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Sternwanderer - Neil Gaiman

Sternwanderer

Der Roman zum Film

(Autor)

Buch | Softcover
240 Seiten
2007
Heyne, W (Verlag)
978-3-453-50141-6 (ISBN)
CHF 11,10 inkl. MwSt
zur Neuauflage
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Zu diesem Artikel existiert eine Nachauflage
Das Buch zum Film mit Robert de Niro und Michelle Pfeiffer


Die Geschichte spielt in dem von magischen Wesen bevölkerten Dörfchen Wall. Ein junger Mann verspricht seiner Geliebten, für sie einen vom Himmel gefallenen Stern zu finden. Dafür riskiert er den Eintritt in ein magisches Reich, in dem er mit Hexen und Piraten zu kämpfen hat.


Mit exklusivem Zusatzmaterial von Neil Gaiman.


Der Engländer Neil Gaiman, geb. 1960, arbeitete zunächst in London als Journalist und wurde durch seine Comic-Serie 'Der Sandmann' bekannt. Er lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie in den USA, in Minneapolis.

KAPITEL 1 In dem wir das Dorf Wall kennenlernen und erfahren, was dort alle neun Jahre Merkwürdiges passiert Es war einmal ein junger Mann, der sehnte sich danach, daß sich sein Wunschtraum erfüllte. Obgleich dies kein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte ist (denn jede Geschichte über einen jungen Mann, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, könnte auf ähnliche Weise beginnen), war an dem jungen Mann und seinen Erlebnissen doch viel Seltsames, das nicht einmal er selbst jemals in vollem Umfang begriff. Die Geschichte begann – wie viele andere Geschichten – in Wall. Der kleine Ort Wall liegt heute wie seit sechshundert Jahren auf einem hohen Granitfelsen mitten in einem kleinen Waldgebiet. Die Häuser von Wall sind alt und robust, aus grauem Stein, mit dunklen Schieferdächern und hohen Schornsteinen. Um auf dem Felsen jeden Zentimeter Platz zu nutzen, kuscheln sie sich eng aneinander, eins dicht an das andere gebaut, mit hier und dort einem Busch oder Baum, der aus einer Gebäudemauer wächst. Aus Wall heraus führt nur eine Straße, ein verschlungener Pfad, der vom Wald her steil ansteigt, gesäumt von Felsbrocken und Steinen. Folgt man ihm weit genug nach Süden, aus dem Wald heraus, wird aus dem Pfad eine richtige asphaltierte Straße; noch ein Stück weiter verbreitert sie sich abermals, und auf ihr drängen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos und Lastwagen, die es eilig haben, von einer Stadt zur anderen zu kommen. Irgendwann schließlich gelangt man auf der Straße nach London, aber dafür ist man von Wall aus eine ganze Nacht lang unterwegs. Die Einwohner von Wall sind ein wortkarges Völkchen, das sich grob in zwei Typen unterteilen läßt: zum einen leben hier die Ureinwohner, groß und robust wie der Granit, auf dem ihr Städtchen erbaut wurde, und zum anderen die Zugewanderten, die sich im Lauf der Jahre in Wall niedergelassen haben, samt ihren Nachfahren. Unterhalb von Wall im Westen liegt der Wald; im Süden befindet sich ein trügerisch friedlicher See, gespeist von den Bächen aus den Hügeln im Norden des Dorfes. Auf den Weiden der Hügel grasen Schafe, und im Osten erstreckt sich ebenfalls Wald. Unmittelbar östlich von Wall erhebt sich eine hohe graue Steinmauer, von der das Dorf seinen Namen hat. Diese Mauer ist sehr alt, aus grob behauenen Granitbrocken aufgeschichtet; sie kommt aus dem Wald und führt wieder in ihn zurück. In dieser Mauer gibt es nur eine einzige Lücke: eine knapp zwei Meter breite Öffnung, ein Stückchen nördlich vom Dorf. Durch den Spalt in der Mauer blickt man auf eine große grüne Wiese, hinter der Wiese liegt ein Bach, hinter dem Bach sieht man Bäume. Von Zeit zu Zeit kann man zwischen den Bäumen in der Ferne Gestalten erkennen. Riesige, seltsame Gestalten und kleine, schimmernde Erscheinungen, die aufblitzen und leuchten und dann plötzlich wieder verschwunden sind. Obwohl es hervorragendes Weideland ist, hat noch nie ein Dorfbewohner sein Vieh auf der Wiese jenseits der Mauer grasen lassen. Auch hat niemand sie je als Ackerland benutzt. Vielmehr werden seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren Wachen auf beiden Seiten der Öffnung postiert, und ansonsten geben sich die Dorfbewohner alle Mühe, nicht an den Mauerdurchgang zu denken. Auch heute noch stehen zwei Männer auf beiden Seiten des Durchgangs, Tag und Nacht, in Achtstundenschichten. Sie tragen gewaltige Holzknüppel und bewachen die dem Dorf zugewandte Seite der Lücke. Die Hauptaufgabe der Wächter ist es, die Dorfkinder davon abzuhalten, durch die Öffnung auf die Wiese oder womöglich noch weiter hinauszulaufen. Gelegentlich muß auch ein einsamer Wanderer oder einer der seltenen Besucher daran gehindert werden, durch die Maueröffnung zu schlüpfen. Bei den Kindern reicht es meist aus, mit dem Knüppel zu drohen. Bei Wanderern und Besuchern müssen die Wachen manchmal etwas einfallsreicher vorgehen; körperliche Gewalt wird jedoch nur angewendet, wenn ein Hinweis auf neu eingesätes Gras oder einen gefährlichen Stier nicht fruchtet. In ganz seltenen Fällen kommt jemand nach Wall, der offensichtlich genau weiß, was es mit dem Mauerdurchgang auf sich hat, und bisweilen werden solche Leute durchgelassen. Sie haben dann diesen gewissen Ausdruck in den Augen, der jeden Irrtum ausschließt. Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert gibt es keinen einzigen den Dorfleuten bekannten Fall von Schmuggel über die Mauer, und darauf ist man im Dorf sehr stolz. Nur einmal alle neun Jahre am Maitag wird die Wache abgezogen, denn da findet auf der Wiese ein Jahrmarkt statt. Die nun folgenden Ereignisse haben sich vor vielen Jahren unter der Regentschaft von Königin Victoria zugetragen. Damals war sie noch nicht die schwarz gekleidete Witwe von Windsor – sie hatte runde Apfelbäckchen, einen energischen, schwungvollen Gang, und Lord Melbourne mußte die junge Königin wegen ihrer Flatterhaftigkeit des öfteren sanft ermahnen. Mr. Charles Dickens veröffentlichte seinen Roman Oliver Twist in Fortsetzungen; Mr. Draper machte die ersten Fotografien vom Mond und bannte das blasse Rund auf kaltes Papier; Mr. Morse hatte der Öffentlichkeit vor kurzem eine Methode vorgestellt, wie man Botschaften durch Metalldrähte übermitteln konnte. Hätte man einem dieser Männer etwas von Magie oder einem Feenland erzählt, hätten sie dafür lediglich ein herablassendes Lächeln übrig gehabt, mit Ausnahme von Dickens vielleicht, der damals noch ein junger, bartloser Mann war. Wahrscheinlich hätte er nur ein versonnenes Gesicht gemacht. In diesem Frühjahr trafen viele Leute auf den Britischen Inseln ein. Sie kamen einzeln, zu zweit, gingen in Dover an Land, in London oder in Liverpool – Männer und Frauen, deren Haut so blaß war wie Papier, so dunkel wie Vulkangestein, rötlich braun wie Zimt, Menschen, die sich in einer Vielfalt von Sprachen verständigten. Den ganzen April über kamen sie, und sie reisten mit dem Zug, zu Pferde, in Wohnwagen oder Karren, und manche gingen zu Fuß. Zu dieser Zeit war Dunstan Thorn achtzehn Jahre alt und in keiner Weise romantisch veranlagt. Er hatte nußbraunes Haar, braune Augen und Sommersprossen. Er war mittelgroß und nicht sehr redegewandt. Doch er lächelte gern und oft, und dieses Lächeln brachte sein Gesicht von innen heraus zum Strahlen. Wenn er tagsüber auf den Weiden seines Vaters seinen Phantasien nachhing, träumte er davon, das Dorf Wall, in dem man vor Überraschungen nicht sicher war, zu verlassen und nach London zu ziehen, nach Edinburgh oder Dublin oder in eine andere große Stadt, wo man nicht darauf achten mußte, aus welcher Richtung der Wind blies. In diesem April kamen Leute nach Wall, die den Jahrmarkt besuchen wollten, aber Dunstan mochte sie nicht. Mr. Bromios’ Gasthaus, genannt Zur siebenten Elster, normalerweise ein Labyrinth leerer Räume, war schon seit einer Woche ausgebucht, und jetzt suchten die Fremdlinge Unterkunft in Bauernhöfen und Privathäusern, bezahlten mit ausländischen Münzen, mit Kräutern und Gewürzen und sogar mit Edelsteinen. Je näher der Markttag rückte, desto höher stieg die Spannung. Die Menschen wurden früher wach, zählten die Tage, die Minuten. Die Wachen am Mauerdurchgang waren rastlos. Gestalten und Schatten regten sich in den Bäumen am Rand der Wiese. Im Wirtshaus Zur siebenten Elster kam es wegen Bridget Comfrey, die allgemein als das schönste Küchenmädchen seit Menschengedenken galt, zu Reibereien zwischen Tommy Forester, mit dem man sie das letzte Jahr über hatte ausgehen sehen, und einem großen Mann mit dunklen Augen und einem kleinen schnatternden Äffchen. Der Mann sprach nur gebrochen englisch, aber er lächelte jedesmal sehr vielsagend, wenn Bridget vorbeikam. In der Schankstube drängten sich die Einheimischen neben den fremdländischen Besuchern. »Es ist ja nur alle neun Jahre«, redeten sie sich gut zu. »Man sagt, in der alten Zeit sei jedes Jahr Markt gewesen, immer an Mittsommer.« »Fragt doch Mr. Bromios, der wird es wissen.« Mr. Bromios war groß, hatte olivfarbene Haut, eng am Kopf anliegende schwarze Locken und grüne Augen. Wenn die Dorfmädchen zu Frauen heranwuchsen, erweckte er ihr Interesse, aber er erwiderte ihre Aufmerksamkeit nicht. Man erzählte sich, er sei vor sehr langer Zeit ins Dorf gekommen; zuerst befand er sich nur auf der Durchreise, aber dann war er im Dorf geblieben. Nun, sein Wein war gut, da waren alle einer Meinung. Im Gastraum der Schenke brach ein lauter Streit zwischen Tommy Forester und dem dunkeläugigen Mann aus, der anscheinend Alum Bey hieß. »Man muß sie zur Vernunft bringen! Um Himmels willen! Schluß damit!« rief Bridget. »Sie gehen nach draußen und wollen sich meinetwegen prügeln.« Als sie den Kopf zurückwarf, schimmerten ihre vollkommenen blonden Locken im Schein der Öllampe wunderhübsch. Aber niemand gebot den Männern Einhalt; im Gegenteil, einige Dorfbewohner und Neuankömmlinge begaben sich vielmehr vors Haus, um zu gaffen. Tommy Forester zog das Hemd aus und hob die Fäuste. Der Fremdling lachte, spuckte ins Gras, packte blitzschnell die rechte Hand seines Gegners und schleuderte ihn zu Boden, wo Tommy hart mit dem Kinn aufschlug. Mühsam rappelte er sich wieder auf und wollte sich auf den Fremden stürzen. Doch kaum hatte er die Wange des Mannes auch nur mit der Faust gestreift, da lag er auch schon wieder mit dem Gesicht nach unten im Dreck und schnappte nach Luft. Alum Bey aber saß auf ihm und sagte lachend etwas auf arabisch. So rasch und einfach war der Kampf vorüber. Dann gab Alum Bey Tommy frei, stolzierte zu Bridget hinüber, verbeugte sich tief und grinste sie an, daß seine weißen Zähne nur so blitzten. Aber Bridget schenkte ihm keine Beachtung, sondern rannte zu Tommy. »Oh, was hat er dir nur angetan, mein Süßer?« rief sie empört, während sie ihm mit der Schürze den Schlamm vom Gesicht tupfte und ihn mit allerlei Kosenamen bedachte. Unterdessen kehrte Alum Bey mit den Schaulustigen in den Gastraum zurück und kaufte eine Flasche von Mr. Bromios’ Chablis, die er Tommy freundlich überreichte, als dieser kurze Zeit später ebenfalls wieder hereinkam. Keiner wußte so recht, wer nun eigentlich verloren und wer gewonnen hatte. Dunstan Thorn verbrachte diesen Abend nicht im Wirtshaus Zur siebenten Elster; er war ein praktisch denkender junger Mann und hatte die letzten sechs Monate Daisy Hempstock, einer ebenso praktisch veranlagten jungen Frau, den Hof gemacht. Bei schönem Wetter unternahmen sie abends gern einen Spaziergang ums Dorf, sprachen über die Theorie des Fruchtwechsels, über das Wetter und andere unverfängliche Themen. Auf diesen Spaziergängen, bei denen ihnen unweigerlich Daisys Mutter und ihre kleine Schwester in einem Abstand von sechs Schritten folgten, blickten sie sich von Zeit zu Zeit liebevoll in die Augen. Am Ende blieb Dunstan an der Tür der Hempstocks stehen, verbeugte und verabschiedete sich. Daisy Hempstock trat ins Haus, legte ihr Häubchen ab und sagte: »Ich wünsche mir so sehr, Mister Thorn würde sich endlich dazu durchringen, mir einen Antrag zu machen. Papa hätte bestimmt nichts dagegen.« »Da bin ich ganz deiner Meinung«, meinte Daisys Mama an diesem Abend genau wie an jedem anderen, während sie sich ihres eigenen Häubchens und ihrer Handschuhe entledigte und ihre Töchter in den Salon führte, wo ein sehr hochgewachsener Gentleman mit einem sehr langen schwarzen Bart saß und seinen Reisesack durchwühlte. Daisy, ihre Mutter und ihre Schwester knicksten vor dem Gentleman, der sehr wenig Englisch sprach und erst vor wenigen Tagen eingetroffen war. Der Gast seinerseits stand auf, verneigte sich und wandte sich dann wieder seinem Bündel mit allerlei hölzernen Gegenständen zu, die er sortierte, arrangierte und polierte. Der April war kühl und wechselhaft, wie es für das englische Frühjahr leider oft typisch ist. Die Besucher kamen von Süden auf der engen Straße durch den Wald; sie belegten die Gästezimmer und kampierten in Kuhställen und Scheunen. Einige schlugen farbige Zelte auf, manche trafen in eigenen Wohnwagen ein, gezogen von mächtigen grauen Pferden oder kleinen struppigen Ponys. Der Waldboden war mit einem Teppich aus Anemonen bedeckt. Am Morgen des 29. April hatte Dunstan Thorn Wachdienst am Mauerdurchgang, zusammen mit Tommy Forester. Sie standen zu beiden Seiten der Öffnung und warteten. Dunstan hatte schon oft Wache geschoben, aber bisher hatte die Aufgabe nur darin bestanden, dazustehen und gelegentlich Kinder zu verscheuchen. Doch heute fühlte er sich äußerst wichtig mit seinem hölzernen Knüppel. Wenn einer der Fremdlinge aus dem Dorf zum Mauerdurchgang kam, erklärte ihm entweder Dunstan oder Tommy: »Morgen, morgen. Heute kommt hier noch niemand durch, ihr guten Herren.« Dann zogen sich die Fremden ein Stück zurück und starrten durch die Lücke auf die eigentlich ganz unauffällige Wiese hinaus, auf die gar nicht außergewöhnlichen Bäume und den ziemlich langweiligen Wald dahinter. Einige versuchten die beiden Wächter in ein Gespräch zu verwickeln, aber die jungen Männer gingen – sich ihrer Aufgabe stolz bewußt – nicht darauf ein, sondern begnügten sich damit, den Kopf gerade zu halten, die Lippen zusammenzupressen und ganz allgemein einen bedeutenden Eindruck zu machen. Um die Mittagszeit brachte Daisy Hempstock ihnen ein Eintopf-Gericht vorbei, und hinter ihr erschien Bridget Comfrey mit zwei Krügen gewürztem Bier. Als die Dämmerung hereinbrach, wurden sie von zwei anderen kräftigen jungen Männern aus dem Dorf abgelöst, die jeder eine Laterne trugen, und so wanderten Tommy und Dunstan hinunter zum Gasthaus, wo Mr. Bromios jedem einen Humpen seines besten Biers kredenzte – und das war wirklich gutes Bier! –, sozusagen als Belohnung für den Wachdienst. Das Wirtshaus, in dem sich mehr Menschen drängten, als man für möglich gehalten hätte, summte förmlich vor Aufregung. Es wimmelte von Gästen aus aller Herren Länder, oder jedenfalls schien es Dunstan so. Jenseits des Waldes, der Wall umgab, war er noch nie gewesen, daher hatte er kein Gefühl für die unterschiedlichen Entfernungen. So betrachtete er den großen Gentleman aus London, der am Nebentisch saß und einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf trug, mit dem gleichen ehrfürchtigen Staunen wie den noch größeren ebenholzfarbenen Gentleman im weißen Gewand, der mit ihm zu Abend aß. Dunstan wußte, daß es unhöflich war zu glotzen und daß er sich als Einwohner von Wall diesen Fremdlingen durchaus überlegen fühlen durfte. Aber es stiegen ihm so ungewohnte Düfte in die Nase, und er hörte Männer und Frauen in so vielen verschiedenen Sprachen miteinander reden, daß er nicht anders konnte, als begierig alles in sich aufzunehmen. Der Mann mit dem schwarzen Seidenzylinder hatte bemerkt, daß Dunstan ihn beobachtete, und winkte den Jungen zu sich heran. »Mögt Ihr Karamelpudding?« erkundigte er sich unvermittelt, sozusagen als Einleitung. »Mutanabbi mußte gehen, und soviel Pudding kann ein Mensch unmöglich allein bewältigen.« Dunstan nickte. Der Karamelpudding dampfte einladend auf dem Teller. »Na, dann bedient Euch«, forderte sein neuer Freund Dunstan auf und reichte ihm eine saubere Porzellanschale sowie einen Löffel. Das ließ sich Dunstan nicht zweimal sagen und machte sich über den Pudding her. »Nun, junger Mann«, meinte der große Gentleman mit dem schwarzen Seidenzylinder zu Dunstan, als sowohl die Puddingschüsseln als auch der Teller geleert waren, »wie es aussieht, gibt es im Gasthaus kein Zimmer mehr, und auch im Dorf ist alles besetzt.« »Ach wirklich?« fragte Dunstan, allerdings wenig überrascht. »Ja, wirklich«, entgegnete der Mann mit dem Zylinder. »Und nun habe ich mich gefragt, ob Ihr vielleicht eine Idee hättet, wo es eventuell noch ein Zimmer geben könnte.« Dunstan zuckte die Achseln. »Mittlerweile sind bestimmt alle Zimmer weg«, sagte er. »Ich weiß noch, als ich neun war, haben meine Eltern mich eine ganze Woche lang zum Schlafen in den Kuhstall geschickt, weil sie mein Zimmer an eine orientalische Lady mit Familie und Dienerschaft vermietet hatten. Als Dankeschön hat sie mir einen Drachen geschenkt, den ich auf der Wiese hab’ steigen lassen, bis eines Tages die Schnur gerissen und der Drachen in den Himmel geflogen ist.« »Wo wohnt Ihr denn jetzt?« fragte der Gentleman mit dem Zylinder. »Ich habe eine Hütte auf dem Land meines Vaters«, antwortete Dunstan. »Es war unsere Schäferhütte, bis der Schäfer gestorben ist, vor zwei Jahren um die Zeit des Erntefests. Da haben meine Eltern die Hütte mir überlassen.« »Bringt mich dorthin«, sagte der Gentleman mit dem Hut, und Dunstan kam nicht mal auf den Gedanken, es ihm abzuschlagen. Der Frühlingsmond schien hell vom Himmel, die Nacht war klar. Sie wanderten zum Wald unterhalb des Dorfes, an der Familienfarm der Thorns vorüber – wo eine Kuh, die auf der Wiese lag und im Schlaf schnaubte, den Gentleman mit dem Zylinder fürchterlich erschreckte –, und immer weiter, bis sie schließlich Dunstans Hütte erreichten. Die Hütte bestand aus nur einem Raum mit einem offenen Kamin. Der Fremde nickte. »Das gefällt mir durchaus«, meinte er. »Kommt, Dunstan Thorn, ich miete Eure Hütte für die nächsten drei Tage.« »Was gebt Ihr mir dafür?« »Einen goldenen Sovereign, einen silbernen Sixpence, einen Kupferpenny und einen frischen, glänzenden Farthing«, antwortete der Mann. Nun war ein Goldsovereign für zwei Nächte ein mehr als angemessener Preis in jener Zeit, in der ein Farmarbeiter in einem guten Jahr hoffen konnte, um die fünfzehn Pfund zu verdienen. Dennoch zögerte Dunstan. »Wenn Ihr gekommen seid, um zum Markt zu gehen, dann handelt Ihr mit Wundern und Zauberei«, sagte er dem großen Mann. Dieser nickte. »Ihr seid also auf Wunder und Zauberei aus, ja?« Noch einmal schaute er sich in Dunstans Hütte um. In diesem Augenblick begann es zu regnen, und sie hörten ein leises Rieseln auf dem Strohdach über ihnen. »Nun gut«, sagte der große Gentleman, ein klein wenig unwirsch, »ein Wunder soll es also sein, ein wenig Zauberei. Morgen wird sich Euer Wunschtraum erfüllen. So, hier ist Euer Geld«, fügte er hinzu und zog die Münzen mit einer lässigen Bewegung aus Dunstans Ohr. Dunstan berührte damit den Eisennagel an der Tür, um zu überprüfen, ob es sich nicht um Feengold handelte, dann verbeugte er sich tief vor dem Gentleman und marschierte hinaus in den Regen. Die Münzen band er in sein Taschentuch. Durch den strömenden Regen wanderte er zum Kuhstall, kletterte auf den Heuboden und war bald tief und fest eingeschlafen. Mitten in der Nacht merkte er, wie es donnerte und blitzte, doch er wachte nicht ganz auf.

KAPITEL 1 In dem wir das Dorf Wall kennenlernen und erfahren, was dort alle neun Jahre Merkwürdiges passiert Es war einmal ein junger Mann, der sehnte sich danach, daß sich sein Wunschtraum erfüllte. Obgleich dies kein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte ist (denn jede Geschichte über einen jungen Mann, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, könnte auf ähnliche Weise beginnen), war an dem jungen Mann und seinen Erlebnissen doch viel Seltsames, das nicht einmal er selbst jemals in vollem Umfang begriff. Die Geschichte begann - wie viele andere Geschichten - in Wall. Der kleine Ort Wall liegt heute wie seit sechshundert Jahren auf einem hohen Granitfelsen mitten in einem kleinen Waldgebiet. Die Häuser von Wall sind alt und robust, aus grauem Stein, mit dunklen Schieferdächern und hohen Schornsteinen. Um auf dem Felsen jeden Zentimeter Platz zu nutzen, kuscheln sie sich eng aneinander, eins dicht an das andere gebaut, mit hier und dort einem Busch oder Baum, der aus einer Gebäudemauer wächst. Aus Wall heraus führt nur eine Straße, ein verschlungener Pfad, der vom Wald her steil ansteigt, gesäumt von Felsbrocken und Steinen. Folgt man ihm weit genug nach Süden, aus dem Wald heraus, wird aus dem Pfad eine richtige asphaltierte Straße; noch ein Stück weiter verbreitert sie sich abermals, und auf ihr drängen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos und Lastwagen, die es eilig haben, von einer Stadt zur anderen zu kommen. Irgendwann schließlich gelangt man auf der Straße nach London, aber dafür ist man von Wall aus eine ganze Nacht lang unterwegs. Die Einwohner von Wall sind ein wortkarges Völkchen, das sich grob in zwei Typen unterteilen läßt: zum einen leben hier die Ureinwohner, groß und robust wie der Granit, auf dem ihr Städtchen erbaut wurde, und zum anderen die Zugewanderten, die sich im Lauf der Jahre in Wall niedergelassen haben, samt ihren Nachfahren. Unterhalb von Wall im Westen liegt der Wald; im Süden befindet sich ein trügerisch friedlicher See, gespeist von den Bächen aus den Hügeln im Norden des Dorfes. Auf den Weiden der Hügel grasen Schafe, und im Osten erstreckt sich ebenfalls Wald. Unmittelbar östlich von Wall erhebt sich eine hohe graue Steinmauer, von der das Dorf seinen Namen hat. Diese Mauer ist sehr alt, aus grob behauenen Granitbrocken aufgeschichtet; sie kommt aus dem Wald und führt wieder in ihn zurück. In dieser Mauer gibt es nur eine einzige Lücke: eine knapp zwei Meter breite Öffnung, ein Stückchen nördlich vom Dorf. Durch den Spalt in der Mauer blickt man auf eine große grüne Wiese, hinter der Wiese liegt ein Bach, hinter dem Bach sieht man Bäume. Von Zeit zu Zeit kann man zwischen den Bäumen in der Ferne Gestalten erkennen. Riesige, seltsame Gestalten und kleine, schimmernde Erscheinungen, die aufblitzen und leuchten und dann plötzlich wieder verschwunden sind. Obwohl es hervorragendes Weideland ist, hat noch nie ein Dorfbewohner sein Vieh auf der Wiese jenseits der Mauer grasen lassen. Auch hat niemand sie je als Ackerland benutzt. Vielmehr werden seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren Wachen auf beiden Seiten der Öffnung postiert, und ansonsten geben sich die Dorfbewohner alle Mühe, nicht an den Mauerdurchgang zu denken. Auch heute noch stehen zwei Männer auf beiden Seiten des Durchgangs, Tag und Nacht, in Achtstundenschichten. Sie tragen gewaltige Holzknüppel und bewachen die dem Dorf zugewandte Seite der Lücke. Die Hauptaufgabe der Wächter ist es, die Dorfkinder davon abzuhalten, durch die Öffnung auf die Wiese oder womöglich noch weiter hinauszulaufen. Gelegentlich muß auch ein einsamer Wanderer oder einer der seltenen Besucher daran gehindert werden, durch die Maueröffnung zu schlüpfen. Bei den Kindern reicht es meist aus, mit dem Knüppel zu drohen. Bei Wanderern und Besuchern müssen die Wachen manchmal etwas einfallsreicher vorgehen; körp

Reihe/Serie Heyne Bücher
Sprache deutsch
Original-Titel Stardust
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 200 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur
Schlagworte Fantasy
ISBN-10 3-453-50141-1 / 3453501411
ISBN-13 978-3-453-50141-6 / 9783453501416
Zustand Neuware
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