Vom Nil an die Elbe (eBook)
174 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
9783819288135 (ISBN)
Maike Dethert ist seit mehr als 20 Jahren Lehrerin an einer Beruflichen Schule in Hamburg. Sie hat unzählige Schüler aus aller Welt bei ihren ersten Schritten in Deutschland begleitet, kennengelernt und ins Herz geschlossen. In diesem Buch erzählt sie von einigen von ihnen.
Ali: Der Gärtner, der Bücher liebt
Ali ist 24 Jahre alt und wirkt reif für sein Alter, ruhig und angenehm zurückhaltend. Er legt Wert darauf, stets gepflegt gekleidet zu sein und seine kleine Wohnung im östlichen Hamburger Stadtgebiet ist immer aufgeräumt. „Das ist Wertschätzung gegenüber sich selbst“, sagt Ali dazu. Er liest auf der Fahrt zu Arbeit gern deutsche Ratgeber und Fachbücher zu psychologischen Themen. Aber auch ägyptische Romane, besonders von Naguib Mahfuz und Alaa al-Aswani, liebt er sehr. Teilweise hat er sie schon mehrfach gelesen. Und seine Arbeit liebt er ebenfalls: Er hat seine Ausbildung zum Gärtner vor einiger Zeit erfolgreich abgeschlossen und arbeitet für die Stadt Hamburg als Gärtner im Westen Hamburgs. Als junge Fachkraft ist er sehr begehrt und es war kein Problem für ihn, nach der Ausbildung eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Er ist sehr stolz auf das, was er bisher aus seinem Leben hier in Deutschland gemacht hat und überlegt jetzt, welche weiteren Möglichkeiten sich für ihn bieten. Vielleicht die Meisterschule besuchen? Oder studieren?
Mittlerweile wird Ali manchmal gefragt, ob er hier in Deutschland geboren ist. Das ist ihm gerade erst wieder mit den neuen Kolleginnen und Kollegen passiert. „Nein“, sagt er dann, „ich bin nicht hier geboren.“ Als nächstes kommt dann immer diese Frage: „Und woher kommst du dann? Syrien?“ „Aus Ägypten.“ „Ägypten! Das ist ja interessant. Und wie lange lebst du schon hier?“ „Sieben Jahre.“ „Wow, dein Deutsch ist ja richtig gut.“
Häufig sind die Gespräche dann erstmal beendet. Manchmal fragt noch jemand weiter: „Und wie bist du hierhergekommen?“ „Über das Mittelmeer.“ „Echt? Das ist ja unglaublich.“ Meist endet das Gespräch dann vorerst, denn die wenigsten fragen weiter nach Einzelheiten. Man weiß ja ungefähr, wie so eine Reise über das Mittelmeer aussieht, kennt die Bilder und Berichte. Und jetzt plötzlich steht man einem Menschen gegenüber, der genau das erlebt hat – da weiß man dann nicht, wie man weiterreden soll. Der Smalltalk unter Kollegen ist dann in der Regel beendet. Dieser sympathische, fleißige junge Mann, mit dem man ganz leicht ins Gespräch kommt – was hat er alles erlebt? Darauf kann man sich nicht sofort einlassen. Nur Menschen, die Ali näher kennenlernen, erfahren nach und nach die Einzelheiten.
Karte: Das Nildelta
Kindheit im Nildelta
Wie fängt Alis Geschichte an? Seine Kindheit erschien ihm ganz normal. Geboren wurde er in einem kleinen Dorf in der Provinz Sharkia, als der zweitjüngste Sohn von insgesamt 6 Kindern. Alle mussten von Anfang an mitarbeiten, denn sein Vater Abdo verdiente als Landarbeiter nicht viel. Alis Mutter Samiha versorgte den Haushalt und die Tiere. Die Familie hielt viel Geflügel. Die zahlreichen Enten, Gänse und Hühner dienten dazu, die Familie satt zu bekommen. Sie wurden entweder selbst verwertet oder weiterverkauft, um das knappe Geld etwas aufzubessern. Außerdem arbeiteten Samiha und auch ihre Kinder auf den Feldern anderer Leute.
Wie viele Ägypter in dieser Generation hatten auch Alis Eltern nie eine Schule besucht. Umso wichtiger war es Alis Mutter, dass die Kinder – besonders die Söhne – zur Schule gingen und etwas aus ihren Möglichkeiten machten. Mohammed, ihr ältester Sohn, war ein guter und fleißiger Schüler. Den Eltern war es wichtig, dass er viel lernte, damit er es einmal besser haben sollte als sie. Nach der Schule arbeitete Mohammed gemeinsam mit seinen beiden jüngeren Schwestern Rada und Huda, um die Schulbücher finanzieren zu können. Wie viele ägyptische Kinder lernte er den Koran auswendig und verhielt sich in vielerlei Hinsicht vorbildlich gegenüber seinen Geschwistern. Als Mohammed merkte, dass seine jüngeren Brüder in der Schule nicht richtig Lesen und Schreiben lernten, übernahm er die Rolle ihres Lehrers. Er schaffte Bücher für sie an und unterrichtete Ali und seinen Bruder Ahmed jeden Abend. Er war dabei sehr streng, wofür Ali ihm heute dankbar ist. Mohammed arbeitet mittlerweile als Lehrer für arabische Sprache in seiner Heimatstadt. Sein Gehalt ist bescheiden, Lehrer haben keinen guten gesellschaftlichen Status in Ägypten. Mohammed wäre gern Ingenieur geworden, aber für ein solches Studium fehlte seiner Familie das Geld.
Ali eiferte seinem Bruder Mohammed in vielem nach. Genau wie Mohammed lernte er den Koran auswendig. Ali fand heraus, dass er eine besonders schöne Stimme hatte und mit seiner Koranrezitation die Menschen bewegen konnte. Er war ein schüchternes, zurückhaltendes Kind und half seinem Vater gern bei der Arbeit. Auf einem kleinen Stück Land bauten sie unter anderem Reis an, um genug Vorrat für den Winter zu haben. Teilweise gab es zuhause so wenig Geld, dass ihm die Mutter nicht einmal eine neue Hose kaufen konnte, wenn seine alte kaputt war. Ali erinnert sich, wie er einmal im Unterricht in der Koranschule die ganze Zeit an eine Wand gelehnt stehen musste, damit niemand die Löcher in seiner Hose sehen konnte. Solche Erlebnisse hatten aber die meisten Jungen, die er kannte. Zwar gab es meistens ausreichend Essen, aber darüber hinaus konnte sich die Familie nichts erlauben. Selbst für einen Schulausflug zu den Pyramiden, für den die Schüler etwas bezahlen mussten, war nie Geld da. Ein eigenes Fahrrad oder ähnliches war dagegen undenkbar, der absolute Luxus. Und Urlaub zu machen war für Ali und seine Angehörigen nie möglich.
Alis Leben schien vorgezeichnet: Mit 18 Jahren oder kurz danach würde er für drei Jahre zum Militär eingezogen werden. Weil die Familie weder einflussreich war noch Beziehungen hatte, würde das keine angenehme Zeit für ihn werden. Die Einsätze würden wahrscheinlich gefährlich sein und ihn körperlich sowie psychisch extrem belasten. Außerdem sterben immer wieder in Ägypten Wehrpflichtige bei riskanten Operationen.
Irgendwann würde Ali es mit viel Anstrengung schaffen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Dies ist das Ziel der meisten jungen Ägypter, auch wenn es immer mehr von ihnen gibt, die das nicht schaffen. Sie finden keine Arbeit, von der sie leben können, und sind so gezwungen, bis weit ins Erwachsenenalter hinein wie Teenager bei ihren Eltern zu leben und von ihnen finanziell abhängig zu sein. Ganz bestimmt müsste Ali deshalb eine Weile im Ausland arbeiten, auf einer Baustelle in Jordanien oder in den Golfstaaten beispielsweise. Dann könnte er genug Geld verdienen, um die Grundlage für eine eigene Familie zu schaffen. Die Frau würde zuhause alle versorgen, das Kochen und Wäschewaschen erledigen und sich um die Familie kümmern. Sein Leben würde durch harte Arbeit gekennzeichnet sein, die Erwartungen an ihn waren klar: Für die Familie sorgen, auch wenn dabei die eigenen Knochen kaputt gingen. Dinge wie Urlaube oder ein eigenes Auto waren auch in seinem zukünftigen Leben nicht vorgesehen. Für Ali war es alltäglich, dass viele männliche Verwandte im Ausland arbeiten, zumindest zeitweise. Die meisten von ihnen in der arabischen Welt, also vor allem Saudi-Arabien, Jordanien oder Kuwait. Entsprechend hatte auch er den Traum von einem besseren Leben, den so viele junge Ägypter träumen. Ein wenig mehr Komfort, schöne Kleidung, ein tolles Handy, vielleicht ein eigenes kleines Zimmer für etwas mehr Privatsphäre… das scheint im Alltag im Ägypten für viele ein ferner Traum zu sein.
Alis älterer Bruder Sayed hatte schon mit 13 Jahren die Schule verlassen und arbeitete seitdem auf Baustellen. Schon im frühen Teenageralter half Ali ihm gelegentlich bei dieser Arbeit. Meistens war er aber damit beschäftigt, seinem Vater oder Onkeln bei der Feldarbeit zu helfen. Dass er dafür die Schule vernachlässigte, interessierte niemanden. Aber sein Bruder Mohammed unterrichtete ihn zuhause mit selbst angeschafften Büchern. Oft war Ali dabei unmotiviert und genervt und wollte lieber etwas anderes machen. Aber Mohammed war konsequent und achtete sehr darauf, dass Ali die Übungen gewissenhaft bearbeitete. Zu diesem Zeitpunkt konnte Ali noch nicht wissen, wie entscheidend das Lernen mit Mohammed für seinen weiteren Lebensweg sein sollte.
Eine neue Zukunft in Europa?
Alis Familie war - wie die meisten anderen in dem Dorf auch – sehr religiös und ein großer Teil des sozialen Lebens fand bei Moscheebesuchen statt. Irgendwann trafen Ali und seine Brüder in der Moschee einen Nachbarn, der ihnen von seinem Sohn Hussein in Deutschland erzählte. Was für ein schönes Leben er dort hätte und wie gut er seine Familie jetzt unterstützen würde! Von ihnen müsse auch unbedingt jemand nach Deutschland gehen, dann hätten es hier alle besser! Wenigstens für eine Weile, irgendwann könnte man als reicher Mann zurückkommen. Sayed und Ali waren Feuer und Flamme. Sayed war 19 Jahre alt und wollte sich am liebsten sofort auf den Weg über das Mittelmeer machen. Aber als sie sich genauer erkundigten, erfuhren sie, dass Jugendliche ab 18 Jahren bereits in Italien zurückgeschickt würden, nur...
| Erscheint lt. Verlag | 26.5.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Schlagworte | Ägypten • Integration • Islam • Jugendliche • Migration |
| ISBN-13 | 9783819288135 / 9783819288135 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich