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Im Land der Vergessenen (eBook)

»Meisterhafte Erzählungen von einer der wichtigsten Stimmen des Iran. Diese Geschichten erzählen von dem, was die internationale Presse nicht berichten kann.« Taher Ben Jelloun, Le Point

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025
194 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-32067-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Land der Vergessenen - Aliyeh Ataei
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Die preisgekrönte iranische Schriftstellerin Aliyeh Ataei erzählt bewegend von ihrer Familie - und von der stillen Rebellion der Frauen. »Meisterhafte Erzählungen von einer der wichtigsten Stimmen des Iran. Diese Geschichten handeln von dem, was die internationale Presse nicht berichten kann.« Taher Ben Jelloun, Le Point

Sie kommt in Südiran zur Welt, in der Grenzregion zu Afghanistan. Hierher waren ihre Eltern vor den sowjetischen Besatzern von Kabul geflohen. In neun Erzählungen, die dreißig Jahre umspannen, taucht Aliyeh Ataei ein in die eigene Geschichte und in die ihrer Familie. Sie erzählt vom frühen Tod des von Flucht und Krieg gezeichneten Vaters. Vom Verlust des jungen Mannes, der ihre große Liebe bleibt. Und sie erzählt von Frauen, die still aufbegehren. Von Malalai, die in Teheran auf offener Straße angegriffen wird. Von Mahboubeh, die unter Verdacht steht, mit den Kommunisten zu sympathisieren. Oder von Anar, die einst in Kabul Englisch studiert und viele Jahre in London gelebt hat. Doch als sie wieder in ihre Heimat zurückkehrt, sind die Taliban an der Macht, und alle Leichtigkeit ist aus ihrem Leben verschwunden.

Aliyeh Ataei ist eine preisgekrönte iranische Autorin und Frauenrechtsaktivistin mit afghanischen Wurzeln. Sie gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Irans. Ihr Schreiben ist autofiktional; mit besonderem Fokus auf das Schicksal von Frauen. Aliyeh Ataei, 1981 in Iran geboren, wuchs an der zu Afghanistan auf und studierte an der Teheraner Universität Drehbuchschreiben. Im Land der Vergessenen wurde mit dem renommierten Mehregan-e-Adab-Preis als »Bestes Buch des Jahres« ausgezeichnet. Seit 2023 lebt Aliyeh Ataei in Paris.

WAS WEISST DU SCHON VOM KOMMUNISMUS? DU BIST DOCH VIEL ZU JUNG DAFÜR


1987 (1366 islamisches Sonnenjahr)

Grenzgebiet zwischen Iran und Afghanistan

Mahboubeh stammte aus Mashhad in der Provinz Khorassan, im Nordosten Irans. Von ihrer Familie hieß es, sie sei Anhängerin der kommunistischen Tudeh-Partei und kämpfe für die Linke in Khorassan. Mahboubeh lernte Aman Khan an der Ferdowsi-Universität in Mashhad kennen, und die beiden jungen Leute heirateten gegen den erbitterten Widerstand ihrer Eltern. Aman Khans Mutter, die verstoßene Tochter eines Großfürsten aus Herat, sah in den Anhängern der kommunistischen Tudeh-Partei das iranische Gegenstück zu den afghanischen Kommunisten, gegen die sie einen bitteren Groll hegte, weil diese ihr Land in Schutt und Asche gelegt hatten. Fast alle ihrer Verwandten waren bei der sowjetischen Invasion umgekommen, nicht etwa als Kämpfer und Märtyrer. Sie waren vielmehr abgeschlachtet und in Massengräbern verscharrt worden, zusammen mit Hunderten namenloser Leichen. Aman Khans Mutter war der Meinung, dass die Kommunistin Mahboubeh ihren Sohn verdorben und von seiner Familie abgeschnitten hatte, damit die beiden gemeinsam Unruhe stiften konnten.

Nach dem Abitur am Shavkatiyeh-Gymnasium in Birjand hatte sich Aman Khan an der Universität von Mashhad eingeschrieben, wo er für Mahboubeh und ihre Ideologie entflammt war, was wiederum seine Familie, die von Afghanistan nach Iran geflohen war, vor den Kopf stieß. 1979, als Iran den Sieg der Islamischen Revolution feierte, brach am 17. März in Herat ein Aufstand gegen die kommunistische Regierung von Nur Muhammad Taraki und die ihn unterstützenden kommunistischen Parteien Khalq und Parcham aus. Es war der größte Volksaufstand in Afghanistan gegen die kommunistische Regierung, die seit dem Staatsstreich vom 27. April 1978 an der Macht war. Mehr als siebzig Männer aus meiner Familie verloren dabei ihr Leben. Diese Zahl mag im Vergleich zu der Gesamtzahl der 24 000 Opfer vielleicht gering erscheinen, dennoch hinterließ der Aufstand tiefe Narben. Diejenigen, die die sowjetischen Bombenangriffe überlebten, wurden von einem Regime, das entschlossen war, sie zu vernichten, geradewegs ins Exil getrieben. Aman Khans Mutter war eine von ihnen, und getreu dem Sprichwort »Ein Wolf bleibt immer ein Wolf« machte sie Mahboubeh für die Verirrung ihres Sohnes verantwortlich. Das Gymnasium in Birjand hatte ihn vor den afghanischen Kommunisten geschützt, aber an der Universität war er dann in die Fänge von Mahboubeh geraten, die mit der Tudeh-Partei sympathisierte.

Die Islamische Revolution unterbrach das Studium der beiden. Nach der Schließung der Universitäten heirateten Mahboubeh und Aman Khan heimlich im Beisein einiger Freunde, die als Trauzeugen fungierten. Anschließend zog das junge Paar als Lehrer in ein abgelegenes Dorf in der Nähe von Shirvan im Norden von Khorassan. Dort wurden ihre beiden Söhne geboren.

Ich sah sie alle zum ersten Mal acht Monate vor ihrer Abreise – oder besser Flucht – nach Afghanistan. Sie waren gerade mit ihren Kindern in unserem Dorf in der Grenzregion angekommen. Der Junge, der in meinem Alter war, wurde mein Spielgefährte.

Ich erinnere mich noch gut an die fröhliche Aufregung der ersten Tage nach ihrer Ankunft. Vielleicht habe ich es als Kind auch nur so aufgenommen und den Aufruhr, den sie verursachten, als freudige Aufregung interpretiert. Ihre Namen waren in aller Munde.

Mitte der 1980er-Jahre hatten die meisten unserer Familienmitglieder es geschafft, nach Iran zu fliehen, und wollten von dort aus meist weiterziehen. Aman Khan, der mit meinem Vater verwandt war, wollte aber im Gegensatz dazu unbedingt wieder nach Afghanistan zurück. Meinen Vater bekümmerte das sehr, und jeden Abend konnte man im Garten seine heftigen Diskussionen mit Aman Khan hören: »Was hat der Sohn eines Feudalherrn bei den Kommunisten zu suchen? Lass es sein! Warum willst du in dein eigenes Verderben laufen?« Trotz allem warf er ihn nicht aus dem Haus, und im Gegensatz zu den meisten anderen Familienmitgliedern behandelte er auch Mahboubeh, die Fremde, mit Respekt und sagte immer wieder zu Aman Khan: »Lass dich von ihren politischen Ansichten nicht blenden. Sie mag nett sein. Aber sie gehört nicht hierher.«

Mahboubeh war schön. Sie war klein, hellhäutig und trug immer einen braunen Mantel und ein großes schwarzes Kopftuch, das ihre Stirn verdeckte und das sie auch im Haus nicht ablegte. Mahboubeh war anders als die Frauen in unserer Familie. Sie war sanftmütig, und wenn ihr Sohn Ali und ich spielten, saß sie etwas abseits und schaute uns zu. Aman Khans Mutter, ihre Schwiegermutter, ließ keine Gelegenheit aus, sie mit Schimpf und Schande zu überziehen. Oft warnte sie uns sogar vor ihr. Mahboubeh sei gefährlich, sie werde früher oder später gefasst und hingerichtet. Mahboubeh blieb davon ungerührt. Sie sprach selten und sah in meinen Augen nicht wie eine Kriminelle aus.

Ich hatte zwar viel über den Tod gehört, wusste aber nichts von Hinrichtungen. Tod hatte etwas mit Krieg zu tun, und Krieg bedeutete für mich als Kind die Luftangriffe auf Herat und die Sirenen in Teheran. Deshalb war es für mich seltsam, dass sie sagten, Mahboubeh sei eine Gefahr, obwohl es von all diesen Dingen hier an der Grenze keine Spur gab. Hilft ein erlebtes Trauma, die Geschehnisse in einem anderen Umfeld besser zu verstehen? Hier in Iran hatte das Wort Hinrichtung für mich jedenfalls keinerlei Bedeutung.

Mahboubeh mit ihren hellen, honigfarbenen Augen, die so liebevoll mit ihren Kindern und ihrem Mann umging, war eine Fremde unter uns, eine Fremde, die ihren Schlaf verloren hatte. Jedes Mal, wenn ich nachts aufwachte und über den Hof zur Toilette ging, sah ich sie. Sie saß in einer Ecke und blickte hinauf zu den Sternen. Es war, als ob sie ihr Schicksal befragen wollte, an einem Ort weit weg von ihrem Zuhause, unter Fremden, die zwei Vaterländer hatten oder vielleicht auch keins.

Es ist schwer, sich ein einfacheres und eintönigeres Leben vorzustellen als in den abgelegenen Grenzdörfern. Dort mischt sich Monotonie mit Unsicherheit. Es ist nicht die Unsicherheit der großen Städte mit ihren Aufständen und Revolten. Hier ruft niemand »Nieder mit dem und dem« oder »Es lebe der und der«, aber jeder trägt in sich die tiefen Wunden, die von der Politik der Großstädte herrühren. Die geflüchteten Familien kamen mit ihren Wunden zu uns und blieben eine Weile, bevor sie in Richtung anderer Länder weiterzogen. In der Zwischenzeit war es, als würde sich ein Rudel verwundeter Leoparden in der Wüste fortpflanzen, immer noch voller Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei sein würde und damit auch ihre Sorgen. Ich weiß nicht, wie meine Familie in diesen Jahren Hoffnung geschöpft hat. Es scheint in der Natur des Krieges zu liegen, dass er die Menschen abstumpfen lässt, weil er ihnen die Fähigkeit nimmt, zu träumen und sich die Zukunft vorzustellen. Niemand wird je erfahren, ob es eine unglückliche Fügung war, die Mahboubeh zu uns geführt hatte, oder ob es der Preis für ihre Liebe zu einem Afghanen war, einem Mann, der wie sie in Iran studiert hatte und sich als Iraner fühlte. Schließlich, an einem dieser aufgebrachten Abende, an denen jeder seinem Hass auf die afghanischen Kommunisten freien Lauf ließ, erklärte Amans Onkel Zahir Khan, dass es für Aman und seine Familie keinen sichereren Ort als Afghanistan gebe. Man müsse akzeptieren, dass Aman ein Verräter an seinen beiden Vaterländern sei und dass Verräter derzeit in Afghanistan sicherer seien: Er solle bei seinen kommunistischen Kameraden Zuflucht suchen!

Der letzte Abend von Aman und seiner Familie in Iran hatte nichts mit den Abschiedsfeiern zu tun, die wir später für die jungen Leute meiner Generation organisierten. Sie bleibt mir im Gegenteil als eine der schrecklichsten Stunden meines Lebens in Erinnerung.

Die Mutter von Aman, meine Großmutter und die anderen älteren Frauen der Familie, die alle nur Bibi genannt wurden, saßen im Kreis um den Raum herum und lehnten sich an große Kissen. Seit Beginn des Krieges in Afghanistan, in den Nächten, in denen die Angst unerträglich war, versammelten sie sich und schlugen die Zeit tot, indem sie Patronenhülsen polierten. Das war eine uralte Tradition, die angeblich auf die Zeit der Stammeskriege zurückgeht. Manchmal beobachtete ich sie durch das Fenster und sah, wie vor ihnen Schüsseln mit Benzin, Gewehre und Magazine mit Patronenhülsen standen. Die Frauen leerten die Magazine und tauchten die Hülsen in das Benzin. Dann nahm abwechselnd eine die Hülse, eine andere trocknete sie mit einem Tuch, und eine dritte füllte die Magazine wieder auf. Ich hatte endlich das Alter erreicht, um zu diesem Ritual zugelassen zu werden, und so half ich, eine Schüssel mit Benzin zu tragen, und stellte sie vor den alten Frauen ab. Natürlich durften meine Hände dabei nicht zittern, und meine Haare mussten im Nacken zusammengebunden sein. An diesem Abend aber habe ich gezittert und mein Kleid mit Benzin befleckt. Ich bezweifle, ob mit diesen Kugeln jemals auf den Feind geschossen wurde, man erzählte sich jedoch, dass meine Großmutter einmal auf Amans Mutter gezielt hatte, die Kugel allerdings ihr Ziel verfehlt und ihr Lieblingspferd getroffen hatte.

Fanden sie Trost in diesem Ritual? War es ihre Art, durchzuhalten? Oder machten sie sich eine Form der Gewalt zu eigen, die sonst nur Männern vorbehalten war? Wie dem auch sei, an diesem schrecklichen Abend versammelten sie sich, und Mahboubeh saß in ihrem braunen Mantel und dem schwarzen Kopftuch abseits am Ende des Raums. Obwohl ich noch ein Kind war, spürte...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2025
Übersetzer Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow
Sprache deutsch
Original-Titel Koorsorkhi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afghanistan • eBooks • Erzählungen • Exil • Familie • Flucht • Frauen • Iran • Literatur • Preisgekrönte Autorin • Rebellion
ISBN-10 3-641-32067-4 / 3641320674
ISBN-13 978-3-641-32067-6 / 9783641320676
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