Kaleidoskop (eBook)
396 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-5411-6 (ISBN)
Claudia C. Cebulla, Jahrgang 1947 war 40 Jahre Lehrerin an Grund- und Hauptschulen. In dieser Zeit bildete sie sich fort zur Beratungslehrerin und studierte dann berufsbegleitend Psychologie. Danach arbeitete sie als Schulpsychologin am Schulamt und war weiterhin als Lehrerin tätig.
Der erste Schleier
In einer Krisensituation besuche ich ein Seminar, das autogenes Training anbietet. Die Gruppe hat bereits gelernt, rasch in einen Zustand der Entspannung zu gelangen. Um sich selbst genauer kennenzulernen, soll man in Gedanken an einen bestimmten Ort gehen. Die Art des Ortes, den wir aufsuchen sollen, ist frei wählbar, so wie es einem in den Sinn kommt.
Ich gehe eine steile Treppe hinauf, es sind bequeme, breite Stufen aus hellem Holz. Ich öffne die Türe und gelange in einen großen Dachboden, der fast leer ist. Ein Stuhl steht da und daneben eine Truhe mit rundem Deckel, so geformt wie die Schatztruhen aus den Seeräubergeschichten. Doch in dieser liegen vermutlich Kleidungsstücke. Neugierig öffne ich die Truhe und der Deckel geht fast von alleine auf. Heraus schwebt ein türkisgrüner Schal aus einem feinen Stoff wie ein Schleier.
Dieser Schleier schwebt auf mich zu und legt sich um meinen Hals. Er schmiegt sich an, wird schön weich und bequem. Doch dann zieht er an, wird enger, immer enger. Ich spüre, wie er sich zuzieht, ohne dass ich mich wehren kann.
Mein Schrei holt mich in die Wirklichkeit zurück. Gruppenmitglieder erkundigen sich besorgt, wie es mir geht und der Gruppenleiter erklärt, dass es wichtig und notwendig sei, in solchen Situationen aus dem Bild auszusteigen.
Danach ist mir so etwas nie wieder passiert, doch das Bild ist geblieben. Immer wieder habe ich mich gefragt, was das soll, was das eigentlich war, das mich so in Schrecken und Todesangst versetzt hat. Irgendwann viel später, zwischen Traum und Aufwachen kam ich auf die Idee, diesen Schleier wieder in meine Gedanken zu holen und mit ihm zu reden.
„Sag du mir bitte, wer du bist, damit ich dich verstehen kann.“ - Tatsächlich kam die Antwort: „Ich bin der Ekel“.
Das hat mir gereicht, ich konnte nun die Antwort finden.
Ich begann mit der Frage: „Wann habe ich mich geekelt, so richtig geekelt?“
Ich war etwa fünf Jahre alt. Wir wohnten damals in einem kleinen gemieteten Häuschen in Triffenau. Das sogenannte „Herrenzimmer“ und auch das Esszimmer waren im Winter unbeheizt außer zu Weihnachten. Das Leben spielte sich in der Küche und daneben in unserem „grünen Zimmer“ ab, wo sich ein Kohleofen und auch ein Waschbecken befanden. Es war so etwas wie ein Arbeitszimmer für Näharbeiten, aber auch die „Verlängerung“ zur Küche, wo alle Schmutzarbeiten erledigt werden konnten. Die Möbel waren hellgrün gestrichen und der Tisch mit unempfindlichem Kork belegt. Auch die Eckbank war hellgrün, die Stühle, sowie ein Schrank mit Vitrine, in der neben einer Spieluhr viele hübsche Sächelchen ihren Platz gefunden hatten. Meine Großmutter war über Winter immer bei uns, da sie in ihrem kleinen Häuschen in Jakobiburg sich in dieser Jahreszeit zu alleine fühlte.
Es war ein Ritual, dass Mutter und Großmutter, sobald mein Vater auf der Arbeit und meine Geschwister in der Schule waren, sich in aller Ruhe Ihre Morgenmäntel und Nachthemden auszogen, sich am Waschbecken wuschen und sich dann ankleideten.
Ich weiß nicht, warum ich es eklig fand, dabei zuzugucken. Mehr noch meine Mutter als meine Großmutter. Am Alter konnte es nicht liegen. Vielleicht die Art, wie sie sich bewegten oder was sie dabei besprachen? Die Themen waren eher uninteressant, es ging meist um Speisezettel oder andere Haushaltsfragen. An was lag es dann?
Es gab noch eine andere Art von Ekel. Wenn ich Fieber hatte, wurde es mit einem Thermometer gemessen und zwar im Popo. Um die Spitze geschmeidig zu machen, spuckte meine Mutter darauf. Dann wurde das Fieber gemessen. Das hat mich geekelt. Wenn ich mich bekleckert hatte, wurde auf ein Taschentuch gespuckt, um mich dann damit abzuwischen. Auch das fand ich eklig. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren, das war einfach so, fertig.
Monatsbinden, die damals noch aus Baumwolle bestanden und gewaschen werden mussten, wurden in dem Waschbecken im „grünen Zimmer“ eingeweicht und liegen gelassen, bis man Zeit hatte, sie zu waschen. Noch heute ist mir dieser Geruch in der Nase und genauso konnte ich auch das Bett meiner Mutter „nicht riechen“.
Damals war ein Gang zur Toilette in der Nacht zur Winterzeit unangenehm, aber vor allem eisig. Das Schlafzimmer meiner Eltern lag im Souterrain, während sich das Klo im ersten Stock befand. Da war es normal, einen Nachttopf zu benutzen. Gelüftet wurde allerdings eher wenig. Besonders das ungeheizte Schafzimmer war davon betroffen. Man war froh, dass es Bettflaschen gab.
Alles eher normal für damalige Zeiten. Woher dann der Ekel?
Ich denke, es ging um Kontrolle. Kontrolle über meinen Körper, möglichst über jede seiner Fasern, ohne mir die Möglichkeit einzuräumen, selbst über meinen Körper und meine Bedürfnisse zu bestimmen. Mir wurde gesagt, wann ich auf die Toilette zu gehen hatte, Widerspruch wurde nicht geduldet.
Was ich anzuziehen hatte, wurde mir ebenso vorgegeben wie das Essen, das ich zu verzehren hatte. Zwar nähte mir meine Mutter hübsche Kleider, aber die waren für den Sonntag bestimmt. Unterwäsche war nicht bequem in den 50er Jahren. Strümpfe wurden mit Strapsen festgehalten, die an einem Leibchen hingen. Zwischen Strumpfende und Unterhose war es kalt, dafür gab es wollene „Über-Unterhosen“ mit angestricktem Bein, die dann die nackten Schenkelenden wärmen sollten. Eine Alternative waren Trainingshosen, die man unter dem Rock anziehen konnte, die einen dann aber unförmig wirken ließen. Soweit so gut. Doch ich musste die wollenen Ungetüme auch tragen, als es nicht mehr kalt war. Noch heute höre ich meine Mutter über die Straße schreien (ich war damals 12!): „Hast du auch deine wollene Unterhose an?“ - so laut, dass es alle Nachbarn hören konnten.
Schlimm war auch, dass ich nicht selbst bestimmen durfte, wann ich satt war oder wie viel auf meinen Teller kam. Der musste leergegessen werden, auch wenn die ganze Familie längst in den Nachmittag verschwunden war. Und ich musste bis zu meinem 12. Lebensjahr bei Tisch eine Wachstuchschürze anziehen, die meine Mutter genäht hatte – zu jeder Mahlzeit! Das Wachstuch war schon alt, als der Schurz genäht wurde. Er roch übel. Auch diesen Geruch habe ich nicht vergessen. Meine Stimme aber galt nicht. Ich wurde nicht gehört.
Oder die Sache mit den Medikamenten: Meine Mutter hielt sich für sehr kompetent, was Medizin, Medikamente und Heilmethoden betraf. Sie brauchte damals kein Internet, um den Ärzten zu misstrauen und es „besser“ zu wissen. Es gab ja Heilpraktiker. So einen hatte sie als Guru auserkoren, nicht nur für sich, nein, für die ganze Verwandtschaft. Alle versorgte sie mit Tabletten. Sie hatte bis ins hohe Alter einen unglaublichen Medikamentenkonsum. Es ist erstaunlich, wie viel sie vertrug.
Auch mir hat sie alles mögliche eingetrichtert. Bevor ich überhaupt eine Meinung äußern konnte, hatte ich die Tropfen im Mund. Bis zu meinem 50. Lebensjahr! Wie konnte sie so viel Macht haben?
Als ich Abitur machte, hat sie mir vor der mündlichen Lateinprüfung Valium verabreicht, damit ich mich beruhigen sollte. Der Erfolg war, dass ich bei der Prüfung fast einschlief, mich nicht konzentrieren konnte und meine Note versaut habe.
Übergriffig war ihre Manie, meinen Schlaf zu kontrollieren. Ich habe einen leichten Schlaf, was aber nicht schlimm ist, denn morgens bin ich meist gut ausgeschlafen. Wie oft aber hat sie mich geweckt mitten in der Nacht mit den Worten: „du schläfst ja nicht!“ und schwupp hatte ich eine Ladung Baldrian im Mund. Eine Zeitlang war es dann Contergan, das sie mir verabreichte. Zum Glück war ich damals noch zu jung, um Kinder zu bekommen, sonst hätten meine Kinder heute womöglich verkrüppelte Gliedmaßen. Mit ihren Ansichten, selbst am besten zu wissen, welche Medikamente das Kind braucht, stand meine Mutter in dieser Zeit offenbar nicht alleine da.
So wurden in einem Kinderheim in der Eiffel in der Nachkriegszeit Versuche mit Contergan bei Verschickungskindern durchgeführt. Akteure, die noch aus der NS-Zeit stammten, verabreichten ihnen die doppelte Menge, die man Erwachsenen verschrieb. (Siehe Sendung des SWR „Das Leid der Verschickungskinder“ am 15.10.2022).
Meine Mutter hat sich immer gewundert, dass sie nie so geliebt wurde von ihren Kindern wie sie das von anderen Müttern erfuhr. Ich konnte sie nicht lieben, auch wenn sie mich nie schlug. Erklären konnte ich es mir nicht.
Was bedeutet Ekel für mich?
Ich meine hier nicht das Unwohlsein gegenüber der Fragwürdigkeit unserer Existenz, wie es Jean Paul Sartre in seinem Buch „Der Ekel“ (La Nausée) beschreibt, sondern ein körperliches Unwohlsein, das uns den Hals zuschnürt, in Abwehrhaltung versetzt und uns von der Quelle des Ekels forttreibt. Doch kenne ich in diesem Zusammenhang auch das Gefühl der Sinnlosigkeit, die mich häufig beschlich, wenn ich mir etwas nicht erklären konnte.
Ekel ist ein Warnzeichen. Wenn etwas bitter schmeckt, könnte es giftig sein. Wenn etwas widerlich aussieht, könnte es gefährlich sein. Ekel hat etwas zu tun mit unserer Sicherheit, er ist ein Schutz, eine Art...
| Erscheint lt. Verlag | 7.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| ISBN-10 | 3-8192-5411-0 / 3819254110 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-5411-6 / 9783819254116 |
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