Ein einziger Tag (eBook)
196 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-5338-6 (ISBN)
Gerd Friederich, aufgewachsen im hohenlohischen Langenburg und schwäbischen Bietigheim an der Enz, studierte in Würzburg fürs Lehramt (Deutsch, Kunst, Geschichte, Geografie) und berufsbegleitend noch zweimal, zunächst in Tübingen (Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Landeskunde), wo er mit einer historischen Arbeit promovierte, und viele Jahre später in Nürnberg (Malerei). Er arbeitete als Lehrer, Heimerzieher, Personalreferent, Schulrat, Lehrerausbilder und veröffentlichte viel Fachliteratur. Jetzt lebt er im Taubertal, schreibt Romane und malt Porträts und Landschaften.
Weiß
Weißes Licht entsteht, wenn man gelbes, rotes und blaues Licht übereinanderlegt. Weiße Mal- oder Druckfarbe entsteht aus Alabaster, Kalkstein, weißem Steinmehl (Zuckerdolomit), Eier- oder Muschelschalen, getrocknetem Sumpfkalk oder Titandioxid (Rutil). Weiß steht für Leichtigkeit und Unschuld, Reinheit, Wahrheit, Frieden und Vollkommenheit. Weiß ist der Anfang und die Ewigkeit. Die weiße Taube gilt als Sinnbild für den Heiligen Geist und Frieden auf Erden. Wo es um Reinheit des Geistes oder um Sauberkeit geht, kleidet man sich weiß. Wer im Alltag einen weißen Kragen trägt, macht sich nicht schmutzig und gehört zu den Höhergestellten. Früher ging die elegante Dame in Weiß, der elegante Herr in Schwarz. Erst seit dem letzten Jahrhundert trägt die Dame von Welt öfters Schwarz. In China und in einigen muslimisch geprägten Gegenden ist Weiß sogar die Farbe der Trauer.
Die Sonne lacht. Ein sachter Wind weht weiße Blüten von den Bäumen und streift sie ins Gras. Um mich herum leuchten Lupinen und Rittersporn. Bienen und Hummeln summen und brummen von Blüte zu Blüte. Die Sträucher verströmen ein süßliches Aroma von Jasmin und frischen Pfirsichen.
Meine Frau Doris schaut aus dem Küchenfenster unseres Hauses und winkt mir zu. Die Fenster rechts daneben gehören zur Farbenmühle, die ans Haus angebaut ist. Beruhigend das Plätschern des Mühlrads, das von der Gera in Gang gehalten wird. Auf dem Schwengel der Wasserpumpe vor dem Haus sitzt eine Elster und plustert sich auf. Hätten wir keinen eigenen Brunnen, müssten wir mehrmals täglich Wasser von einem der öffentlichen Brunnen herbeischleppen. Nachdem Erfurt dreimal in zwanzig Jahren von der Cholera heimgesucht worden war, hatte der Stadtrat beschlossen, die stinkenden Kloaken zuschütten und Frischwasser- und Abwasserleitungen bauen zu lassen. Bis Jahresende soll nun Quellwasser aus dem Thüringer Wald bis in jedes Haus fließen. Darauf freut sich Doris schon heute wie eine Schneekönigin.
Weiden, Pappeln, Hasel, Schlehen und Holunder stehen dicht an dicht. So kann ich nicht sehen, wo der Fluss unter die Bäume kriecht und seinen Weg im Schatten sucht. Viele Spatzen hausen in dem Gebüsch. Sie tschilpen, schimpfen und zwitschern den ganzen Tag. Vom Fluss her höre ich Enten schnattern. Ein Graureiher rauscht mit ausgebreiteten Schwingen über mein Haus. Ein paar kurze Flügelschläge, schon ist er über den Pappeln und landet gleich dahinter, wo er auf kleine Fische im Wasser und Frösche am Ufer hofft.
Als ich ein kleiner Junge war, habe ich einmal dort bei den Weiden Glühwürmchen gefangen und in eine Flasche gesteckt. Die habe ich neben mein Bett gestellt. Als meine Mutter ins Zimmer kam, hat sie die Flasche lange angeschaut und mir dann erzählt, die Glühwürmchen seien verlorene Seelen, die im Dunkeln umherirrten und den Weg in den Himmel suchten. Da habe ich nur noch an die armen Seelen denken müssen. Ich bin aufgestanden und habe die Glühwürmchen freigelassen.
Die Nachbarin geht vorbei. „Guten Morgen, Eckhart!“
Sie bleibt hinter dem Scherenzaun stehen, der das Grundstück zu meiner Linken begrenzt. „Hab schon gehört, was passiert ist. Gute Besserung.“
Ich erwidere ihren Gruß. Ich mag sie. Immer freundlich und gut gelaunt hat sie für jede und jeden ein gutes Wort. Sie arbeitet als Verkäuferin in einem Tuchgeschäft auf der Krämerbrücke, die flussaufwärts, nur ein paar Schritte von hier, die Gera in einem flachen Bogen überspannt. Jeden Morgen nimmt sie diesen Weg. Ihrem Mann gehört die kleine Kammgarnspinnerei mit Wasserantrieb. Sie liegt flussabwärts direkt hinter meinem Haus. Den ganzen Tag hört man das eintönige Auf und Ab der Spinnmaschine, aber ich nehme es schon lange nicht mehr wahr.
„Brauchst du was?“ Doris lehnt sich weit aus dem Fenster. Sie macht sich Sorgen, das spüre ich ganz genau. Dass mir das passiert ist, ängstigt sie. Jede Minute fragt sie sich wohl, ob ich wieder gesund werde und wie es mit der Firma weitergehen soll. Das kann ich ihr an der Nasenspitze ablesen. Ich kann es nicht ändern. Es ist halt passiert.
Wenigstens bin ich seit gestern wieder zuhause. Herr Kaufmann, der Besitzer des Steinbruchs, hatte Franz gesagt, er solle ein Fass mit gelben und orangeroten Mergelknollen füllen und mich samt Fass nach Erfurt kutschieren. Als ich den Geldbeutel zückte, wollte er nur den Tageslohn für Franz. Er hoffe, sagte er und drückte mir zum Abschied fest die Hand, er könne mit mir ins Geschäft kommen. Sein Schieferbruch sei schon bald erschöpft. Farbige Sandsteine und Erden hingegen gebe es genug auf seinem Gelände. Ich lag während der Fahrt auf einer gepolsterten Bank hinter dem Kutschbock, während Franz mir viel aus seinem Alltag als Schieferarbeiter erzählte.
Doris war entsetzt, als Albert und Franz mich ins Haus trugen und auf unsere Chaiselongue legten, die auf einer Seite auf Rollen steht und auf der anderen auf Holzfüßen. Albert ist mein Mitarbeiter.
„Was soll nur werden, was soll nur werden?“, jammerte sie in einem fort.
Franz versuchte zu trösten: „Das wird wieder, verehrte Frau Ledlein, wenn Sie darauf achten, dass Ihr Mann nicht aufsteht oder gar im Haus herumhumpelt.“
Sie werde aufpassen, versprach sie hoch und heilig. Keine Sekunde werde sie mich aus den Augen lassen.
Ich bat Albert, Franz unsere Mühle zu zeigen. Während Doris mir die Hand hielt und mich anflehte, nicht ohne ärztliche Erlaubnis aufzustehen, erklärte Albert dem Gast die beiden Mahlwerke, den liegenden Läufermahlstein, der Färberpflanzen und farbige Erden zerreibt, und den Kollergang, die beiden aufrechtstehenden Mahlsteine, die sich auf der Bodenplatte um eine senkrechte Achse drehen und Gesteinsbrocken zermalmen. Beide Mahlwerke arbeiten nur, wenn der Wasserabsperrschieber geöffnet ist.
„Zwei verschiedene Mahlwerke in einer Mühle!“ Franz war begeistert, als er wieder vor mir stand. Er fragte, ob ich ihn beschäftigen würde, falls es im Schieferbruch keine Arbeit mehr gäbe.
„Sie können noch diesen Herbst beginnen, wenn Herr Kaufmann einverstanden ist. Die Nachfrage nach meinen Tinten wird von Monat zu Monat größer.“
„Sie stellen auch Tinte her?“
„Sogar sieben verschiedene Sorten. Schwarze Tinte aus Galläpfeln, graue Eisengallustinte und dunkle, leicht grünstichige Walnusstinte, die besonders lang haltbar ist und deshalb stark nachgefragt wird, vor allem von Schulen und Büros. Dazuhin rote, grüne, blaue und violette Tinte.“
„Tinte machen wäre dann meine Aufgabe?“
„Bisher haben Albert und ich vor allem Pigmente hergestellt, wenn Erden und Steine angeliefert wurden. Tinte hingegen kann man immer kochen und filtrieren. Ich denke, wenn Sie bei uns sind, werden wir das so beibehalten. Also müssten Sie alles machen, was gerade anfällt, den Kollergang bedienen, Pflanzen und Erden zermahlen und Tinte fertigen.“
Ich erklärte ihm, dass wir Backsteine, Ziegel und Tonscherben aller Art zu braunen, roten und orangefarbenen Pigmenten verarbeiten. Dass wir weiße Farbstoffe aus Kreide und hellbraune, gräuliche, grünliche und bläuliche Pigmente aus farbigen Sandsteinen gewinnen. Und dass wir kaffeebraune und graubraune Pigmente aus Braunkohle und schwarze aus Holzkohle herausfiltern. Zerkleinern, mahlen, sieben oder auswaschen und die Pigmente in Gläser abfüllen, das sei, vereinfacht gesagt, unsere Arbeit, wenn wir nicht gerade Tinten machten. Demnächst, erklärte ich ihm, stünden allerdings Veränderungen an. Wir würden zum Beispiel erste Versuche wagen, fertige Farben herzustellen. Dazu müsse man Pigmente mit einem Bindemittel versetzen.
Franz strahlte, seine Augen leuchteten. „Ja“, sagte er, „eine viel abwechslungsreichere Arbeit als im Steinbruch. Davon träume ich schon lange. Ich werde gleich morgen früh mit meinem Chef reden.“
Doris gab ihm ein Trinkgeld. Franz dankte, bestieg die Kutsche, winkte mir zu und schnalzte mit der Zunge. Das Pferd zog an, und der Wagen rollte aus dem Hof.
In der ersten Nacht wieder zuhause, habe ich kaum ein Auge zugemacht. Die Sorgen, wie es mit meiner Farbenmühle weitergehen und wie ich die nächsten Wochen überstehen soll, waren doch zu drückend. Deshalb habe ich Albert heute Morgen gebeten, mich samt Liege in den Garten zu schieben. Mit ein bisschen Sonnenschein sei das Leben gleich viel schöner, sagte ich.
Jetzt liege ich draußen in der Sonne und schaue in den Himmel. Über mir vollführen Rauchschwalben ihre Kunstflüge. Fünf Nester haben sie unter den Dachvorsprung meiner Mühle geklebt. Im April sind sie aus Afrika zurückgekehrt. Ihre Jungen sitzen im Nest und betteln mit weit aufgerissenen Schnäbeln um Futter. Darum jagen die Altvögel von früh bis spät Insekten und Larven. Es ist immer ein besonderes Schauspiel, wenn sie morgens und abends knapp übers Wasser zischen und mit offenem Schnabel Wasser aufnehmen. Sie sind sehr wendige Flieger und reagieren...
| Erscheint lt. Verlag | 15.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| ISBN-10 | 3-8192-5338-6 / 3819253386 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-5338-6 / 9783819253386 |
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