Einleitung
Rom, Ende März, 455 n. Chr.
Mühsam kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch die dicke Nebeldecke, jener Nebel, der die ewige Stadt bereits seit Tagen in seinem festen und eisigen Griff hielt. Das Volk selbst merkte jedoch wenig vom Sonnenaufgang. Gerade einmal jene Bewohner, die das Glück hatten, die höheren Ebenen jener sieben legendären Hügel zu bewohnen, konnten sich an den warmen Sonnenstrahlen erfreuen. In den dichtgedrängten Straßen jedoch würden die grauen Nebelschwaden noch länger verweilen. Hier, wo der Lärm der Stadt am größten und die Menschen am dichtesten nebeneinander lebten, hatte der Tag bereits vor Stunden begonnen. Etliche Waren für die diversen Geschäfte waren bereits im Laufe der vergangenen Nacht angeliefert worden, so dass die Händler bereits vor Sonnenaufgang lautstark ihre Produkte anpreisen konnten. Fische, Gemüse, Wein, Sklaven, aber auch Dienstleistungen wie Glücksspiel oder Sex, alles Mögliche wurde in den engen Straßen der Stadt angeboten. Hunde streunten durch die mit Kopfsteinpflaster bepflasterten Gassen und versuchten, den einen oder anderen Leckerbissen zu erhaschen. Bettler drängten sich um die Tore der Kirchen und baten um Almosen oder ein Stück Brot. Abseits der verschmutzen Gassen und vollen Läden erstreckte sich das andere Rom, das der breiten Plätze, Monumente, öffentlichen Bäder und prächtigen Villen. Auch wenn der Senat längst seine Bedeutung für die Leitung des Reiches verloren hatte und die Kaiser sich nur noch wenig um die Entscheidungen dieses ehrwürdigen Gremiums kümmerten, so bestand diese alte Institution dennoch fort. Regelmäßige Sitzungen und Debatten sorgten dafür, dass das politische Leben in der Stadt nicht vollends erlosch. Die Kaiser residierten zu dieser Zeit nur noch selten in Rom, zumeist befand sich der kaiserliche Hof im fernen Ravenna in Norditalien. Allgemein betraten die Kaiser nur noch selten die Hauptstadt des Reiches. Und noch seltener den Senat.
Jedoch nicht an diesem kühlen Märzmorgen. Denn für jene Senatssitzung, die zur Mittagsstunde beginnen sollte, hatte Kaiser Valentinian III. sein Erscheinen angekündigt.
„Sagt mir, Heraclius, wieso soll ich noch einmal einer unnötigen Sitzung alter Männer beiwohnen?“, fragte Valentinian gelangweilt, während er aus dem warmen Badewasser stieg.
Sofort eilten zwei junge Dienerinnen mit großen weißen Tüchern herbei und begannen, den Herrscher der halben römischen Welt trockenzureiben.
„Der Senat hat vor, heute über das neue Steuergesetz zu beraten, welches Ihr vor wenigen Wochen höchstselbst veranlasst habt, ehrenwerter Kaiser. Und Ihr, sofern Ihr mir gestattet, Euren göttlichen Geist daran zu erinnern, habt dem Senat im einundzwanzigsten Jahr Eurer gesegneten Regentschaft zugesichert, die Rolle, die er bei der Führung des Reiches spielt, zu achten“, antwortete der Eunuch sanft.
„Ja, aber das war doch nur so dahingesagt, damit diese senilen Greise sich noch ein letztes Mal wichtig fühlen dürfen, bevor sie aus dieser Welt scheiden!“, beschwerte sich Valentinian genervt, während seine Augen gebannt den Händen der jungen Dienerin folgten, die gerade dabei war, ihm die Innenseite seiner Oberschenkel trockenzureiben.
„Das mag schon sein, oh erhabener Augustus, dennoch habt Ihr dem Senat Euer Wort gegeben, seine Entscheidungen zu respektieren. Und auch, dass Ihr, zumindest in unregelmäßigen Abständen, einer Senatssitzung beiwohnen werdet“, entgegnete Heraclius demütig.
„Aber ich habe kein Verlangen danach, mich mit den Beschwerden und dem Gejammer dieser verstaubten Narren auseinanderzusetzen“, erwiderte der Kaiser schroff.
Es war eine leidige Diskussion, die Heraclius schon zur Genüge kannte. Seit über dreißig Jahren, seit er ein kleiner Knabe von sechs Jahren war, saß Valentinian auf dem Thron des Weströmischen Reiches. Er war es daher gewohnt, dass ihm jeder seiner Wünsche erfüllt wurde und alles seinem Willen Folge leistete. Vermutlich verhielt er sich deswegen noch manchmal wie einer jener Knaben, denen ihre Mutter ihr geliebtes Spielzeug verwehrte.
„Es gehört zu den Pflichten eines Herrschers, sich auch den unangenehmen Dingen zuzuwenden“, fuhr Heraclius mit sanfter Stimme fort.
Valentinian schwieg, seine Augen weiterhin auf das Mädchen zu seinen Füßen gerichtet.
„Nun gut, hoffentlich dauert es nicht zu lange“, sagte der Kaiser schließlich, während er mit seiner rechten Hand sanft über die Wange der vor ihm knienden Dienerin strich. „Nie hat man auch nur Zeit, das Leben zu genießen. Bringt mir mein Gewand, Heraclius!“
Das Mädchen zuckte zusammen und wandte ihr Gesicht erschrocken ab.
„Wie Ihr wünscht, oh Göttlicher!“, antwortete der Eunuch und klatschte in die Hände.
Sofort sprang die Dienerin auf und verließ gemeinsam mit dem anderen Mädchen den Raum.
„Sie gefällt mir. Sorgt dafür, dass sie heute Abend gebadet in meinem Schlafgemach auf mich wartet“, blickte der Kaiser den beiden nach.
Heraclius nickte, während zwei andere Diener den Raum betraten und damit begannen, den Kaiser in seine Gewänder zu kleiden. Sie hüllten ihn in eine weiße Tunika und begannen ihm einen prächtigen Brustpanzer aus Eisen anzulegen. Dazu kamen festlich verzierte Beinschienen. Der Kaiser sollte wie einer jener Legionäre aussehen, die für ihn in die Schlachten zogen. Außerdem diente die Rüstung einem praktischen Schutz.
„Also wirklich, muss das sein?“, beschwerte sich Valentinian.
„Leider ja, göttlicher Augustus. Bedenkt nur, wie viele Eurer Vorgänger auf grausame Weise den Tod gefunden haben“, belehrte Heraclius. „Ihr wollt doch nicht enden wie so viele augusti vor Euch?“
„Die letzte Gefahr für meinen Thron ist mit Aetius im vergangenen Jahr gestorben! Vergesst nicht, ich habe diesen machthungrigen Verräter eigenhändig erschlagen!“, rief der Kaiser wütend aus.
Wie konnte Heraclius das nur vergessen. Immerhin war er es, der dem Kaiser geholfen hatte, den mächtigen magister militum Flavius Aetius, den obersten Heerführer des Reiches, zu töten. Fast hätte er damals Mitleid mit dem völlig überraschten General gehabt, als der Kaiser, völlig von Wut und Wahn zerfressen, von seinem Thron aufgesprungen war und den Bezwinger der Hunnen eigenhändig mit seinem Schwert erschlug. Wie ein Schwein, das vom Bauern abgestochen und zum Ausbluten liegen gelassen wurde, lag der alte Feldherr damals auf dem mit Marmor verkleideten Palastfußboden. Eine schreckliche Tat, aber eine notwendige, um seinen Rivalen um die Gunst des Kaisers auszuschalten. Nie zuvor in der blutigen Geschichte Roms hatte ein Kaiser seinen obersten Militär eigenhändig ermordet. Auch der Eunuch selbst hatte sich mit seinem Dolch an der Bluttat im Palast beteiligt.
Heraclius grinste still in sich hinein. Er konnte zu Recht stolz sein. Immerhin hat er die Saat des Misstrauens über Jahre hinweg in die Ohren Valentinians gepflanzt. Und mit dem Tod Aetius war sein letzter großer Rivale ausgeschaltet worden. Seit jenem Septembertag vor einem halben Jahr war er es, der den Kaiser nach seinem Willen beeinflussen konnte und faktisch damit die halbe römische Welt regierte.
„Nein, heute nicht. Heute verzichte ich auch den Brustpanzer!“, entschied Valentinian.
Heraclius musste sich fügen. Ein kleiner, verwöhnter Knabe, der unbedingt einen süßen Apfel möchte und jedes Mal seinen Wunsch erfüllt bekam.
„Wie Ihr wünscht, mein Kaiser“, schmeichelte der Eunuch ihm.
„Immerhin steht noch eine Truppenbesichtigung an, wenn ich mich recht entsinne. Der Schutz meine Garde wird mir genügen!“, sagte Valentinian entschlossen, während die Diener ihm den Harnisch wieder abnahmen und ihn in eine purpurfarbene Toga kleideten.
Heraclius nickte. Er wusste, dass dies das Zeichen war, sich zurückzuziehen. Er verbeugte sich kurz und ließ den Kaiser allein, während er fertig angekleidet wurde.
Ein leichter Wind hatte den dicken Märznebel vertrieben und die warmen Strahlen der Frühlingssonne wärmten Heraclius’ Gesicht, als er der kaiserlichen Sänfte in Richtung Campus Martius, dem berühmten Marsfeld, folgte. Vorneweg ritt ein praefectus, welcher die Prozession kommandierte. Anschließend folgten sechs Reiter der kaiserlichen Garde sowie die Standartenträger, ebenfalls zu Pferd. Auch wenn Heraclius kein Freund des Militärs war, so war er jedoch der Meinung, dass dieses Schauspiel höchst bemerkenswert war – und gut für die Meinung des Pöbels über ihren Herrscher. Solche Prozessionen signalisierten Stärke und Macht des Kaisers und spiegelten somit auch seine, Heraclius’ Macht wider. Die kaiserliche Sänfte wurde von acht Sklaven, vier vorne und vier hinten, getragen. Hätte sich der Kaiser doch nur entschlossen, statt der Sänfte das Pferd zu besteigen. Ein Kaiser, der an der Spitze einer Kavallerieeinheit durch die Stadt ritt, hätte sowohl auf das Volk als auch auf den Senat mehr Eindruck gemacht als ein Kaiser, der sich hinter Vorhängen vor der Außenwelt versteckt. Doch Heraclius wusste, dass Valentinian kein Gespür für solche kleinen Details und die daraus...
| Erscheint lt. Verlag | 28.5.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Allerlei • Belletristik • Patrick Seiser • Sonstiges |
| ISBN-10 | 3-7116-0531-1 / 3711605311 |
| ISBN-13 | 978-3-7116-0531-3 / 9783711605313 |
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