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Der stille Freund (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2025
167 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-33613-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der stille Freund - Ferdinand Schirach
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Nach »Kaffee und Zigaretten« und »Nachmittage« - neue Erzählungen von Bestsellerautor Ferdinand von Schirach.
Ferdinand von Schirach schreibt über die Verletzlichkeit des Menschen, über seine Triumphe und sein Scheitern. Seine Geschichten erzählen von der Gesellschaft, vom Tod und von Verbrechen, von Musik, Film, Malerei und Philosophie. Sie spielen in Berlin, Kapstadt, Rom, Wien und an der Côte d´Azur. Sie berichten von privaten Begegnungen, von historischen Ereignissen und von Persönlichkeiten wie dem Tennisspieler Gottfried von Cramm, dem Architekten Adolf Loos oder dem Wiener Schriftsteller, Schauspieler und Kulturphilosophen Egon Friedell. Und immer wieder erzählt sein neues Buch »Der stille Freund« von Zufällen, die ein Leben unaufhaltsam verändern, von der Unbegreiflichkeit und Großartigkeit des Menschen, von der Unsicherheit des Daseins und der Sehnsucht nach Schutz, Sicherheit und Freiheit.

Das neue Buch bildet zugleich die Grundlage für Ferdinand von Schirachs großes Bühnenprogramm »Der stille Freund«, mit dem er ab Herbst 2026 durch Deutschland, Österreich und die Schweiz auf Tournee geht.

Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u.a. die Erzählsammlung Nachmittage sowie der Theatermonolog Regen.

Spiegelstrafe


Auf dem einzigen Foto, das ich von Cynthia besitze, ist sie fünf Jahre alt, ich bin zwei Jahre jünger. Wir stehen am alten Brunnen im Rosengarten vor unserem Haus in München. Sie ist größer als ich und hat eine Hand auf meine Schulter gelegt. Wir schauen beide angestrengt in die Kamera, die vermutlich mein Vater hielt. Ich erinnere mich nicht an die Situation, an nichts, was davor oder danach geschah. Nur dieses Schwarz-Weiß-Foto gibt es noch.

18 Jahre später traf ich sie auf einem Empfang in Bonn wieder. Sie studierte damals in England und besuchte über das Wochenende eine Freundin in der Stadt. Ich hatte dort gerade mein zweites Semester begonnen.

Um Cynthias vollständigen Namen mit allen Vornamen und Titeln zu schreiben, brauchte man eine halbe Seite. Sie stammte aus einer schlesischen Familie, die nach dem Krieg alles verloren hatte. Als sie vier Jahre alt war, sind ihre Eltern in Südamerika bei einem Autounfall umgekommen.

Cynthia war bei ihren Großeltern aufgewachsen. Das alte Fürstenpaar lebte damals in München. Sie beklagten sich nie, aber sie kamen nicht gut zurecht. Sie wohnten in drei kleinen Zimmern, die bis zur Decke mit Antiquitäten und Erinnerungen vollgestopft waren. Die Regeln, die sie gelernt hatten, galten nicht mehr, und die neuen Regeln hatten sie nie ganz verstanden. In Schlesien hatten sie zu den reichsten Familien gehört, jetzt besaßen sie nichts mehr. Sie wurden von Verwandten und Freunden unterstützt und wandten sich immer weiter zurück, der Vergangenheit zu.

Als ich Cynthia an diesem Tag in Bonn wiedersah, trug sie ein blau-schwarzes Kleid, eine vierfache Perlenkette umschloss eng ihren Hals. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt eine Zigarette zwischen den Fingern. Es war verblüffend: Sie sah genau aus wie das Bild, das der Fotograf Horst P. Horst 1946 von Babe Paley in New York für die Vogue gemacht hatte. Neben Cynthia stand einer der Männer, deren Gesichter immer zu nahe kommen, wenn sie reden. Ich ging zu ihr, sie umarmte mich und schien erleichtert. Wir verabredeten uns für den Abend, sie wollte meine Wohnung sehen.

Ich holte sie in Bad Godesberg bei ihrer Freundin ab, und wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bonner Hauptbahnhof. Wir gingen auf der Poppelsdorfer Allee an den immer schmutzigen Tulpen vorbei und weiter unter den hohen Kastanien bis zu meiner Wohnung. Es war ein später Frühlingstag gewesen. Die Stadt hatte den Rasen mähen lassen, es roch nach frischem Gras und nach Erde. Wir setzten uns auf den Balkon meiner Wohnung, und dann begann es endlich zu regnen. Die beiden Eisenstühle, die ich auf dem Flohmarkt gekauft hatte, waren zu unbequem, deshalb zogen wir die Matratze, die mein Bett war, aus dem Zimmer auf den Balkon. Ich machte Kaffee, und sie öffnete eine Flasche Pimm’s No. 1, die sie mitgebracht hatte.

Cynthia hatte ein Stipendium der Studienstiftung, leitete den Debattierclub ihres Colleges, spielte Theater in der Oxford University Dramatic Society und hatte bereits einen Aufsatz in einer angesehenen philosophischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Wir sprachen darüber, was wir tun würden und wer wir sein wollten. Natürlich traf später fast nichts davon ein, aber in dieser Nacht war alles wahr, was wir glaubten, und nichts fehlte uns.

Irgendwann zog sie ihre Schuhe aus und stützte ihr Kinn auf die angezogenen Knie. Ich verstand jetzt, warum Truman Capote gesagt hatte, Babe Paley sei einer seiner »Schwäne« gewesen. Ich fragte, ob sie wisse, dass sie heute beim Empfang wie die Paley ausgesehen habe. Sie lachte und nickte. In ihrem Internat in England hätten sie oft die Fotos von Cecil Beaton, Horst P. Horst und den anderen Fotografen aus den 50er und 60er Jahren nachgestellt. Sie hätte immer Babe Paley auf diesen Bildern gespielt und ihre beste Freundin Wallis Simpson – die Frau, wegen der König Edward VIII. abgedankt und auf die englische Krone verzichtet hatte.

»Das Kleid und die Perlenkette gehörten meiner Mutter«, sagte sie.

Truman Capotes Schilderungen von seinen Schwänen in New York kannte sie natürlich. Aber an seinem Buch Erhörte Gebete sei nur der Titel großartig, sagte sie.

»Capote wollte der Marcel Proust Amerikas werden«, sagte Cynthia. »Er hatte mit seinen Büchern Frühstück bei Tiffany und Kaltblütig ja unfassbaren Erfolg gehabt und damit auch einen ganz neuen Stil erfunden. Es war der Höhepunkt seines Lebens. Jetzt wollte er die New Yorker Gesellschaft so beschreiben, wie Proust das mit der Pariser Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts getan hat. Aber das war natürlich nicht möglich.«

»Warum?«, fragte ich.

»Capote verstand nicht, dass Marcel Proust über die upper class geschrieben hatte, er selbst aber über die high society. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.«

»Interessant«, sagte ich.

»Die upper class«, sagte Cynthia, »hat es immer gegeben und wird es immer geben. Aber die high society wurde erst durch die Boulevardpresse möglich, durch Radio und Fernsehen. Jeder in Amerika konnte jetzt etwas über diese Gesellschaftsschicht erfahren. Am Anfang in McClure’s Magazine und im Ladies’ Home Journal und später in allen Zeitschriften und Zeitungen, selbst in den seriösen. Es war ja kein Zufall, dass Capote seinen Black and White Ball 1966 im Plaza zu Ehren der Herausgeberin der Washington Post gab. Die high society, das waren die Neuen, das neue Geld, die nouveaux riches. Die amerikanische upper class ist selbst in diesem noch jungen Land viel älter. Ihre Vorfahren haben die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben, die Eisenbahnlinien gebaut und die Universitäten gegründet. Diese Leute haben nach und nach besondere Umgangsformen entwickelt, komplizierte Codes und Verfeinerungen, so wie der französische Adel bei Proust. Mit den Aufsteigern aus New York wollten sie nichts zu tun haben. Die Häuser und Familien der upper class waren den Neureichen nicht zugänglich, zu den alten Clubs bekamen sie trotz ihres Geldes keinen Zutritt. Die high society war also eigentlich eine Gegenbewegung zur upper class. Vor allem spielte das Leben der Neureichen in der Öffentlichkeit, nicht im Privaten. Jeder konnte und sollte ihrem Leben zuschauen. Es ging darum, berühmt zu sein.«

»Und in der upper class hat niemand so etwas gewollt? Klingt ein bisschen wie heute«, sagte ich.

»Genau wie heute sogar. Mein Großvater sagt, man dürfe nur drei Mal in der Zeitung stehen: bei Geburt, Hochzeit und Tod. Das Leben selbst könne man getrost dem Personal überlassen.«

»Auch Jules Verne schreibt so etwas. Der Held in seinem Roman In 80 Tagen um die Welt ist der Gentleman Phileas Fogg. Der gehöre zu der Sorte von Engländern, welche die Länder, durch die sie reisen, nur von ihren Dienern anschauen lassen«, sagte ich.

»Es ist sinnlos, sich anzustrengen, wenn man dadurch an seiner Stellung in der Gesellschaft nichts ändern kann. Eine Demokratie lebt von Aufstieg, Fall und Konkurrenz. Meine Großeltern nicht. Sie standen nie in einem Wettbewerb. Wozu Aufstieg und Ehrgeiz überhaupt gut sein sollen, blieb ihnen unklar. Sie konnten nichts werden und nichts verlieren. Auch ohne Vermögen und Land blieben sie genau das, als was sie geboren wurden«, sagte Cynthia. »Marcel Proust hat solche Menschen beschrieben. Sie waren genauso, wie meine Großeltern und beinahe alle alten Verwandten, die ich habe. Sie haben sich in ihrer Welt eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Aus ihr gibt es keinen Ausgang – und für andere eben auch keinen Eingang.«

»Die meisten Menschen glauben, das sei Arroganz«, sagte ich.

»Ich weiß. Aber das stimmt nicht. Für meine Großmutter gibt es nur richtiges und falsches Verhalten, alles andere ist entweder ›unerzogen‹ oder ›verrückt‹. Wenn ein Gast ›Guten Appetit‹ vor dem Essen wünscht oder das ›Klo‹ ›Toilette‹ nennt, findet sie das merkwürdig, aber sie verachtet denjenigen nicht. Einer, der ›lecker‹ sagt oder einen Ärmelknopf an seiner Jacke offen lässt, um zu zeigen, dass sie maßgemacht ist, gehört einfach nicht zu ihrer Welt. Das ist dann eben ein Mensch, der ›seine Möbel selbst kaufen muss‹, würde mein Großvater sagen. Das ist keine Arroganz. Das ist Distanz ohne Hochmut. Sie können gar nicht anders denken. Und meine Großeltern haben eine Sicherheit, die es heute gar nicht mehr gibt.«

»Parkettsicherheit«, sagte ich.

»Ja, aber es geht noch weiter. Meine Großmutter hält selbst einen Tisch für richtig oder falsch. Niemand brauche ein Bidet, sagt sie, ein Badezimmer müsse nur groß genug sein, damit man einen Stuhl reinstellen kann, um dem Kind in der Badewanne etwas vorzulesen. Wenn sich alles verändert, soll man das auf keinen Fall auch noch selbst tun – so dachten diese Menschen. Und so denken sie noch heute. Trotzdem würde sich natürlich niemand aus der upper class selbst dazu zählen. In England würden sogar die Familien, die ihre Namen seit der französischen Invasion tragen, das ablehnen. Vermutlich würden selbst die Mitglieder des Königshauses erklären, sie seien allenfalls upper middle class. Die Vergangenheit meiner Familie ist jedenfalls die Ausrede für alles.«

»Es geht um Zeit, oder?«, sagte ich.

»Das stimmt«, sagte sie. »Zeit ist bei Marcel Proust nur Erinnerung – eine Vorstellung ohne irgendeine Verbindung zur Realität. Seine Zeit ist...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Berlin • Bestsellerautor • Bestseller Bücher Neuerscheinungen 2022 • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Erzählungen • Italien • kaffee und zigaretten • Kapstadt • Kunst • Literatur • Nachmittage • platz 1 spiegel bestsellerautor • Rom • Südfrankreich • Verbrechen • Wien
ISBN-10 3-641-33613-9 / 3641336139
ISBN-13 978-3-641-33613-4 / 9783641336134
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