Sieben Stock Dorf (eBook)
224 Seiten
Residenz Verlag
978-3-7017-4750-4 (ISBN)
Barbara Nothegger geboren 1978, studierte Handelswissenschaften in Wien und Mexico City. Sie arbeitet seit vielen Jahren als Wirtschaftsjournalistin und schrieb u. a. für 'Die Zeit', 'Trend', 'Kurier' und 'Fleisch Magazin'. 2013 zog sie mit ihrem Mann und zwei Söhnen in das Wohnprojekt Wien. Das Haus erhielt 2014 den Österr. Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit und wird 2025 gemeinsam mit den anderen von einszueins Architekten geplanten Wohnprojekten mit dem UN World Habitat Award ausgezeichnet.
Zuhause
»Welche Uni besuchen? Welche Karriere verfolgen? Wen heiraten? Alles wichtige Fragen – aber keine so bedeutend wie die wichtigste Entscheidung, die du jemals zu trefen hast: wo du leben sollst.«
Richard Florida, »Who's your city?« (2008)
Es gibt Momente im Leben, in denen die großen Fragen auftauchen. Jahrelang leben wir dahin, ohne uns näher Gedanken über das Wie, Wo und Warum zu machen. Doch meistens passiert es dann doch, dass das Leben plötzlich an die Tür klopff und Entscheidungen verlangt: Wohin soll es gehen, mit wem und wie? In meinem Leben ist dieser Moment, als ich erfahre, dass ich schwanger bin. Ich bin überglücklich, dass mein Freund Clemens und ich Eltern werden. Doch es fühlt sich auch an, als stünde ich an einer Schwelle, an der nun bestimmte Fragen dringend beantwortet werden müssen: Wie soll unser Kind aufwachsen? Auf dem Land oder in der Stadt? Wer wird für unser Kind da sein, außer wir Eltern? Wird es frei aufwachsen können, zwischen Wiesen und Feldern so wie wir damals? Welche Freunde wird es haben? Und wird es sich geliebt, sicher und geborgen fühlen? Egal, welche Bilder ich mir in meinem Kopf ausmale, welche Möglichkeiten ich durchspiele – all diese Überlegungen münden am Ende doch in der immer gleichen Frage: Wie wollen wir wohnen?
Als ich ein Kind war, hatten ich und meine beiden Schwestern ein Spiel, das sich einfach nur »Haus« nannte. Es war eine Art Fantasiespiel, das wir selbst erfunden hatten. In der alten Garage unserer Tagesmutter Rosi schoben wir verstaubte Sesseln zusammen, legten Holzstücke und Steine auf den Boden, sammelten Besen, Schaufeln und alte Töpfe. Wir nahmen zerschlissene Decken und zimmerten uns aus all diesen Gegenständen Räume. Viele Stunden verbrachten wir damit, in unserer Vorstellung Essen zuzubereiten, Gäste in unseren Wohnzimmern zu empfangen und uns gegenseitig zu besuchen. Ich stellte mir dabei immer vor, wie mein eigenes Zuhause sein würde, wenn ich groß bin. Ich weiß heute nicht mehr im Detail, wie es aussah. Es ging jedenfalls in Richtung Villa mit Garage, Sauna, Kino und vielen Kinderzimmern. Aber ich erinnere mich genau an das Gefühl, das ich dabei hatte. Ich war glücklich, weil ich ein schönes Haus hatte.
In gewisser Weise ist dieses »Haus«-Spiel universell: Wie ich damals, spielen Millionen von Kindern rund um den Globus mit Häusern. Sie besitzen Barbie-Häuser und welche für andere Puppen, sie bauen Häuser aus Karton, formen matschigen Sand zu Burgen und verbringen ganze Tage damit, bunte Lego-Steine zu kunstvollen Wohnhäusern, Feuerwehrstationen und Bauernhöfen zusammenzubauen. Wenn sie größer sind, tauchen sie in die virtuelle Welt ab und zocken Minecraff auf der Konsole. Das ist nicht verwunderlich, denn wie wir wohnen, beeinflusst maßgeblich, was für ein Leben wir führen.
Ein Zuhause kann uns Sicherheit, Rückzug und Geborgenheit bieten. Es kann aber auch genau das Gegenteil mit uns machen: Wir können daheim beengt und deswegen belastet sein. Wie wir wohnen, bestimmt, was für sozialen Kontakte wir haben und welche Menschen uns tagtäglich über den Weg laufen. Es macht einen Unterschied, ob wir Tür an Tür mit Menschen wohnen, die manchmal mit uns plaudern und helfen, falls wir krank sind. Es prägt auch den Zugang zur Natur. Den meisten von uns geht es besser, wenn sie einen Baum vor ihrem Fenster haben oder sogar einen Garten hinterm Haus. Wer hingegen an einer lauten Straße wohnen muss, ist tagtäglich mit Autolärm und Asphalt konfrontiert. Wie wir wohnen, sagt auch etwas darüber aus, wie groß unser ökologischer Fußabdruck ist – ob wir das Auto brauchen, um in die Arbeit und zum Supermarkt zu kommen, oder wir unsere Wege zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen können. Ob wir Strom und Energie fürs Heizen konsumieren oder nicht. Und es beeinflusst, wie viel wir arbeiten müssen, um uns unser Zuhause leisten zu können.
Ich und mein Freund Clemens leben in Wien. Einer Stadt, die in Bezug auf Wohnen als Paradies gilt – ist sie doch weltweit ein Vorbild für sozialen Wohnbau. Für unsere 90 Quadratmeter große Altbauwohnung mit knarrendem Parkett, 100 Jahre alten Fenstern mit Holzrahmen und vier Meter hohen Wänden zahlen wir Anfang der 2010er-Jahre 700 Euro Miete pro Monat. Wir leben recht unbeschwert dahin, in einer Wohnung, die eigentlich als Übergangsbleibe zwischen Studienende und Berufseinstieg gedacht war, die aber so bequem ist, dass sie ein fixes Daheim geworden ist. Ohnehin sind wir wenig zu Hause, weil mein Job als Journalistin bei einem Wirtschaffsmagazin mich sehr fordert und ich viel unterwegs bin. Trotzdem ist es seltsam: Wir fliegen nach Bolivien, um bei der Hochzeit eines befreundeten Paars dabei zu sein, trauen uns aber nicht, unsere Nachbarn um etwas Zucker zu fragen. Wir übernachten unter freiem Himmel auf Berggipfeln in den Alpen, während die Sonne den ganzen Tag nicht in unsere Wohnung scheint. Was für ein Haus war es nochmal, das wir uns für unser Leben vorstellten?
Seit ich schwanger bin, bemerke ich, wie mich einige Eigenschaffen unserer Altbauwohnung nach und nach stören – und was ich mir stattdessen wünsche. Sie liegt im ersten Stock, nordseitig, und ist deshalb ein finsterer Ort. Off zieht ein Hauch von Calamari fritti mit Knoblauch von der darunterliegenden Pizzeria über den Hinterhof in unsere Küche. Ich mag diesen Geruch nicht, und so bleiben unsere Fenster off geschlossen. Vor allem im Sommer ist das deprimierend – immer, wenn wir an einem lauen Abend in der Küche sitzen und dazu gerne eine Brise Sommer durchs Fenster spüren würden. Dann fühle ich mich eingesperrt.
Die Lage unserer Wohnung nahe der Wiener Innenstadt fand ich immer toll: Nette Cafés und Bars sind vor der Haustüre, Theater und Kino nicht weit. Doch mit dem Gedanken an unser Kind sehe ich die dichte Urbanität auf einmal als Bedrohung. Ich beobachte das vierjährige Nachbarskind, wie es quietschend vor Freude mit seinem Laufrad vor der Haustüre losstartet und nach ein paar Metern von seiner Mutter hinterhergeschrien bekommt: »Stopp, nicht so weit, da kommt die Straßenbahn!« Was nützen mir Plätze zum Ausgehen, wenn Kinder hier keinen Schritt alleine machen können? Der freie Bewegungsraum endet an den eigenen vier Wänden.
Und ich muss zugeben, dass manchmal eine Art von Einsamkeit leise daherkriecht. Es fühlt sich an, als sei ich getrennt von der Welt, von anderen Menschen, vom Leben. Als wäre ich in einem Glasgefäß gefangen und müsste zusehen, wie außerhalb alle fröhlich tanzen. Dieses Gefühl schlägt mich nieder. Seit ich zum Studium nach Wien gezogen bin, lebe ich zweihundert Kilometer weit weg von meiner Familie. Ich habe zwar Freund*innen, doch wenn ich mich nicht verabrede, gibt es niemanden –, außer Clemens – der einfach mal klopff und fragt, wie es geht. Es gibt in unserem Haus keine zufälligen Begegnungen, keine ungezwungenen Gespräche, spontane Einladung zum Essen. Außer Harri, einem aus Rumänien zugewanderten Elektriker, kenne ich keinen anderen Nachbarn näher. Und selbst bei Harri, der mir zwar manchmal selbst gefangenen Fisch aus der Donau schenkt, habe ich Hemmungen, einfach so für einen Tratsch zu klingeln. Wie einsam werden wir sein, das Baby und ich?
Ich muss immer wieder daran denken, wie es war, als ich klein war. Das Zuhause der Kindheit ist für die meisten von uns ein sehr besonderer Ort. Wie off denken wir als Erwachsene noch zurück an unser Elternhaus, an den Küchentisch, wo wir zusammengegessen sind, erinnern uns an das Geschirr und den wackligen Stuhl. Wir haben den Geruch des Leders der Wohnzimmercouch in der Nase, auf der wir herumgesprungen sind. Wir hören die Schallplatten, zu denen wir mit unseren Freundinnen getanzt haben, während die Erwachsenen drüben im Esszimmer getrunken und gelacht haben. Es ist erstaunlich, wie viele Details wir gespeichert haben. Dabei geht es nicht um die Dinge, die uns umgaben, sondern das Leben, das wir führten. Die Dinge sind wie Fotos, die wir anschauen, und plötzlich fällt uns detailliert die Szene ein, in der das Foto entstanden ist.
Aus der Soziologie ist bekannt, dass, wenn Menschen das Nest für ihre eigene Familie bauen, sie auf diese Kindheitserfahrungen zurückgreifen. Sie sind eine Referenz für das, was wir uns für unsere eigenen Kinder wünschen. Wir orientieren uns an den gelernten »Wohnmustern« und vollziehen dabei einen biografischen Zirkelschluss. Tatsächlich ist das auch bei mir so. Seit ich schwanger bin, versuche ich herauszufinden, was es genau war, das mir eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschert hat. All die Geschichten, die mir dazu einfallen, drehen sich im Grunde um zwei Aspekte: Freiheit und mein Dorf.
Was die Freiheit betrifft, sind meine Erfahrungen wohl denen anderer Kinder sehr ähnlich, die in den 1980er-Jahren aufgewachsen sind. Ich wurde in einem mächtigen Dreikanthof in einem kleinen Dorf in Oberösterreich groß. Meine Eltern betrieben im Ortszentrum eine Fleischerei und ein Gasthaus. Das Haus beherbergte mehrere Wohnungen (neben den Großeltern und meiner Tante lebten auch nichtverwandte Mieter*innen dort) sowie Geschäffsflächen. Meine beiden Schwestern und ich verbrachten unsere Zeit nicht in unserer Wohnung im ersten Stock, sondern zwischen Gaststube und Geschäff. Mein Bewegungsradius erstreckte sich deswegen weit über die Wohnungstüre hinaus, weshalb ich ein enormes Freiheitsgefühl entwickelte. Im ganzen Haus warteten Abenteuer – vom verlassenen Dachboden bis zum letzten Winkel in der Waschküche....
| Erscheint lt. Verlag | 14.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| ISBN-10 | 3-7017-4750-4 / 3701747504 |
| ISBN-13 | 978-3-7017-4750-4 / 9783701747504 |
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