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Die acht Leben der Frau Mook (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025
342 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31196-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die acht Leben der Frau Mook - Mirinae Lee
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Sklavin, Fluchtkünstlerin, Mörderin, Terroristin, Spionin, Geliebte, Mutter, Hochstaplerin - wer ist diese Frau, die sich durch ein ganzes Jahrhundert mogelt? Dass die Bewohner des Pflegeheims Golden Sunset Geschichten erfinden, ist nicht ungewöhnlich, doch was die geheimnisvolle Frau Mook über ihr Leben erzählt, kann kaum wahr sein: Geschichten von Gefangenschaft, Freundschaft, Mord und Spionage, die von Nordkorea über Südkorea bis nach Indonesien und China führen - Geschichten so bunt und vielfältig, dass unmöglich alle in das Leben einer einzigen Frau passen können. Oder etwa doch? Im Spiegel eines Menschenlebens erzählt Mirinae Lee ein asiatisches Jahrhundert.

Mirinae Lee, geboren und aufgewachsen in Südkorea, studierte Englische Literatur in den USA. Mit ihrem Debütroman Die acht Leben der Frau Mook stand sie 2024 auf der Longlist des Women's Prize for Fiction und erhielt den William Saroyan International Prize for Writing. Der Roman wurde in über zehn Sprachen übersetzt. Lee lebt als Autorin mit ihrer Familie in Hongkong.

Prolog


Die Idee kam mir während meiner Scheidung.

Ich war siebenundvierzig und übergewichtig. Ich hatte kein Kind, das meine einsamen, stillen Tage hätte ausfüllen können. Ich war keine dieser unabhängigen modernen Frauen, die schon früh beschlossen, keine Kinder zu bekommen. Ich wollte eines, aber mein Mann konnte nicht – wegen seiner Oligospermie, erklärte er mir. Ich wollte es mit künstlicher Befruchtung versuchen, doch er weigerte sich, das ganze Prozedere komme ihm entwürdigend vor. Als ich später erfuhr, dass er sich mit seiner Neuen, die zwölf Jahre jünger ist als er, bei einer bekannten Fruchtbarkeitsklinik in Gangnam angemeldet hatte, und das schon einen Monat, bevor unsere Scheidung durch war, kochte ich vor Wut. Wochenlang hatte ich wiederkehrende Träume, in denen ich ihn mit einem Hammer erschlug. In Wahrheit besaß ich natürlich weder den Mut noch den nötigen Hang zur Gewalt, das auch wirklich zu tun. Doch ich stellte mir vor, wie ich in sein Büro am Gwanghwamun-Platz stürmte, wie es eine wütende Ajumma in den koreanischen Morgenserien täte, um ihren untreuen Ehemann bloßzustellen: Ich würde Dokumente in die Luft werfen, die seinen Verrat bewiesen, und dabei vor seinen Arbeitskollegen die Liste seiner Sünden herausschreien, sodass sie ihn für seine Taten ächteten. Natürlich lebte ich diese Fantasie nie aus: So ein hysterisches Benehmen wäre entwürdigend gewesen. Doch die Vorstellung fand ich durchaus aufregend.

Ich brauchte dringend Veränderung in meinem Leben. Also meldete ich mich in einem Fitnessstudio an und trainierte drei Tage die Woche eine Stunde. Ich nahm zwar ein bisschen ab und fühlte mich gesünder, aber die körperliche Veränderung allein genügte mir nicht. Schon als Kind war ich nachdenklich gewesen, las und grübelte gern und machte mir Notizen in meinem Moleskine. Ich brauchte mehr als nur einen fitteren Körper, ich brauchte etwas, das mich auch geistig forderte.

Den Artikel entdeckte ich, als ich im Wartezimmer meiner Therapeutin in einer Frauenzeitschrift blätterte. Es war die Geschichte eines Arztes in einem Hospiz in Singapur, der seinen sterbenden Patienten vor ihrem Tod half, ihre Beerdigung zu organisieren und ihre Nachrufe zu schreiben. Anders als man vermuten könnte, hätten die todkranken Patienten gar keine so große Angst vor dem Tod, erklärte der Arzt. Ihre größere Sorge sei die Zeit danach, die Trauer und Umbrüche, die ihre Angehörigen durchleben müssten. Sein neues Angebot wurde mit überraschender Begeisterung angenommen. Viele seiner Patienten berichteten, sie fühlten sich geistig und körperlich besser, nachdem sie sich selbst an der Gestaltung ihres Abschieds beteiligt hatten. Es verleihe ihnen ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit und sei eine unschätzbare Möglichkeit, ihre ganz eigene Bedeutung für ihre kurze Reise auf Erden zu finden.

Ich zeigte den Artikel Direktorin Haam, meiner Chefin, und sagte ihr, ich wolle ein ähnliches Angebot für unsere Patienten einführen. Eigentlich konnte ich mich über meine Arbeit im Golden Sunset nicht beschweren: Das Gehalt war nicht schlecht, die Firma gewährte reichlich bezahlte Urlaubstage und mein Zeitplan und die Tätigkeiten waren nie übermäßig anstrengend. Meine Hauptaufgabe bestand in einer einfachen Form der Buchhaltung, doch mein offizieller Titel lautete Persönliche Assistentin der Heimleitung. Direktorin Haam war eine freundliche Frau Anfang fünfzig, zweimal geschieden, und zog ihre drei Kinder mit zwei verschiedenen Familiennamen groß. Ihr Job im Golden Sunset war wohl nicht unbedingt ihre große Leidenschaft; sie hatte mir einmal erzählt, ihr sei es hauptsächlich um eine sichere Stelle gegangen, was dringend nötig war für eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern.

Direktorin Haam trommelte mit ihren blutroten Fingernägeln nervös auf ihrem Schreibtisch herum, dann erklärte sie, das Golden Sunset verfüge nicht über die nötigen Mittel für individuelle Bestattungsvorbereitungen. Ich argumentierte, allein das Angebot, den eigenen Nachruf zu schreiben, würde schon etwas verändern. Nachdem ich ihr versprochen hatte, meine eigentliche Arbeit werde nicht darunter leiden und ich würde, wenn nötig, Überstunden machen, gab sie mir, wenn auch widerstrebend, die Genehmigung, mit dem Projekt zu starten. Bevor sie das Büro verließ, warf sie mir einen besorgten Blick zu, als dächte sie: An dem Punkt war ich auch schon. Stattdessen sagte sie: »Rufen Sie mich an, wenn Sie mal was trinken gehen wollen und Gesellschaft brauchen.« Während ich dem leiser werdenden Klappern ihrer Absätze lauschte, überlegte ich, ob eine Scheidung beim zweiten Mal wohl einfacher war.

Das Angebot des Nachrufschreibens half mir zunächst auf einer ganz praktischen Ebene: Es lenkte mich ab. Meine Gedanken, die bis dahin wie ein treuer Hund immer wieder zu meinem Mann und unserer gescheiterten Ehe zurückgekehrt waren, drehten sich jetzt langsam um das Leben anderer.

»Ich bin hier, um Ihnen dabei zu helfen, Ihren Nachruf zu schreiben«, informierte ich die Senioren mit meiner beruhigendsten Stimme. »Sie können mir eine Kurzversion Ihrer Lebensgeschichte erzählen, was Sie glücklich gemacht hat, worauf Sie stolz sind und was Sie bereuen. Wie Sie denjenigen in Erinnerung bleiben möchten, die Sie lieben und denen Sie wichtig sind.« Nach einigen tiefen Atemzügen begannen sich die meisten ganz natürlich zu öffnen. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit macht Menschen oft überraschend ehrlich, das belanglose Hintergrundrauschen, von dem das Leben normalerweise vernebelt wird, fällt weg. Den wenigen, die Schwierigkeiten hatten, bot ich eine einfache Vorlage an, die immer funktionierte: »Suchen Sie sich drei Wörter aus – Substantive, Adjektive, Verben, ganz egal –, die zu Ihnen passen oder die Ihr Leben am besten beschreiben.« Drei ist die magische Zahl, auf die die meisten anspringen. Ein einzelnes Wort schränkt zu sehr ein und hemmt deshalb, zwei sind irgendwie unangenehm, als unterstellten sie ein Doppelleben. Drei suggerieren ein ideales Gleichgewicht, wie in Triumvirat, Trilogie und Trinität. Damit fühlen sich die Leute wohl – nicht zu viel und nicht zu wenig.

Wenn sie auf ihr Lebensende blicken, verspüren die Leute den Wunsch, dass etwas von ihnen auf dieser Welt zurückbleiben möge, und sei es noch so klein. Ihren Nachruf zu schreiben, bestätigt ihnen, dass ihr Leben von Bedeutung war – für sie selbst und für die Menschen, für die sie nur zu gern ihre Träume geopfert haben. In der Vorstellung der Jugend ist ein Nachruf etwas Trauriges und Ernstes, doch die älteren Leute verstehen, dass er auch ein Vorrecht darstellt. Diejenigen, die noch das Durchblättern von Zeitungen gewohnt sind, wissen, dass ein offizieller Nachruf den großen Namen vorbehalten ist. Selbst die Berühmten müssen ständig um den knappen Platz kämpfen; die meisten müssen sich mit ein paar Zeilen zufriedengeben, während sehr wenige Glückliche einen ganzen Absatz bekommen. Eine volle Seite ist natürlich nicht möglich, es sei denn, man wäre ein hochkarätiger Politiker, ein ehemaliger Präsident zum Beispiel oder ein international einflussreicher Diktator. Im Golden Sunset dagegen ist jeder Todesfall eine ganze Seite wert. Das war der Kerngedanke meines Projekts: Haben wir nicht alle einen ausführlichen Nachruf verdient? Jeder Tod und jedes Leben, auch die unbekanntesten und unbequemsten, haben bedeutende Geschichten zu erzählen. Und ich war da und lieh mein Ohr und meinen Stift, wenn dann die letzten Blätter fielen.

Am zweiten Feiertag des Mondneujahrs traf ich Frau Mook zum ersten Mal. Ich hatte mich freiwillig zur Arbeit gemeldet, denn ich war noch nicht so weit, mich meinem ersten großen Familientreffen nach der Scheidung zu stellen. Ich wusste, welche Art von Fragen ich mir von meinen Onkeln und Tanten würde anhören müssen und vor allem von meinen Cousins und Cousinen, die alle immer noch glücklich verheiratet waren und Kinder hatten. Ich war noch nicht so weit, andere am Schorf meiner Wunden herumpulen zu lassen.

Ein staatliches Pflegeheim ist an einem großen Nationalfeiertag womöglich der einsamste Ort auf Erden. Mehr als ein Drittel der Bewohner des Golden Sunset hatten keine engsten Angehörigen. Einige wenige Glückliche, die noch einigermaßen bei Gesundheit und in Kontakt mit fürsorglichen Verwandten waren, wurden für ein oder zwei Tage eingeladen. Wenn diese Glückspilze weg waren, legte sich eine quälende Stille über die Einrichtung. Die Art von Ruhe, die selbst die hibbeligsten Demenzerkrankten in eine komatöse Schwermut versetzte.

An diesem Abend erhielt ich in der stillen Einsamkeit meines Büros einen Anruf von der Pflegeleitung von Station A. Fast die Hälfte der Senioren des Golden Sunset mit Alzheimer sind dort untergebracht. Normalerweise hatte ich mit dieser Hälfte der Einrichtung nicht groß zu tun, denn ich konnte nur die Nachrufe der geistig Klaren schreiben. Doch an besagtem Tag hatten viele von der Belegschaft frei, weshalb ich aushalf bei allem, was gerade anfiel.

Ich wurde gebeten, vor einem Doppelzimmer Wache zu stehen. Oma Song Jae-soon sei schon wieder verschwunden, erklärte mir die Stationsleitung. Während sie jeden Winkel des Golden Sunset nach ihr absuchten, sollte ich warten und sofort die anderen Pflegekräfte verständigen, falls die Ausreißerin in ihr Zimmer zurückkehrte. Ich stellte den kleinen Klappstuhl in die Tür, den ich mir aus meinem Büro mitgebracht hatte, und setzte mich drauf. Das Walkie-Talkie in der Hand,...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2025
Übersetzer Karen Gerwig
Sprache deutsch
Original-Titel 8 Lives of a Century-Old Trickster
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Alter • Asien • China • Flucht • Frau • Indonesien • Japan • Kalter Krieg • Lebensbericht • Nordkorea • Spionage • Südkorea
ISBN-10 3-293-31196-2 / 3293311962
ISBN-13 978-3-293-31196-1 / 9783293311961
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