <p>Alina Cruz:</p> <div class="style_letters"> <p>Mir fehlen die Worte. Wie konnte das passieren?! Er war in besserer Verfassung als ich! Kat, du wei&szlig;t, dass ich da sein werde. Es tut mir so verdammt leid.</p> </div> <p>Nachdem ich Alinas Kommentar gelesen habe, raubt mir ein pl&ouml;tzliches Schluchzen den Atem und ich muss aufh&ouml;ren zu lesen. Sie hat recht &ndash; Dad war bei bester Gesundheit. In den letzten vier Jahren ist er sogar mit einer wesentlich j&uuml;ngeren Frau zusammen gewesen. Ich habe mich schuldbewusst erleichtert gef&uuml;hlt, als er mir von Clara Crawford erz&auml;hlte, denn in meinem von Trauer geplagten Kopf bedeutete das, dass ich aus dem Schneider war, wenn er jemanden hatte, mit dem er Zeit verbringen konnte. Ich habe mir immer eingeredet, dass ich noch viel Zeit mit Dad verbringen w&uuml;rde. Vielleicht, wenn er in Rente geht. Aber das &bdquo;Zu sp&auml;t&ldquo; ist jetzt mit unnachgiebiger Endg&uuml;ltigkeit eingetreten. Ich war eine schreckliche, egoistische Tochter, und ich konnte mich nie f&uuml;r mein Verhalten entschuldigen. Zitternd wische ich zur&uuml;ck an den Anfang der Kommentare. Ich halte es heute Abend nicht mehr aus, noch mehr zu lesen. Ich werde alles mit einem Herz versehen und morgen fr&uuml;h erneut versuchen, mich meinem epischen Versagen zu stellen. Als mein Finger gerade &uuml;ber der Schaltfl&auml;che &bdquo;Reagieren&ldquo; unter Evies Kommentar schwebt, ert&ouml;nt eine Benachrichtigung. Eine neue Nachricht auf meiner Facebook-Gesch&auml;ftsseite. Ich habe bereits angek&uuml;ndigt, dass ich mir eine Auszeit nehme und alle Kommentare zu meinen Beitr&auml;gen dort deaktiviert habe, dies ist jedoch eine direkte Nachricht. Ich m&ouml;chte sie ignorieren, aber ich beschlie&szlig;e, der Person zu antworten und mitzuteilen, dass ich bis mindestens n&auml;chste Woche nicht erreichbar sein werde. Vor allem wenn es sich um eine Anfrage eines neuen Kunden handeln sollte. Ich tippe auf die Nachricht und mir gefriert das Blut in den Adern.</p> <div class="style_emails"> <p>Liebster Daddy: <i>Dein Vater war nicht der Mann, f&uuml;r den du ihn h&auml;ltst, Katrina. Ich wei&szlig;, was er getan hat. Und bald wirst du es auch wissen.</i></p> </div> <p>&bdquo;Was zum Teufel!&ldquo; Ich keuche und lasse mein Handy auf den Tisch fallen, als w&auml;re es eine Schlange, die mich bei&szlig;en will. Die entsetzlichen Worte stehen noch da und scheinen mich durch das Glas anzustarren.</p> <p>Ist das eine Art kranker Scherz? Das muss es sein. Irgendein anonymes Arschloch, das sich hinter einem Bildschirm versteckt, die Nachrichten gesehen hat und einfach nur gerne zusieht, wie die Welt brennt, versucht, mich zu einer Reaktion zu dr&auml;ngen. Es ist nicht schwer, mich online zu finden oder die Tatsache, dass der Meteorologe Joe Gray mein Vater und meine Gesch&auml;ftsseite &ouml;ffentlich ist. Mein erster Instinkt ist es, den ekelhaften kleinen Troll zu blockieren und zu melden, aber ich entscheide mich dagegen. Je mehr Bl&ouml;dsinn er von sich gibt, desto leichter wird es sein, jemanden mit Autorit&auml;t zum Handeln zu bewegen. Stattdessen mache ich einen Screenshot der Nachricht und schlie&szlig;e dann die App. Jetzt bin ich w&uuml;tend und ich lasse das Gef&uuml;hl zu, w&auml;hrend ich das unangetastete Bier in den K&uuml;hlschrank zur&uuml;ckstelle und nach oben ins Bett gehe. Die Wut ist leichter als der komplexe, schmerzhafte Knoten der Trauer, der wieder auftauchen wird, wenn ich ersch&ouml;pft bin. Und ich habe genug Wut f&uuml;r zwei Lebzeiten.</p> <h2>Kapitel 2</h2> <p>Es kommt mir so vor, als h&auml;tte ich nur f&uuml;nf Minuten geschlafen, als ich die Schreie h&ouml;re. Dieses Mal wei&szlig; ich, dass ich nicht tr&auml;ume. Das Bewusstsein &uuml;berflutet mich sofort und ich richte mich im Bett auf. Ein kleines M&auml;dchen schreit vor Angst. Es klingt, als k&auml;me es direkt von drau&szlig;en. Ich werfe die Decke ab, stolpere zum Fenster und rei&szlig;e die Vorh&auml;nge zur&uuml;ck. Das Mondlicht enth&uuml;llt den gro&szlig;en Hinterhof, auf den mein Kinderzimmer blickt, auch wenn sich der Anblick drastisch ver&auml;ndert hat. Die Schaukel, der Sandkasten, der Picknicktisch und der Propangasgrill sowie der kleine oberirdische Pool sind verschwunden. Die Zeichen einer gl&uuml;cklichen Familie mit gl&uuml;cklichen Kindern. Jetzt umschlie&szlig;t der sechs Fu&szlig; hohe Maschendrahtzaun eine geflieste Terrasse mit ein paar Adirondack-Liegest&uuml;hlen und Dads Ger&auml;teschuppen ganz rechts statt ganz links, wo er fr&uuml;her stand. Dazwischen erstreckt sich eine leere Fl&auml;che mit perfektem Gras. Entlang des hinteren Zauns wachsen dichte, ordentlich gestutzte Stechpalmenb&uuml;sche, die fast dar&uuml;ber hinaus reichen. W&auml;hrend ich, auf der Suche nach einer Erkl&auml;rung f&uuml;r das, was ich geh&ouml;rt habe, vor mich hinstarre, nehme ich eine blitzartige Bewegung wahr. Etwas Blasses unter dem dichten, dunklen Gr&uuml;n neben dem Schuppen. Es folgt ein Moment der Stille, des Schweigens, in dem sogar das alte Haus den Atem anzuhalten scheint. Pl&ouml;tzlich raschelt das Geb&uuml;sch und zuckt heftig an der Stelle, an der ich das schwache Flackern gesehen habe. Der Schrei ert&ouml;nt erneut, diesmal gebrochen und atemlos, jedes Segment ausgesto&szlig;en wie bei einer Frau in den Wehen &ndash; <i>aaaaah-aaaaah-aaaaah-aaaaaahhh!</i> Doch es ist eindeutig ein Kind und der unheimliche Klang wird durch die d&auml;mpfende Eigenschaft des Glases noch beunruhigender. Ein Fu&szlig; tritt unter der Hecke hervor. Winzig, schmutzverschmiert, herzzerrei&szlig;end. Ich h&ouml;re auf zu denken. Ich wende mich vom Fenster ab und renne durch den Raum, dann schnappe ich mir meinen Bademantel, bevor ich die T&uuml;r aufrei&szlig;e. Als ich die Treppe hinunterrase und meine Arme in den Bademantel stecke, wird mir klar, dass das Flutlicht im Hinterhof h&auml;tte angehen sollen. Es ist auf einen Bewegungsmelder eingestellt. Im Erdgeschoss wirble ich um das Treppengel&auml;nder herum und steuere auf die Hintert&uuml;r zu. Durch das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer, das Esszimmer und in die K&uuml;che, wo ich kurz entschleunige, um mir die Taschenlampe zu schnappen, die Dad f&uuml;r Notf&auml;lle immer &uuml;ber dem Tresen neben der Kaffeekanne eingesteckt gelassen hat. Ich kann mich vage daran erinnern, dass ich meine Turnschuhe vorhin an der Hintert&uuml;r vergessen habe. Aber jetzt sehe ich sie dort nicht mehr, und ich werde auch nicht den ganzen Weg nach oben rennen, um ein Paar zu holen. Ich rei&szlig;e die T&uuml;r auf und st&uuml;rme barfu&szlig; nach drau&szlig;en. Als ich &uuml;ber die Terrasse laufe und die Taschenlampe anmache, knirscht etwas unter mir. Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Fu&szlig; und ich stolpere und falle fast. Ich unterdr&uuml;cke einen Schrei und schwenke den Lichtstrahl zur&uuml;ck &uuml;ber die Fliesen. Zerbrochenes Glas, besprenkelt mit meinem Blut. Die Flutlichtbirne. Es sieht so aus, als w&auml;re sie ganz aus der Halterung gefallen, mitsamt der Metallschraube und allem Drum und Dran. Wie ist das m&ouml;glich? <i>&bdquo;Aaaah-aaaah-aaaah-aaaaahhh!&ldquo;</i> Der Schrei ert&ouml;nt abermals, heiser, dennoch klar in der k&uuml;hlen Nachtluft. Die Stechpalmenb&uuml;sche rascheln und zittern. Ich zucke zusammen und b&uuml;cke mich, um das Glas aus meinem Fu&szlig; zu ziehen. &bdquo;Ich komme, mein Schatz&ldquo;, rufe ich und richte die Taschenlampe auf die Hecke. Das Ger&auml;usch und die Bewegung h&ouml;ren abrupt auf. Ich versp&uuml;re ein Stechen in meinem Herzen. Das Kind muss schreckliche Angst haben und ich kann es ihr nicht verdenken. &bdquo;Es ist okay&ldquo;, sage ich beruhigend. &bdquo;Ich werde dir helfen. Du brauchst keine Angst zu haben.&ldquo; Es folgt keine Antwort. Nicht einmal ein Fl&uuml;stern. Eilig kratze ich die beiden gr&ouml;&szlig;ten Splitter aus meinem Fleisch. Mehrere kleine St&uuml;cke stecken noch in meinem Fu&szlig;, aber darum kann ich mich jetzt nicht k&uuml;mmern. Ich muss zu dem M&auml;dchen gelangen. Ich muss sie retten. Meine Tochter retten &hellip;</p> <p><i>Nein. Nicht meine Tochter.</i></p> <p>Ich kneife kurz die Augen zu, verdr&auml;nge die Bilder und springe auf die Beine. Der Stechpalmenbusch zittert, als ich so schnell wie m&ouml;glich &uuml;ber den Hof humple und mit der Lampe den Weg vor mir erleuchte. Ein leises Wimmern ert&ouml;nt.</p> <p>&bdquo;Es wird alles gut&ldquo;, versuche ich das Kind mit sanfter Stimme zu beruhigen.</p> <p>Sie antwortet nicht und w&uuml;rdigt mich keines Blickes.</p> <p>Schlie&szlig;lich erreiche ich die Hecke und lasse mich auf die Knie fallen. &bdquo;Okay, mein Schatz&ldquo;, sage ich. &bdquo;Was ist passiert? Steckst du da drin fest?&ldquo; Eine bl&ouml;de Frage. Es ist gerade einmal ein Meter Platz zwischen dem Boden und der dicken Wand aus Pflanzen. Sie muss sich irgendwie eingeklemmt haben.</p> <p>Ich beuge mich hinunter und richte die Taschenlampe unter den Busch.</p> <p>Die kleine Gestalt st&ouml;&szlig;t einen weiteren gekeuchten Schrei aus, der in schnellen St&ouml;&szlig;en erklingt und sich dann zu einem kehligen Heulen ausweitet. Sie beginnt wieder zu strampeln. Ich sehe, wie sie mit den F&uuml;&szlig;en ausschl&auml;gt.</p> <p>&bdquo;Ruhig, ruhig&ldquo;, beschwichtige ich sie. &bdquo;Ich werde dich da rausholen &hellip;&ldquo;</p> <p>Der Fu&szlig; des Kindes trifft meinen Kiefer und mir stockt vor Schreck der Atem. Sterne f&uuml;llen meine Sicht. Ich h&ouml;re den Sto&szlig; gegen meinen Knochen wie einen einzelnen Trommelschlag in der Mitte meines Gehirns.</p> <p>Sie schreit noch immer. Eigentlich wimmert sie vielmehr. Au&szlig;erdem zuckt sie immer noch wie ein Fisch, der sich in einer Leine verfangen hat.</p> <p>Ich bewege meinen Kopf au&szlig;er Reichweite der Tritte, dann greife ich nach dem n&auml;chstgelegenen Kn&ouml;chel. Nicht fest und doch mit genug Kraft, um das Bein an der Bewegung zu hindern. Die K&auml;lte ihrer Haut l&auml;sst mein Herz aussetzen. Gott, wie lange war sie hier drau&szlig;en, bevor ich sie geh&ouml;rt habe? &bdquo;Ich bin hier, um dir zu helfen, okay? Bitte, versuch, stillzuhalten.&ldquo;</p> <p>Sie antwortet nicht, aber sie verstummt und h&ouml;rt auf, sich zu bewegen.</p> <p>&bdquo;Also dann. Los geht's&ldquo;, murmele ich. Mit der freien Hand f&uuml;hre ich die Taschenlampe unter die Hecke und bewege mich auf das M&auml;dchen zu. Ich schaffe es, meinen Kopf in die L&uuml;cke zu stecken und versuche, zu ihr hochzusehen. Ich kann nicht viel erkennen, au&szlig;er dass sie etwas Gelbes tr&auml;gt. Sie ist zwischen mehreren steifen &Auml;sten eingeklemmt &ndash; es sieht fast so aus, als h&auml;tte sie versucht, durch die Hecke nach oben zu schwimmen.</p> <p>Es gibt keine M&ouml;glichkeit, sie da rauszuholen. Sie muss herausgeschnitten werden. Ich atme aus, lang und ruhig. &bdquo;Okay, Sch&auml;tzchen. Es wird eine Weile dauern, aber wir werden dich aus diesem fiesen Busch herausholen. Kannst du mir deinen Namen sagen?&ldquo; Sie antwortet nicht. &bdquo;Mein Name ist Katrina. Kat&ldquo;, sage ich ihr. &bdquo;Vielleicht kannst du mir deinen Namen sagen, wenn du nicht mehr feststeckst. Du f&uuml;hlst dich sicher unwohl, oder?&ldquo; Nichts. Sie ist wahrscheinlich zu ver&auml;ngstigt, um zu sprechen. Ich bei&szlig;e mir auf die Unterlippe. Ich will sie nicht allein lassen, aber ich muss etwas finden, um sie zu befreien. Immerhin ist der Schuppen gleich da dr&uuml;ben und die Gartenschere m&uuml;sste darin sein. Das einzige Problem ist, dass er verschlossen ist und der Schl&uuml;ssel f&uuml;r das Vorh&auml;ngeschloss im Haus liegt. Zumindest hoffe ich das. &bdquo;H&ouml;r zu, ich hole ein &hellip; Werkzeug, um uns zu helfen&ldquo;, sage ich, darauf bedacht, das Wort Schere nicht zu benutzen, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. &bdquo;Ich bin gleich wieder da.&ldquo; Doch sie sagt nichts. Ich hoffe, sie versteht wenigstens, was ich tue. Ich lehne mich zur&uuml;ck und ziehe erst meinen Kopf, dann die Taschenlampe heraus. Ich dr&uuml;cke ihren Kn&ouml;chel sanft und beruhigend, bevor ich loslasse und mich aufrichte. &bdquo;Ich brauche nur eine Minute.&ldquo; Ich drehe mich um und gehe zur&uuml;ck zum Haus, wobei ich versuche, den Schmerz in meinem Fu&szlig; zu ignorieren. Mein Kiefer pocht noch immer von dem Tritt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dort einen gro&szlig;en blauen Fleck haben werde. Aber ich muss diesem Kind helfen, bevor ich mir selbst helfe. Noch bevor ich mich ein paar Schritte entfernt habe, f&auml;ngt das M&auml;dchen wieder an zu wimmern. &bdquo;Alles ist gut&ldquo;, rufe ich zur&uuml;ck. &bdquo;Ich verspreche, ich lasse dich nicht allein.&ldquo; Das Ger&auml;usch h&ouml;rt nicht auf. Wenn &uuml;berhaupt, wird es noch lauter. Mein Herz verkrampft sich, aber ich muss weitergehen. Ich eile so schnell wie m&ouml;glich zur&uuml;ck zum Haus, vorbei an der zerbrochenen Gl&uuml;hbirne auf der Veranda. Zum Gl&uuml;ck ist der Schuppenschl&uuml;ssel immer noch dort, wo mein Vater ihn fr&uuml;her immer aufbewahrte &ndash; er h&auml;ngt an einem Nagel in der Wand, zu hoch, als dass Kinder ihn erreichen k&ouml;nnten, neben Moms gerahmtem Holly-Hobby-Druck, auf dem zu lesen ist:</p> <div class="style_letters"> <p>Egal, wo ich meine G&auml;ste bediene, es scheint, sie m&ouml;gen meine K&uuml;che stets am liebsten.</p> </div> <p>Ich schnappe ihn mir und eile zur&uuml;ck in den Schuppen. Das M&auml;dchen schluchzt jetzt, das leise Ger&auml;usch ist noch herzzerrei&szlig;ender als ihre Schreie. Obwohl es keinen Unterschied zu machen scheint, spreche ich in einem beruhigenden Ton mit ihr und erkl&auml;re ihr, was ich tue, w&auml;hrend ich den Schuppen &ouml;ffne, die Gartenschere auf dem ordentlichen Steckbrett mit Dads Werkzeugen finde und vorsichtig anfange, &Auml;ste abzuschneiden. Sie scheint sich etwas zu beruhigen, w&auml;hrend die Taschenlampe auf sie gerichtet ist. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, aber nach gef&uuml;hlten Stunden des Schneidens und Zerrens kann ich sie endlich sehen. Und meine Brust zieht sich zusammen, bis ich nicht mehr atmen kann.</p> <p>Hellbraunes Haar, blaue Augen, in denen sich vor Angst die Tr&auml;nen stauen. Ein blassgelbes Pyjama-Set mit silbernen Glitzersternen. Vier oder f&uuml;nf Jahre alt.</p> <p><i>Marisol</i>. Bevor die Panik und das Entsetzen &uuml;berhand nehmen, zwinge ich mich, sie anzuschauen, <i>wirklich</i> anzuschauen. Ihr Haar ist dunkelblond oder vielleicht hellbraun. Ihre Augen haben einen helleren Blauton. Das herzf&ouml;rmige Gesicht ist &auml;hnlich, aber der Knochenbau ist anders. Sie ist nicht meine Tochter. Sie kann es nicht sein. Sie ist ein verletztes, ver&auml;ngstigtes Kind und sie braucht meine Hilfe. &bdquo;Okay. Wir sind fast fertig&ldquo;, sage ich und greife nach dem gr&ouml;&szlig;ten Ast, der ihren Arm einklemmt &ndash; das letzte Hindernis, das ihrer Freiheit im Weg steht. Ihre weit ge&ouml;ffneten Augen bleiben auf meinem Gesicht haften, w&auml;hrend ich den Ast pr&uuml;fe und feststelle, dass sie wahrscheinlich f&auml;llt, wenn ich ihn abschneide, ohne sie zu st&uuml;tzen. &bdquo;Kannst du diesen Arm um meinen Hals legen?&ldquo;, frage ich und nicke in Richtung ihres freien Arms. Sie starrt mich weiter an. Vielleicht steht sie unter Schock. Ich nehme ihre Hand und lege ihren Arm vorsichtig um meinen Hals. Bevor ich fragen kann, ob sie sich festhalten kann, wird ihr Griff ohne Aufforderung fester, und ich sp&uuml;re eine winzige Erleichterung. Sie spricht nicht, aber wenigstens versteht sie mich. Sie wimmert ein paar Mal, w&auml;hrend ich den letzten Ast durchschneide. Als er abbricht, sackt sie mit ihrem Gewicht gegen mich. Ich lasse die Schere fallen und halte sie mit beiden Armen fest, w&auml;hrend ich mich aus dem klaffenden, ausgefransten Loch in der Hecke, in dem sie gefangen war, zur&uuml;ckziehe. &bdquo;Wir haben es geschafft!&ldquo; Ich l&auml;chle, als das Gesicht des Kindes zu mir hinaufblickt. Es ist mit Schmutz und Tr&auml;nenspuren verschmiert, zerkratzt und blutet an mehreren Stellen. &bdquo;So, jetzt bringen wir dich rein und k&uuml;mmern uns um dich. Dann werden wir herausfinden, wo du hingeh&ouml;rst.&ldquo; Sie starrt mich an, stumm und ohne zu blinzeln. Dann windet sie sich in meinen Armen, als sie versucht, sich wieder zur Hecke zu drehen. Ich runzle die Stirn. &bdquo;Was machst du &hellip;&ldquo; Ich verstumme und sehe an ihr vorbei. Da ist noch etwas im Geb&uuml;sch, das sich &uuml;ber der Schneise verfangen hat, die ich hinterlassen habe, um sie herauszuholen. Die Taschenlampe, die ich auf dem Boden liegen gelassen habe, f&auml;ngt Fetzen von mattem Wei&szlig; und Orange auf sowie ein schwaches, gl&auml;nzendes Gr&uuml;n.</p> <p>Ich setze das M&auml;dchen ab und stecke eine Hand hinein, ohne auf die kratzenden &Auml;ste zu achten, bis ich etwas Weiches f&uuml;hle. Es dauert ein paar Minuten, bis ich es schaffe, den Gegenstand herauszuziehen. Eine ausgestopfte Kattunkatze mit juwelenbesetzten, gr&uuml;nen Knopfaugen. Abgenutzt, aber offensichtlich geliebt, handgen&auml;ht an ein paar Stellen, wo sie gerissen sein muss. Das M&auml;dchen st&ouml;&szlig;t einen wortlosen Schrei aus und greift mit einer Hand nach dem Spielzeug, w&auml;hrend die andere immer noch fest um meinen Hals geschlungen ist. Ich reiche es ihr. Sie dr&uuml;ckt es an ihre Brust, dann lehnt sie sich an mich. Ein Schluchzen durchzuckt ihren K&ouml;rper. Ich unterdr&uuml;cke einen Schauer, drehe mich um und trage sie zur&uuml;ck zum Haus. Sie hat versucht, an ihr Spielzeug zu kommen, das sie von au&szlig;erhalb der Hecke nicht h&auml;tte erreichen k&ouml;nnen. Und so tief ins Geb&uuml;sch kann es auch nicht von allein gekommen sein. Jemand muss das Stofftier dort hineingeschoben haben. Wahrscheinlich derselbe jemand, der die Flutlichtbirne herausgenommen und kaputt gemacht hat. Was auch immer diesem M&auml;dchen zugesto&szlig;en ist, es war kein Unfall.</p>

Erscheint lt. Verlag 1.6.2025
Übersetzer Tobias Eckerlein, Annika Mirwald
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bundle • Domestic Thriller • Dunkle Vergangenheit • düstere Geheimnisse • Psychothriller • Rache • Spannung • Vermisstenfall
ISBN-13 9783690902946 / 9783690902946
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