Assisi, Italien
Das gemeinsame Gebet mit seinen Brüdern hatte Laurentius in den letzten Wochen am meisten vermisst. Er schwankte vor Schwäche und musste sich an der Kirchenbank abstützen. Trotz Dr. Andreottis Rat, seinen Tee mit einem Löffel Honig zu versüßen, litt er in den letzten Tagen unter ständigem Schwindel. Den neugierigen Blicken der anderen hielt er stand, doch Angelos unverhohlener Spott schwächte ihn zusätzlich. Raphael hatte ihm untersagt, mit seinen Ordensbrüdern über die Nacht der Erscheinung zu sprechen, und an diese Anweisung hielt er sich. Doch Laurentius war fest entschlossen, seiner Überzeugung treu zu bleiben und dies durch seine Haltung zu zeigen. Deshalb fastete er weiterhin. Sein Bewusstsein für das Leid jener, deren Schicksal er teilte, stärkte ihn.
Seit Langem quälte ihn die Frage, warum der heilige Franziskus ausgerechnet ihm erschienen war. Hatte er ihm eine besondere Aufgabe anvertraut? Oder war er lediglich zufällig Zeuge des Geschehens in der Basilika geworden? Laurentius fand auf diese Fragen keine Antwort.
Francesco, der Psychologe, war ihm keine Hilfe; er versuchte stattdessen, Laurentius zu Kindheitserinnerungen zurückzuführen, die für ihn längst keine Bedeutung mehr hatten. Trotzdem mochte Laurentius Francesco und freute sich auf ihre täglichen Gespräche. Dass Raphael angedeutet hatte, ihm könnte die ewige Profess verwehrt bleiben, schmerzte ihn zutiefst. Über die Jahre war seine Verbundenheit mit Gott stetig gewachsen. Er war entschlossen, sein Leben Gott zu weihen, und empfand dabei keinerlei nervliche Belastung, wie der Guardian vermutete. Einzig Angelos Bosheiten stellten eine Belastung dar, aber Laurentius hatte bereits Schlimmeres überstanden.
Sich zwischen dem Leugnen seines Erlebnisses und dem Risiko, die ewige Profess nicht ablegen zu dürfen, entscheiden zu müssen, sah er als unauflösbares Dilemma. Er konnte weder das eine noch das andere aufgeben. Seit seiner Rückkehr zum Gemeinschaftsleben schien die turbulente Nacht für viele bereits vergessen zu sein. Das andauernde Fasten zehrte zusätzlich an seinen Kräften. Er sollte es am vierzigsten Tag beenden, doch der Gedanke an feste Nahrung erschien ihm wie ein Verrat an dem Wunder.
Das Ausmaß seiner Anspannung offenbarte sich durch einen scheinbar trivialen Vorfall. Ein externer Küchenhelfer hatte versehentlich eine Ölflasche umgestoßen. Laurentius, der die Pfütze nicht bemerkte, rutschte aus und stürzte. Auf dem Boden liegend, schluchzte er haltlos und war unfähig, sich zu beruhigen oder aufzustehen. Raphael und Francesco wurden herbeigerufen und beschlossen, Dr. Andreotti zu konsultieren.
Der Arzt verabreichte Laurentius ein Beruhigungsmittel. Dass der junge Mönch gefastet hatte, wusste er, deshalb ordnete er den nervlichen Zusammenbruch diesem Umstand zu. Als Laurentius jedoch bei dem Versuch aufzustehen kollabierte, bestand der Doktor darauf, ihn in die Klinik zu überweisen.
Raphael schlug vor, Laurentius im Kloster zu versorgen, doch Dr. Andreotti lehnte ab: „Wir müssen abklären, ob er durch den Sturz verletzt wurde. Hinzu kommt sein allgemein schlechter Zustand.“ Der Guardian ließ zu, dass sein Schützling auf einer Trage festgeschnallt und in den Krankenwagen gebracht wurde. Laurentius war es gleichgültig. Er fühlte sich seltsam entfremdet, fast so, als würde er das Geschehen wie in einem Film beobachten.
Im Krankenhaus kümmerte man sich um ihn. Zuerst wurde er gründlich befragt und untersucht. Blutproben wurden entnommen und er wurde geröntgt. Zum Schluss erhielt er eine Infusion und wurde zum Schlafen gebracht. Als er erwachte, sah er in gütige Augen, die ihn aufmerksam beobachteten, und sofort kamen ihm die Tränen.
Die Ärztin lächelte freundlich, während sie eine Spritze aufzog. „Hallo, ich bin Dr. Borissa. Sie haben in letzter Zeit viel durchgemacht. Ich gebe Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung, und dann frühstücken Sie erst einmal ordentlich.“
Laurentius ließ es geschehen. Obwohl er eine Abneigung gegen Spritzen hatte, genoss er ihre Fürsorge.
Dr. Borissa klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle, überprüfte den Tropfregler und sagte: „Die Infusion wird Ihnen helfen, wieder zu Kräften zu kommen. Bis später.“
Tatsächlich verspürte Laurentius schon nach kurzer Zeit Appetit. Sein Blick fiel auf den Teller, den die Schwester auf dem Nachttisch abgestellt hatte.
Als Dr. Borissa am Nachmittag zurückkehrte, fühlte er sich bereits so viel besser, dass er aufrecht im Bett saß und die Sperlinge vor dem Fenster beobachtete.
Die Ärztin, kaum älter als er, hatte ein schmales Gesicht – wie eine Madonna, dachte Laurentius – und gütig blickende, bernsteinfarbene Augen. Er starrte sie unverhohlen an, da sie ihn an seine Mutter erinnerte.
Mit einigen Unterlagen in der Hand las Dr. Borissa ihm Werte vor, deren Bedeutung er nicht verstand.
„Haben Sie zugehört, Laurentius? Ich darf Sie doch so nennen? Was Sie Ihrem Körper zugemutet haben, war nicht ungefährlich. Es wird eine Weile dauern, bis Sie wieder vollständig genesen sind, aber das schaffen wir. Falls Sie sich aussprechen möchten: Wir haben hier einen ausgezeichneten Klinikseelsorger. Ich würde ihn gerne in ein paar Tagen zu Ihnen schicken, wenn es Ihnen besser geht.
Sind Sie damit einverstanden?“
Laurentius räusperte sich. Ein Kloß im Hals hinderte ihn am Sprechen, also nickte er ergeben. Dieser Frau konnte er nichts abschlagen.
Am frühen Abend besuchte ihn der Guardian. Bei Raphaels Anblick liefen Laurentius erneut die Tränen über das Gesicht. Er schämte sich, weil er sich so schwach fühlte und es ihm nicht gelungen war, das Fasten zu beenden.
Doch Raphael war ihm nicht böse. Mit beruhigenden Worten versicherte er ihm, dass er froh sei, dass der Sturz keine schlimmeren Folgen gehabt habe. Laurentius werde sich bald erholen, und alles würde gut werden. Er wolle ihn nicht weiter aufwühlen, fügte er hinzu und verabschiedete sich bald.
Am nächsten Morgen fühlte Laurentius sich stark genug, um zu duschen. Danach hatte er den Plan, sich anzukleiden und im Klinikpark ein paar Schritte zu gehen. Doch die Erschöpfung übermannte ihn, und er flüchtete sich zurück ins Bett. Mit klopfendem Herzen lag er da und strich unruhig mit den Händen über die Bettdecke. Ihm wurde bewusst, dass er sich beinahe zu Tode gehungert hätte. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Auf diese Weise erwies er sich dem Wunder gegenüber nicht würdig. Er musste wieder zu Kräften kommen. Mit jedem Bissen zwang er sich, zu essen, bis das Frühstück vollständig vertilgt war.
Von Tag zu Tag fühlte er sich stärker. Der Tropf war nicht mehr nötig, und der Zugang in seiner Armvene wurde entfernt, sodass er sich endlich frei bewegen konnte.
Monsignore Santis las den Namen auf dem Etikett an der Tür des Krankenzimmers. Es war der richtige Raum. Da auf sein erstes Klopfen keine Reaktion erfolgte, klopfte er erneut und trat ein. Laurentius blickte auf.
„Buongiorno! Ich habe angeklopft.“
„Oh … Buongiorno! Ich war in Gedanken, dass ich gar nichts gehört habe.“
„Mein Name ist Santis. Ich bin der Klinikseelsorger. Darf ich mich setzen?“
„Ja, bitte. Dort drüben ist ein Stuhl. Ich heiße Laurentius.“
Der Monsignore holte den Stuhl, stellte ihn bedächtig eine Armlänge neben dem Bett ab und setzte sich lächelnd. Das Sitzmöbel ächzte bedenklich unter seinem Gewicht, doch er störte sich nicht daran.
Die beiden Männer hatten auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Laurentius war spindeldürr, blass und jung, der Monsignore war übergewichtig, sonnengebräunt und weit in den Siebzigern.
Sie musterten einander schweigend. Beiden war die Stille vertraut, und beide verließen sich auf ihr Gespür, das Gegenüber einschätzen zu können.
Schließlich brach der Monsignore das Schweigen. „Ich habe Zeit mitgebracht“, sagte er und nickte Laurentius aufmunternd zu.
Laurentius erwiderte das Lächeln.
„Sie waren in Gedanken, sagten Sie. Darf ich fragen, was Sie bewegt?“
Laurentius überlegte, was er dem Monsignore erzählen konnte. Raphael hatte ihm untersagt, im Kloster von dem Wunder zu sprechen, aber von der Welt jenseits des Klosters war nicht die Rede gewesen.
„Sicherlich wissen Sie, dass ich der Schweigepflicht unterstehe, auch wenn es sich nicht direkt um ein Beichtgespräch handelt“, fügte der Monsignore ermunternd hinzu.
Das war das richtige Stichwort. Laurentius atmete auf. „Sie müssen über das, was ich Ihnen berichte, nicht schweigen“, sagte er. „Ich selbst habe leider viel zu lange geschwiegen.“
Der Monsignore blickte ihn aufmerksam an.
Laurentius setzte sich im Bett auf und begann stockend, dann immer flüssiger zu erzählen. Er gab dem Geistlichen Einblicke in seine Kindheit, berichtete von seinen schweren Lehrjahren, davon, dass ihm die Heiligen Halt gegeben hatten, und von dem großen Glück, das er empfunden hatte, als die Franziskaner ihn aufgenommen hatten. An diesem Punkt musste er eine Pause machen. Er hatte immer schneller...
| Erscheint lt. Verlag | 20.5.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Belletristik • Irene Matt • Krimi • Spannung |
| ISBN-10 | 3-7116-0601-6 / 3711606016 |
| ISBN-13 | 978-3-7116-0601-3 / 9783711606013 |
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