Mercedes Rosende (*1958 in Montevideo, Uruguay) studierte Recht und Integrationspolitik. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Anwältin und Journalistin aktiv. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2005 erhielt sie den Premio Municipal de Narrativa, 2008 den uruguayischen Nationalliteraturpreis und 2014 den Código Negro. 2019 wurde sie für ihren Roman Krokodilstränen mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.
Ursula
Und wieder passiert es.
Die Adrenalinschlange beißt sie in den Hals. Ursula lässt hastig den Haupteingang des Friedhofs von Buceo hinter sich, überquert die Straße, betritt den Markt und taucht zwischen den Blumenständen unter, deren Besitzer gerade mit dem Abbau beginnen. Während sie die übrig gebliebene Ware zu ihren Lieferwagen schleppen, weicht Ursula Eimern voller Margeriten, Chrysanthemen und dekorativer Zweige aus, stolpert über lose Fliesen und echte oder eingebildete Steine und zertritt welke Nelken, die auf dem Boden liegen, statt Gräber zu verschönern.
Was bringt eine fast fünfzig Jahre alte übergewichtige und völlig untrainierte Frau dazu, sich zu später Stunde auf einem Blumenmarkt gegenüber einem Friedhof herumzutreiben? Um das herauszufinden, müssen wir den Film ein kleines Stück zurückspulen.
Vor nicht einmal zehn Minuten hat Ursula ihre Schwester Luz am Familiengrab sich selbst überlassen und ist schnellen Schrittes auf dem von starren Zypressen gesäumten Weg zwischen anderen Gräbern, Kreuzen und Engeln davongegangen. Zwischen all den Denkmälern zur Erinnerung an die Toten lächelte sie irgendwann in sich hinein und stieß einen Seufzer aus, als hätte sie sich soeben von einer schweren Last befreit. Allmählich wurde es dunkel, und Friedhofsangestellte hasteten umher, um trödelnde Besucher darauf hinzuweisen, dass in wenigen Minuten die Tore geschlossen würden. Woraufhin sich die Leute folgsam auf den Weg zu den Ausgängen machten, schließlich hat außer Darstellern von Horrorfilmen niemand einen Grund, geschweige denn Lust, die Nacht auf einem Friedhof zu verbringen.
Auch ihre Schwester würde nach einem Blick auf die Uhr und die davoneilenden Menschen den Rückzug antreten, hat sich Ursula gesagt, schließlich ist Luz ganz bestimmt nicht der Typ Mensch, der, warum auch immer, an einem Ort versackt, erst recht nicht auf einem Friedhof. Bei diesem Gedanken hat Ursula erneut lächeln müssen, gleichermaßen verschwörerisch und liebevoll.
Den eisigen Wind, der kurz darauf, vom Meer her kommend, unter ihre Kleider schlüpfte, hat sie genauso wenig wahrgenommen wie die Feuchtigkeit und den Geruch nach verfaultem Fisch und anderen toten Dingen. Dafür hat sie bei der Ankunft am Haupttor einen Augenblick innegehalten und sich klargemacht, dass es nicht leicht sein wird, Kommissarin Leonilda Lima abzuschütteln. Die hat sie nicht nur gezwungen, auf den Friedhof zu kommen, sondern auch, das Grab ihrer Familie – der Familie López – zu öffnen, weil sie der Ansicht war, dass dort die Beute aus dem Überfall auf den Geldtransporter versteckt sein müsse. Arme Kommissarin, hat Ursula sich gesagt, fest überzeugt von ihrem Irrglauben und immer noch so befangen in ihren provinziellen Vorstellungen von Recht und Ordnung, die kein Mensch mehr ernst nimmt, was nur dazu führen wird, dass sich Leonildas aufgestaute Enttäuschung in der Zukunft in noch größeren Groll verwandeln wird. Aber der Ausflug nach Buceo, der Gang durch die Totenstadt, das Öffnen des rostigen Schlosses und des quietschenden Tors, all das war vergebliche Liebesmüh, denn was sie in dem Grab vorfanden, war nichts als Tod und Verlassenheit, Zerfall und Vergessen – das unausweichliche Schicksal einer jeden Familie.
Als Ursula anschließend der davongehenden Leonilda Lima hinterhersah, hatte sie das sichere Gefühl, dass diese nicht so schnell von ihrer Beute ablassen würde, sie vielmehr – in Erwartung eines Haftbefehls, der niemals eintreffen wird – weiterhin überwachen würde, wohin sie auch ginge. Arme Kommissarin, hat sie daraufhin noch einmal zu sich gesagt, wie kann man nur so einfältig sein und hartnäckig daran glauben, dass sich in einer Welt voll Willkür und Niedertracht so etwas wie Gerechtigkeit herstellen lässt?
Wenig später stand sie unter dem Torbogen des Ausgangs und überlegte unsicher, welche Richtung sie einschlagen solle. Hatte sie etwa Angst? Kopfschüttelnd sagte sie sich, dass sie zunächst unbedingt herausfinden müsse, wo Leonilda auf Spähposten gegangen war, um dementsprechend ihre Flucht zu organisieren. Denn gerade jetzt konnte sie es sich am allerwenigsten leisten, von ihr überwacht zu werden.
Sie sah nach links und rechts, ließ den Blick die Friedhofsmauer entlangwandern, dann über den Blumenmarkt gegenüber schweifen. Die nächsten bewohnten Gebäude waren mindestens einhundertfünfzig Meter entfernt. Das Fenster der Bar an der Ecke zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Von dort, wo sie stand, konnte Ursula unmöglich ins Innere sehen, aber eine andere Möglichkeit gab es eigentlich nicht – wo sonst hätte die Kommissarin ihr auflauern sollen? Kein schlechter Platz, sagte sie sich, allerdings ein bisschen weit entfernt, was ihr genug Zeit verschaffen würde, um die Avenida Rivera zu überqueren und im Gedränge zwischen den Blumenständen unterzutauchen. Und genau das brauchte sie jetzt: ausreichend Gedränge, um sich ungesehen fortbewegen zu können. Fünf Uhr am Nachmittag wiederum war genau der richtige Zeitpunkt, wenn man es auf größere Menschenansammlungen abgesehen hatte. Um diese Uhrzeit strömen nicht nur zahlreiche Besucher aus dem Friedhofstor; ebenso entsteigen den Bussen Massen von heimkehrenden Arbeitern, die nichts Eiligeres zu tun haben, als nach Hause zu kommen, den Fernseher einzuschalten, die Tüten mit Fast Food auszupacken und ihre Haustiere und Kinder – in dieser Reihenfolge – damit abzuspeisen und anschließend ihre Plastikblumen zu versorgen.
Eine Garantie, dass es ihr tatsächlich gelingen würde, die Kommissarin auf diese Weise auszutricksen, gab es natürlich nicht.
Aber, wie schon gesagt, die Adrenalinschlange hat Ursula in den Hals gebissen, weshalb sie den Torbogen hinter sich lässt und hastig die Straße überquert, zwischen Autos und Bussen hindurch, um anschließend im Gewirr der Blumenstände unterzutauchen, deren Besitzer gerade mit dem Abbau beginnen. Dabei tritt sie auf verwelkte Nelken und weicht Eimern voller Margeriten aus, die kein Grab mehr schmücken werden. Irgendwann bleibt sie stehen und wirft einen Blick über die Schulter: Wie erwartet, kommt dort hinten Leonilda angerannt; sie ist aber noch mehr als einhundert Meter entfernt. Woraufhin auch Ursula einen Zahn zulegt. Woher nimmt sie bloß die Kraft dafür, übergewichtig, wie sie nun einmal ist, so sehr, dass sie schon nach den ersten Stufen auf der Treppe ihres Wohnhauses ins Schwitzen kommt? Völlig unklar, die Adrenalin-These taugt als Erklärung jedenfalls gar nicht schlecht.
Oder drückt sie immer aufs Gas, wenn es danach aussieht, dass sie gegen eine Wand fahren könnte?
Im Schutz der Menge überquert Ursula rasant den Platz vor dem Blumenmarkt und steuert auf eine Gruppe von Häusern mit Sozialwohnungen zu, wo es ebenfalls von Menschen wimmelt – mit ihren Kindern beschäftigte Mütter und Väter und müde Büroheimkehrer.
Sie stellt sich hinter einen Baum, den die Stadtverwaltung vor mehr als fünfzig Jahren eigens für sie dort angepflanzt hat, und beobachtet, inzwischen deutlich entspannter, wie die Kommissarin ratlos zwischen den Blumenständen umherirrt und dabei den Blick immer wieder um nichts weniger ratlos in die Ferne schweifen lässt.
Nach einer Weile gibt Ursula ihren Posten auf und steuert gemächlich die offen stehende Eingangstür eines der bescheidenen Wohnblöcke an. Im Inneren lässt sie sich auf der Treppe nieder und späht von dort nach draußen, entschlossen, so lange zu warten wie nötig.
Sie holt eine Tafel Schokolade aus der Handtasche und beißt Stück um Stück davon ab. Dazu trinkt sie immer wieder aus einer kleinen Wasserflasche, die sie ebenfalls dabeihat. Mehrere Bewohner des Hauses gehen an ihr vorbei und würdigen sie keines Blicks. Sie schleppen Einkaufsbeutel voller Colaflaschen und Chipstüten, die sie gleich an ihre Sprösslinge weiterreichen werden, um sie dazu zu bringen, stumm vor dem Fernseher sitzen zu bleiben, während sie selbst sich unterhalten, diskutieren und streiten und den billigen Wein in sich reinkippen, der beim Vergessen hilft. Sie sehen müde aus und erschöpft von ihren Scheißjobs und der Perspektivlosigkeit.
Schon bald, sagt sich Ursula wütend, aber kein bisschen resigniert, werden erst aus einer Wohnung, dann aus der nächsten und schließlich von überallher Cumbias und Reggaeton und Plena und die Stimmen der Teilnehmer von Quiz-, Koch- und Survivalshows zu hören sein – die reinste Hölle. Auf der kalten Treppenstufe sitzend, verschlingt Ursula das letzte Stück Schokolade und denkt mit wachsendem Hass, dass diese Leonilda Lima schuld daran ist, dass sie an einem derart scheußlichen Ort Zuflucht suchen muss, wo die grauenvolle Musik immer lauter und der Geruch nach Eintöpfen aller Art immer unerträglicher wird.
Vor dem Haus halten mehrere Busse hintereinander, die Fahrgäste drängen hinaus.
»Jetzt«, sagt sich Ursula.
Hastig verlässt sie das Haus und mischt sich unter die müden verschwitzten Körper. Es ist ein Wunder, dass sie nicht über eine der von Baumwurzeln angehobenen Bodenplatten stolpert, und so gelangt sie zu einem freien Taxi, steigt ein, beugt sich zum Fahrer vor und nennt ihm eine Adresse im Stadtzentrum.
Das Auto fährt los.
Ursula wendet den Kopf und sieht durch die Heckscheibe, dass die Kommissarin auf sie beziehungsweise das Taxi zurennt, das dummerweise vor einer roten Ampel halten muss. Ihr Herz schlägt wie wild, sie sagt sich, dass Leonilda schon in wenigen Sekunden beim...
| Erscheint lt. Verlag | 21.8.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Peter Kultzen |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Nunca saldrás de aquí |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Brasilien • Frau • Korruption • Kriminalroman • Mafia • Montevideo • Spannung • Uruguay |
| ISBN-10 | 3-293-31195-4 / 3293311954 |
| ISBN-13 | 978-3-293-31195-4 / 9783293311954 |
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