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Elf Arten der Einsamkeit - Richard Yates

Elf Arten der Einsamkeit

Short stories

(Autor)

Buch | Softcover
288 Seiten
2007
btb (Verlag)
978-3-442-73730-7 (ISBN)
CHF 12,60 inkl. MwSt
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Wiederentdeckt
Sie leben in der Kleinstadthölle, fühlen sich zu Höherem berufen oder wenigstens zu Anderem und entkommen der Realität doch nicht. Die Figuren, die der große amerikanische Autor Richard Yates in seinen Erzählungen klar und präzise zeichnet, sind sämtlich gezwungen, sich mit einem Schicksal zu bescheiden, das sie nicht mögen. Daraus entsteht Konfliktstoff. Daraus entsteht eine tiefe Trauer.

Richard Yates wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Wie Ernest Hemingway prägte Richard Yates eine Generation von Schriftstellern. Die DVA publiziert Yates' Gesamtwerk auf Deutsch, zuletzt erschien der Roman "Eine strahlende Zukunft". Das Debüt "Zeiten des Aufruhrs" wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen von Regisseur Sam Mendes verfilmt. "Cold Spring Harbor", zuerst veröffentlicht 1986, ist Yates' letzter vollendeter Roman.

Doktor Schleckermaul Miss Price wußte von dem neuen Jungen bloß, daß er sein Leben größtenteils in einem Waisenhaus verbracht hatte und daß »Tante und Onkel«, die grauhaarigen Leute, bei denen er inzwischen wohnte, die rechtmäßigen, vom Wohlfahrtsamt der Stadt New York bezahlten Pflegeeltern waren. Ein weniger engagierter oder weniger phantasievoller Lehrer hätte vielleicht auf mehr Einzelheiten gedrängt, aber Miss Price war mit diesem schlichten Überblick zufrieden. Ja, er genügte, um sie mit dem Gefühl eines Auftrags zu erfüllen, was ihre Augen schon am ersten Morgen, beim Eintritt des Jungen in die vierte Klasse, hell wie die Liebe leuchten ließ. Er kam früh und setzte sich in die hinterste Reihe, kerzengerade, mit exakt unter dem Tisch gekreuzten Füßen, die Hände mitten auf der Schreibplatte verschränkt – als mache ihn die Symmetrie weniger verdächtig; als die übrigen Kinder hintereinander hereinmarschierten und ihre Plätze einnahmen, bedachte ihn jeder mit einem langen, ausdruckslosen Blick. »Wir haben heute morgen einen neuen Klassenkameraden«, sagte Miss Price; sie brachte das Offensichtliche so betont hervor, daß alle am liebsten gekichert hätten. »Er heißt Vincent Sabella und kommt aus New York City. Ich weiß, wir werden unser Bestes tun, damit er sich wie zu Hause fühlt.« Hierauf fuhren die Mitschüler herum und starrten ihn an, so daß er den Kopf ein wenig einzog und auf seinem Sitz hin und her rutschte. Normalerweise trug der Umstand, daß einer aus New York kam, dem Betreffenden ein gewisses Prestige ein, denn für die meisten Kinder war die Stadt ein ehrfurchtgebietender Ort für Erwachsene, der ihre Väter tagtäglich verschluckte und den sie nur selten, und dann in den besten Kleidern, zum Vergnügen besuchen durften. Andererseits war auf den ersten Blick zu erkennen, daß Vincent Sabella überhaupt nichts mit Wolkenkratzern zu tun hatte. Auch ohne sein verfilztes schwarzes Haar und die graue Haut hätte ihn seine Aufmachung verraten: eine lachhaft neue Cordhose, lachhaft alte Turnschuhe und ein gelbes, viel zu kleines Sweatshirt, auf dessen Vorderseite die kargen Überreste einer aufgedruckten Mickymaus zu sehen waren. Er stammte eindeutig aus jenem Viertel von New York, das man durchqueren mußte, wenn man mit der Bahn in Richtung Grand Central unterwegs war – aus jenem Viertel, wo die Leute ihr Bettzeug über die Fenstersimse hängten und sich den ganzen Tag von Langeweile benebelt hinauslehnten und wo man nichts als schnurgerade, tiefe Straßenzüge sah, die sich im Wirrwarr der Gehwege allesamt ähnelten und in denen es von graugesichtigen, in irgendein hoffnungsloses Ballspiel vertieften Jungen wimmelte. Die Mädchen fanden ihn nicht besonders hübsch und wandten sich ab; die Jungen hingegen setzten ihre Musterung fort und begutachteten ihn mit leisem Grinsen von oben bis unten. Er zählte zu der Sorte von Jungen, die sie gewöhnlich für »knallhart« hielten, zu der Sorte, deren Blick ihnen in unvertrauter Umgebung schon so manches Mal Unbehagen bereitet hatte; hier bot sich eine einzigartige Chance zur Vergeltung. »Wie sollen wir denn zu dir sagen – Vincent?« erkundigte sich Miss Price. »Ich meine, was ist dir lieber, Vincent oder Vince oder … oder wie?« (Es war eine rein akademische Frage; auch Miss Price wußte, die Jungen würden »Sabella« zu ihm sagen, und die Mädchen würden ihn überhaupt nicht ansprechen.) »Vinny’s okay«, antwortete er mit sonderbar krächzender Stimme, die sich in den häßlichen Straßen seines Viertels offenbar heiser geschrien hatte. »Ich habe dich leider nicht verstanden«, sagte Miss Price und reckte den hübschen Kopf seitwärts nach vorne, so daß ihr Haar ein Stück über die Schulter wogte. »Sagtest du Vince?« »Vinny’s recht«, wiederholte er und rutschte unruhig hin und her. »Vincent, ja? Na schön, also dann Vincent.« Ein paar Mitschüler kicherten, aber keinem wäre es eingefallen, die Lehrerin zu korrigieren; der Spaß würde größer sein, wenn man das Mißverständnis stehen ließ. »Ich mache mir nicht die Mühe, dir jeden einzelnen hier mit Namen vorzustellen, Vincent«, fuhr Miss Price fort, »im Lauf des Unterrichts lernst du ja die Namen sowieso kennen, oder? Und wir erwarten auch nicht, daß du schon am ersten Tag oder so richtig mitarbeitest; laß dir nur Zeit, und wenn du etwas nicht gleich verstehst, dann genier dich nicht und frag einfach nach.« Er ließ ein undeutliches Krächzen hören und setzte ein flüchtiges Lächeln auf – gerade lange genug, um zu zeigen, daß er gelbe Zähne hatte. »Also dann«, sagte Miss Price und ging zur Tagesordnung über. »Wir haben Montagmorgen, und als erstes stehen die Erlebnisberichte auf dem Programm. Wer möchte anfangen?« Sechs oder sieben Hände gingen hoch, Vincent Sabella war vorerst vergessen; Miss Price zuckte in gespielter Verwirrung zurück. »Du liebe Güte, heute haben wir aber viele Erlebnisberichte«, sagte sie. Die Idee zu diesen Berichten – eine fünfzehnminütige Veranstaltung, bei der die Kinder an jedem Montag ihre Wochenenderlebnisse schildern sollten – stammte von ihr, und sie war verständlicherweise stolz darauf. Auf der letzten Lehrerkonferenz hatte der Schulleiter sie dafür gelobt und betont, daß dies einen großartigen Brückenschlag zwischen den Welten der Schule und des Zuhauses darstelle und darüber hinaus eine vorzügliche Methode sei, den Kindern Selbstvertrauen und sicheres Auftreten beizubringen. Das Ganze verlange umsichtige Kontrolle – die Schüchternen müßten aus der Reserve gelockt, die Vorlauten gebremst werden –, aber im allgemeinen, so Miss Price gegenüber dem Schulleiter, hätten alle Spaß daran. Besonders heute hoffte sie, daß es Spaß machen würde, schon um Vincent Sabella die Befangenheit zu nehmen, und deswegen rief sie Nancy Parker als erste auf; niemand konnte so wie Nancy die Zuhörer in Bann halten. Die Mitschüler verstummten, als Nancy anmutig nach vorne trat; auch die zwei oder drei Mädchen, die sie insgeheim verachteten, mußten, wenn sie ihren Erlebnisbericht vortrug, Entzücken vortäuschen (so beliebt war sie), und den Jungen, deren größtes Vergnügen darin bestand, sie auf dem Pausenhof unter Gekreisch auf den Boden zu schubsen, blieb nichts weiter übrig, als sie mit albern zaghaftem Lächeln anzublicken. »Also…«, fing sie an und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund; die ganze Klasse lachte. »Aber Nancy«, sagte Miss Price. »Du kennst doch die Regel mit dem Also, wenn man mit einem Erlebnisbericht beginnt.« Nancy kannte die Regel; sie hatte sie nur verletzt, um die Lacher einzuheimsen. Sie unterdrückte ein Kichern, strich mit den zarten Zeigefingern über die Seitennähte ihres Rocks und begann, diesmal richtig, von vorn. »Am Freitag hat meine ganze Familie einen Ausflug im neuen Wagen von meinem Bruder gemacht. Mein Bruder hat sich letzte Woche einen neuen Pontiac gekauft, und er wollte uns alle auf eine Fahrt mitnehmen – um den Wagen mal auszuprobieren und so. Wir sind in die Innenstadt von White Plains gefahren und haben dort in einer Wirtschaft zu Abend gegessen, und hinterher wollten wir alle ins Kino, in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber mein Bruder hat gesagt, der Film wär’ zu gruslig und so, und ich wär’ noch zu jung dafür – oh, war ich vielleicht sauer auf ihn! Und sonst, Moment. Am Samstag war ich den ganzen Tag zu Hause und hab meiner Mutter geholfen, das Brautkleid für meine Schwester zu nähen. Meine Schwester ist nämlich verlobt, und meine Mutter näht das Brautkleid für sie. Das war am Samstag, und am Sonntag ist ein Freund von meinem Bruder zum Abendessen gekommen, und später am Abend mußten die zwei zum College zurück, und ich hab’ lang aufbleiben und mich von ihnen verabschieden dürfen und so, und ich glaub’, das war alles.« Nancy hatte immer ein sicheres Gespür dafür, wie man sich kurzfaßt – oder vielmehr, wie man das Ganze kürzer erscheinen läßt, als es tatsächlich gewesen war. »Sehr gut, Nancy«, sagte Miss Price. »Wer ist der nächste?« Der nächste war Warren Berg; er schritt nach vorne und rückte sich dabei sorgfältig die Hose zurecht. »Am Samstag bin ich zum Mittagessen rüber zu Bill Stringer«, begann er in seinem unverblümten Von-Mann-zu-Mann-Stil; in der vorderen Reihe rutschte Bill Stringer vor Verlegenheit hin und her. Berg und Bill Stringer waren dicke Freunde, und ihre Erlebnisberichte überschnitten sich oft. »Nach dem Essen sind wir mit dem Rad in die Innenstadt von White Plains gefahren. Bloß daß wir dann Dr. Jekyll und Mr. Hyde gesehn haben.« An dieser Stelle nickte er in Richtung Nancy, die, als sie einen leisen, neidischen Seufzer hören ließ, erneut ein paar Lacher einheimste. »Der Film war übrigens echt gut«, fuhr er mit wachsender Begeisterung fort. »Es geht da um so ’nen Typ, der…« »Um einen Mann, der«, korrigierte Miss Price. »Um einen Mann, der irgend so was Chemisches zusammenmixt und das Zeug dann trinkt. Und jedesmal wenn er’s trinkt, verwandelt er sich in ein richtiges Ungeheuer. Du siehst erst, wie er das Zeug trinkt, und dann, wie seine Hände auf einmal ganz schuppig werden, als wär’ er ein Reptil oder so, und dann, wie sich sein Gesicht in ein richtiges Gruselgesicht verwandelt – mit Fangzähnen und so. Die direkt aus dem Mund rausragen.« Die Mädchen schüttelten sich vor Vergnügen. »Tja«, sagte Miss Price, »ich glaube, es war wohl doch klug von Nancys Bruder, daß er sie das nicht sehen lassen wollte. Und was hast du dann nach dem Film getan, Warren?« Ein enttäuschtes »Oooch!« ging durch die Klasse – jeder wollte noch mehr über die Schuppen und Fangzähne hören –, aber Miss Price hatte es gar nicht gern, wenn die Erlebnisberichte in Nacherzählungen von Filmen ausarteten. Ohne große Begeisterung fuhr Warren fort, nach dem Film hätten sie bloß noch bei Bill Stringer im Hof herumgealbert, bis zur Abendbrotzeit. »Und am Sonntag«, sagte er, wieder munterer, »ist Bill Stringer zu mir gekommen, und mein Dad hat uns geholfen, ’nen alten Reifen auf ein langes Seil zu ziehen. Das Seil hängt an ’nem Baum. Hinter unserm Haus ist doch so ein steiler Abhang – wie ’ne Schlucht –, und wir montieren also den Reifen ans Seil, und dann hältst du dich dran fest, läufst ein kurzes Stück, hebst irgendwann die Füße hoch, und schon rauschst du über die ganze Schlucht und wieder zurück.« »Das hört sich ja toll an«, sagte Miss Price und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Und ob das toll ist«, bestätigte Warren. Aber dann fügte er, sich wieder die Hose zurechtrückend, mit gerunzelter Stirn hinzu: »Klar, ist auch ganz schön gefährlich. Wenn du den Reifen losläßt oder so, dann stürzt du übel ab. Brauchst bloß auf ’nen Stein oder so was zu knallen, und schon hast du dir’s Bein oder’s Rückgrat gebrochen. Aber mein Dad hat gemeint, er vertraut darauf, daß wir gut auf uns aufpassen.« »Na schön, Warren, ich fürchte, mehr Zeit haben wir dafür nicht«, sagte Miss Price. »Für einen Erlebnisbericht reicht’s gerade noch. Wer möchte? Arthur Cross?« Ein leises Stöhnen ertönte, denn Arthur Cross galt als der größte Langweiler der Klasse, und seine Erlebnisberichte waren immer zum Einschlafen. Diesmal handelte es sich um die dröge Schilderung eines Besuches bei seinem Onkel auf Long Island. An irgendeiner Stelle unterlief ihm ein Versprecher – er sagte »Botormoot« statt »Motorboot« –, worauf alle lachten, mit jenem spöttischen Unterton, den sie sich eigens für Arthur Cross vorbehielten. Doch das Gelächter erstarb jäh, als sich ein rauhes, trockenes Krächzen aus der hinteren Reihe hineinmischte. Vincent Sabella lachte ebenfalls, so daß die gelben Zähne deutlich zu sehen waren; alles starrte ihn an, bis er schließlich verstummte. Als die Erlebnisberichte beendet waren, begann der Unterricht. An Vincent Sabella dachten die Kinder eigentlich erst wieder in der großen Pause, und da auch nur insofern, als sie darauf achteten, ihn von allem auszuschließen. Er befand sich weder unter den Jungen, die sich um eine Reckstange scharten und der Reihe nach einen Felgaufschwung vollführten, noch stand er bei denen, die in der hinteren Ecke des Pausenhofs flüsternd den Plan ausheckten, Nancy Parker auf den Boden zu schubsen. Genausowenig gehörte er zu denen, die – eine größere Gruppe, darunter sogar Arthur Cross – einander im Kreis hinterherjagten, eine stürmische Variante des Fangspiels. Zu den Mädchen konnte er sich natürlich nicht stellen, auch nicht zu den Jungen aus den anderen Klassen, und so stellte er sich eben zu keinem. Er verharrte am Rand des Pausenhofs, direkt vor dem Schulgebäude, und tat zunächst so, als sei er vollauf mit den Schnürsenkeln seiner Turnschuhe beschäftigt. Er kauerte sich auf den Boden, band die Schnürsenkel auf und zu, richtete sich auf und machte wie zur Probe ein paar federnde, leichtfüßige Schritte; dann ging er wieder in die Hocke und hantierte erneut an den Schnürsenkeln herum. Nach fünf Minuten brach er die Sache ab, hob eine Handvoll Kiesel auf und begann sie auf ein unsichtbares, mehrere Meter entferntes Ziel zu werfen. Damit verbrachte er abermals fünf Minuten, aber noch blieben weitere fünf Minuten übrig, und ihm fiel nichts anderes mehr ein, als einfach dazustehen, die Hände zunächst in den Taschen, dann in die Hüften gestemmt, schließlich mit männlich über der Brust verschränkten Armen. Miss Price stand im Eingang und sah sich das alles mit an; die ganze Pause über fragte sie sich, ob sie in den Hof gehen und einschreiten sollte. Dann entschied sie sich doch lieber dagegen. Auch tags darauf gelang es ihr, diesen Drang während der Pause zu unterdrücken, und so an jedem weiteren Tag dieser Woche, obwohl es ihr von Mal zu Mal schwerer fiel. Eines jedoch ließ sich nicht unterdrücken – daß ihre wachsende Befangenheit im Unterricht sichtbar wurde. Sämtliche Fehler, die Vincent Sabella bei den Schularbeiten beging, sah sie ihm öffentlich nach, selbst solche, die mit dem Umstand, daß er noch neu war, gar nichts zu tun hatten, wohingegen sie seine Leistungen eigens hervorhob. Daß sie den Jungen unbedingt fördern wollte, war allzu offensichtlich, vor allem dann, wenn sie es auf besonders geschickte Weise versuchte; als sie zum Beispiel einmal eine Rechenaufgabe erläuterte, sagte sie: »Also angenommen, Warren Berg und Vincent Sabella gehen in einen Laden, und jeder hat fünfzehn Cent; eine Zuckerstange kostet zehn Cent. Wie viele Zuckerstangen hat dann jeder?« Am Ende der Woche war der Junge auf dem besten Weg, zur schlimmsten Sorte von Lieblingsschülern zu werden – zum Opfer eines mitleidigen Lehrers. Am Freitag kam Miss Price zu dem Schluß, es wäre wohl am besten, mit ihm einmal unter vier Augen zu sprechen und zu versuchen, ihn aus der Reserve zu locken. Sie könnte etwas zu den Bildern sagen, die er im Kunstunterricht gemalt hatte, das wäre womöglich ein guter Einstieg; jedenfalls beschloß sie, die Sache in der Mittagspause in Angriff zu nehmen. Das einzige Problem bestand darin, daß die Mittagspause neben der großen Pause für Vincent Sabella der schwierigste Teil des Tages war. Er ging nämlich nicht wie die anderen Kinder für eine Stunde nach Hause, sondern brachte sein Mittagessen in einer zerknitterten Tüte mit in die Schule und verzehrte es dann im Klassenzimmer – was immer eine peinliche Situation herbeiführte. Die Kinder, die den Raum als letzte verließen, sahen ihn, die Papiertüte in der Hand, unverändert an seinem Pult sitzen, und wenn zufällig eines wegen einer vergessenen Mütze oder eines liegengelassenen Pullis noch einmal zurückkam, überraschte es ihn, während er schon beim Essen war – vielleicht verbarg er dann ein hartgekochtes Ei vor den Blicken oder wischte sich mit der Hand verstohlen die Mayonnaise vom Mund. Es verbesserte die Situation keineswegs, als Miss Price nun, das Klassenzimmer noch halb voll mit Kindern, auf ihn zutrat, sich anmutig auf die Kante des Nachbartisches setzte und damit zu verstehen gab, daß sie sich ein Stück ihrer Mittagspause abknapste, um bei ihm zu sein. »Vincent«, begann sie, »ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, wie gut mir deine Bilder gefallen haben. Sie sind wirklich sehr schön.« Er murmelte etwas vor sich hin und ließ den Blick zu der Gruppe von Kindern wandern, die soeben zur Tür hinausgingen. Miss Price sprach einfach weiter und setzte ihr Loblied auf die Bilder lächelnd fort; als sich die Tür hinter dem letzten Kind geschlossen hatte, konnte er ihr endlich seine Aufmerksamkeit schenken. Er tat das zunächst nur sehr zaghaft; doch je länger sie redete, um so mehr schien er sich zu entspannen, bis sie schließlich merkte, daß sie ihn tatsächlich beruhigte. Es war so einfach und zufriedenstellend, als streichle man eine Katze. Sie hatte das Thema Bilder mittlerweile beendet und dehnte nun ihr Lob triumphierend auf weitere Felder aus. »Es ist nie leicht«, sagte sie, »wenn man an eine neue Schule kommt und sich auf die … na ja, auf die neue Arbeit und die neuen Arbeitsmethoden einstellen muß, und ich glaube, bis jetzt hast du deine Sache sehr gut gemacht. Das glaube ich wirklich. Aber sag mal, meinst du denn, es wird dir bei uns gefallen?« Er blickte kurz zu Boden und antwortete: »Denk’ schon«; dann wandte er sich ihr wieder zu. »Das freut mich sehr. Bitte laß dich nicht beim Essen stören, Vincent. Iß ruhig weiter, das heißt, wenn’s dir nichts ausmacht, daß ich hier bei dir sitze.« Inzwischen war es allerdings mehr als klar, daß ihm dieser Umstand überhaupt nichts ausmachte; er begann ein Lyoner-Sandwich auszupacken, und sie hatte das sichere Gefühl, daß er die ganze Woche über noch nie so einen gesunden Appetit gehabt hatte. Es hätte nun nicht einmal mehr eine große Rolle gespielt, wenn ein Mitschüler hereingekommen wäre und ihm zugesehen hätte, andererseits war es wohl auch ganz gut, daß das nicht geschah. Miss Price machte es sich auf dem Pult ein wenig bequemer, schlug die Beine übereinander und ließ einen der schlanken, bestrumpften Füße ein Stück aus dem Mokassin gleiten. »Natürlich«, fuhr sie fort, »dauert es immer ein bißchen, bis man sich in einer neuen Schule einigermaßen zurechtgefunden hat. Für ein neues Klassenmitglied zum Beispiel ist es, na ja, nie leicht, sich mit den übrigen Schülern anzufreunden. Ich meine damit, du mußt dir keine Sorgen machen, wenn die anderen am Anfang ein bißchen unhöflich zu dir sind. In Wirklichkeit sind sie genauso wie du darauf aus, Freundschaften zu schließen, sie sind bloß etwas schüchtern. Es braucht eben alles ein wenig Zeit und Mühe, bei dir wie bei ihnen. Nicht gar so viel, natürlich, aber doch ein wenig. Diese Erlebnisberichte zum Beispiel, die wir montags morgens haben – die eignen sich sehr gut dazu, daß man einander besser kennenlernt.

Reihe/Serie btb
Übersetzer Hans Ulrich Wolf, Anette Grube
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Eleven Kinds of Loneliness - (Sammelbd.: The Collected Stories of Richard Yates)
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 270 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur
Schlagworte AmericanDream • Amerika • AmerikanischerTraum • Erzählungen • Geschichten • modernerKlassiker • Nachkriegszeit • Schattenseite • USA • USA / Amerika
ISBN-10 3-442-73730-3 / 3442737303
ISBN-13 978-3-442-73730-7 / 9783442737307
Zustand Neuware
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