Julia und ihr Romeo (eBook)
452 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-8768-8 (ISBN)
1
„Nobbilein“ rief sie aus dem Wohnzimmer. Mutter nannte mich immer so, wenn ihr etwas auf der Seele brannte. Sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen meinen Namen zu verniedlichen, obwohl ich ihr schon oft gesagt hatte, dass ich mittlerweile lange Hosen tragen würde und sie mich im Geburtsregister mit Namen Norbert hatte eintragen lassen.
Vielleicht lag es daran, dass sie auch andere Begriffe verkleinerte.
So sagte sie zum Beispiel nicht: ‚Möchtest du noch einen Kaffee‘, sondern: ‚Ich habe da noch ein Käffchen für dich.‘
Es war eine ihrer Marotten, die mich schnell aus dem Konzept brachten. Während meiner Arbeit hatte ich mir angewöhnt, Klavierkonzerte anzuhören, die ich vom Radio auf Kassette aufgenommen hatte. Auch Opernarien unterstützen meine Konzentration.
An jenem Nachmittag arbeitete ich gerade an einem längeren Artikel für die Junge Welt, für die ich gelegentlich als Journalist tätig war. In dem Schriftsatz forderte ich mehr Verständnis für die Bedürfnisse der Jugendlichen, seitens der Regierung
Doch es waren nicht nur junge Leute, die sich gegen die Regierung auflehnten. Immer mehr wurde der Unmut der Menschen in die Öffentlichkeit getragen, und auch in mir kamen vermehrt Zweifel auf, ob ich noch auf der richtigen Seite stand.
Daher fiel es mir schwer, mich an die Richtlinien des Zeitungsverlages zu halten. Doch war ich, nicht zuletzt um meine Mutter zu unterstützen, die nur eine kleine Rente bezog, auf das Honorar angewiesen.
Als sie zum zweiten Mal rief: „Nu komm doch mal eben runter, mein Junge“, warf ich verärgert den Schreibstift auf das halbbeschriebene Blatt, stoppte die Kassette und ging nach unten. Sie stand am Fenster und sah in Richtung Mauer, die am Ende der Sackgasse lag, in welcher unser Haus stand.
„Was gibt es denn so Wichtiges, dass ich unbedingt meine Arbeit unterbrechen musste? Du weißt doch, dass ich es nicht leiden kann, wenn ich dabei gestört werde. Ich glaube, ich habe dir das schon tausendmal gesagt“, ermahnte ich sie. Mutter sah weiterhin angestrengt durch das geschlossene Fenster und ignorierte wie immer meine Vorhaltung. Sie stellte sich einfach taub.
„Hast du es nicht gehört?“, fragte sie mich, ohne sich umzudrehen.
„Was soll ich gehört haben?“
„Die Schüsse! Genauso, wie es vor zwei Jahren war. Es waren diesmal aber nur vier oder fünf Schüsse! Da ist bestimmt wieder einmal…“
„Komm bitte vom Fenster weg, Mutter“, bat ich sie. „In ein paar Tagen ist Sylvester. Da haben jugendliche Spinner da drüben schon heute ihre Böller in die Luft gejagt. Vielleicht haben irgendwelche Männer auch nur auf Tauben geschossen, oder jemand hat einen Hasen erlegt!“
Ich nahm sie am Arm, führte sie vom Fenster in die Mitte des Zimmers und zog die Gardine zu.
„Du weißt, dass das nicht stimmt“, sagte sie mit belegter Stimme. „Ich weiß ja nichts Genaues, aber du arbeitest schließlich bei der Zeitung und bist bestimmt bestens informiert. Aber einer Mutter muss man ja nicht alles erzählen, nicht wahr?“
Sie sagte es mit vorwurfsvoller Stimme und strich mit ihrer Hand mehrmals über die gestickte Weihnachtstischdecke, als würde sie Krümel fortwischen. Dabei stieß sie mit ihren Fingern an die Schale mit Nüssen, die von Weihnachten übriggeblieben waren.
Den schon seit dem Kauf nadelnden Weihnachtsbaum hatte ich bereits entschmückt und in den Keller gebracht. In den nächsten Tagen wollte ich ihn zersägen und als Feuerholz für unseren Kachelofen nutzen.
„Es ist genauso wie mit den Mädchen“, warf sie mir vor. „Davon hast du ja auch nie gesprochen. Andere Männer in deinem Alter sind schon verheiratet und haben Kinder. Worauf willst du eigentlich noch warten?“
Sie wischte mit den Händen über ihre blaugemusterte Kittelschürze und ging in die Küche.
„Bis ich die richtige gefunden habe!“, rief ich ihr nach.
Sie kam zurück und blieb im Türrahmen stehen
„Du suchst doch gar nicht. Bis jetzt hast du mir noch nie eine vorgestellt“, schmollte sie.
„Weil es bisher nur flüchtige Affären waren“, antwortete ich gereizt und machte mich auf den Weg in mein Arbeitszimmer.
Ich hatte Gewissensbisse wegen meiner schroffen Worte. Das hatte Mutter nicht verdient, warf ich mir vor. Schließlich hatte sie ja recht.
Also drehte ich um und stieg die Stufen wieder hinab. Sie stand am Spülbecken und wusch die Teller ab, die sie nach dem Mittagessen dort abgestellt hatte.
Ich schlang meine Arme von hinten um sie und küsste sie in den Nacken. „Entschuldige bitte“, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Es war nicht so gemeint.“
Sie drehte sich zu mir um und gab mir die Absolution indem sie sagte: „Ist schon gut mein Junge.“
Ich glaubte meine Schuldigkeit getan zu haben und wollte die Küche wieder verlassen, als ich sie weitersprechen hörte.
„Die Gabi, du weißt, die Tochter von Frau König, die in der Bäckerei arbeitet. Das ist doch ein anständiges, sauberes Mädchen. Ich glaube, sie ist noch zu haben und müsste eigentlich in deinem Alter sein…“
„Mutter“, sagte ich mit einem mahnenden Unterton. „Lasse mich mir meine Freundinnen bitte selbst aussuchen.“
„Aber…“
„Mutter“, wiederholte ich mit erhöhter Stimme, was sie bewog, das Thema nicht weiter zu erörtern.
Als ich wieder am Schreibtisch saß, um meinen Artikel fortzusetzen, tat ich mich schwer damit, die richtigen Formulierungen zu finden.
Meine Mutter hatte etwas angeschnitten, was meine Gedanken in die Vergangenheit entgleiten ließ. Gabi!
Das Mädchen kannte ich schon seit meiner frühen Kindheit. Eine ungezogene und vorlaute Göre, die stets nervte. So wollte sie immer, wenn ich ein neues Spielzeug bekam, auch damit spielen und nahm es mir einfach weg.
Da sie einen halben Kopf größer war als ich, konnte ich mich körperlich nicht gegen sie durchsetzen. Dennoch war Gabriele, wohl aus Ermangelung anderer Spielgefährten in unserer Straße meine Freundin, mit der ich viel Zeit verbrachte.
Sie schien bereits im Alter von knapp sechs Jahren frühreif gewesen zu sein. Denn ich erinnerte mich plötzlich an einen Vorfall, den ich glaubte im Laufe der Jahre aus meinem Gedächtnis gestrichen zu haben. Anscheinend war er aber lediglich in mein Unterbewusstsein verschoben und von Wichtigerem überdeckt worden. Wie war es anders zu erklären, dass ich mich gerade jetzt so bildhaft daran erinnerte.
Als ich an jenem sonnigen Nachmittag im Frühsommer zum Spielen hinausging, musste ich sie nicht lange suchen. Entweder saß sie auf der Schaukel hinter der Bäckerei, oder war in unserer Höhle.
So nannten wir das Nest, welches wir uns im nahegelegenen Wäldchen hergerichtet hatten. Dort spielten wir Vater und Mutter, wobei ihre Puppe unser Kind war, oder wir heckten so manchen Schabernack aus.
Zu dieser Zeit muss ich wohl fünf Jahre alt gewesen sein. Auf jeden Fall ging ich noch nicht zur Schule.
„Hast du auch einen Schwanz“, wollte sie einmal von mir wissen, als ich sie in einem Bilderbuch blätternd auf der Schaukel sitzen sah. Ich wusste nicht, was sie meinte und antwortete:
„Bist du verrückt? Tiere haben einen Schwanz, aber Menschen doch nicht!“
„Mein Papa muss aber einen haben“, sagte sie entschieden.
„Du lügst! Dein Papa ist nämlich auch ein Mensch!“
„Ich weiß es aber ganz genau“, beharrte sie.
„Woher willst du das denn wissen du blöde Kuh?“
„Mama und Papa haben sich gestritten und da hat meine Mama zu ihm gesagt: „Und mit deinem Schwanz kommst du vorläufig nicht an meine Pflaumen!“
„Ihr habt jetzt schon Pflaumen? Die sind doch lange noch nicht reif.“
„Ich habe auch keine gesehen. Aber Mama hat das gesagt.“
„Das war alles?“
„Nein. Sie hat auch noch gesagt, dass alle Männer Schwänze hätten, mit denen sie glauben würden, dass sie damit die Frauen immer rumkriegen würden, oder so ähnlich.“
„Das glaube ich nicht! Dass hat das deine Mama erfunden, oder du belügst mich doch.“
„Ich lüge nicht! Jedenfalls jetzt nicht! Zeige mir doch einfach mal deinen Popo. Du wirst ja auch mal ein Mann und wenn meine Mama recht hat, müsste da ja schon ein kleiner Schwanz zu sehen sein.“
Ich wusste ja, dass ich keinen hatte und wollte ihr beweisen, dass Männer nicht wie Tiere sind.
Ich stieß Gabi von der Schaukel und zog sie in unser Versteck, damit ihre Mutter uns nicht mehr sehen konnte. Schließlich konnte sie uns durch das Fenster der Backstube jederzeit beobachten.
Als ich mich vor fremden Augen geschützt wusste, zog ich schnell meine Hose runter und hielt Gabi meinen Hintern hin.
„Siehst du! Da gibt es keinen Schwanz“, frohlockte ich siegessicher, als sie nicht fündig...
| Erscheint lt. Verlag | 8.5.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Berlin • Bonn • Bonn und Ostberlin • BRD und DDR • Romeo • Spionage • Stasi • Wiedervereinigung |
| ISBN-10 | 3-8192-8768-X / 381928768X |
| ISBN-13 | 978-3-8192-8768-8 / 9783819287688 |
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