Der Staatsbewohner (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77848-7 (ISBN)
Der unbequeme Klassiker der russischen Literatur
Besten Willens, beim Bau der Republik mitzuarbeiten, brechen Platonows Helden in die Weiten der neuen sowjetischen Erde auf, um nach dem Rechten zu sehen und die menschlichen Fundamente zu überprüfen. Die Fragen, die sie stellen, stoßen auf Unverständnis. Makar, ein kleiner Bauer, gerät darüber in Verzweiflung und landet am Ende im Irrenhaus, wo man den Kranken aus Lenins Schriften vorliest. Anders der für das Transportwesen zuständige Weretennikow. Er spricht den Staat mit »Sie« an und rät jedem, der leidet, er solle gefälligst warten und so lange leben, bis der Staat ihn bemerkt und sich um ihn kümmert.
Während sich in diesem »Staatsbewohner« der Prototyp des zynischen Untertanen und Mitläufers ausbildet, tritt in der meisterhaften Reisenovelle »Zu Gute« ein enthusiastisch Suchender auf, der die Mängel, die er entdeckt, nicht verschweigen kann. Die Veröffentlichung dieses Textes, der Stalins Zorn erregte, war der Anfang vom Ende der schriftstellerischen Karriere Platonows. Bis zu seinem Tod 1951 konnte er nichts mehr von vergleichbarem Rang veröffentlichen.
<p>Andrej Platonow, 1899 in Woronesch geboren, begann mit 14 Jahren zu arbeiten, absolvierte später das Eisenbahnertechnikum und war in den 20er Jahren als Ingenieur für Bewässerungstechnik und Elektrifizierung tätig. Seit 1918 publizierte er Lyrik, Erzählungen und journalistische Arbeiten. Seine Hauptwerke, <em>Tschewengur</em> (1926) und <em>Die Baugrube</em> (1930), konnten nicht erscheinen. Platonow starb 1951. Erst in den 80er Jahren setzte seine Wiederentdeckung ein.</p>
Makar, wie er zweifelt
Unter den sonstigen werktätigen Massen lebten zwei Glieder des Staates: der normale Bauer Makar Ganuschkin und ein stärker herausragender – der Genosse Lew Tschumowoj, der der höchst Verständigste im Dorf war und, dank seines Verstandes, die Bewegung des Volkes voraus anführte – auf direkter Linie zum allgemeinen Wohl. Dafür sprach die gesamte Dorfbevölkerung über Lew Tschumowoj, wenn er irgendwo vorbeiging:
»Gerade ist unser Führer im Schritt wohin gegangen – da kannst du morgen die Einleitung von Maßnahmen erwarten … Ein kluger Kopf, nur die Hände sind leer – lebt vom reinen Verstand …«
Makar aber, wie jeder Bauer, mochte mehr den Erwerb als den Pflug und kümmerte sich nicht um Brot, sondern um Spiele, weil er, nach dem Befund des Genossen Tschumowoj, einen hohlen Kopf hatte.
Ohne beim Genossen Tschumowoj die Erlaubnis einzuholen, organisierte Makar einmal ein Schauspiel – ein Volkskarussell, das von der Macht des Windes um sich selbst gedreht wird. Das Volk sammelte sich als dichte Wolke um Makars Karussell und wartete auf den Sturm, der es in Bewegung setzen könnte. Aber irgendwie verspätete sich der Sturm, das Volk stand ohntätig, und unterdessen verschwand Tschumowojs Fohlen in die Wiesen und verirrte sich in den feuchten Stellen. Wäre das Volk in Ruhe gewesen, dann hätte es das Fohlen gleich eingefangen und nicht zugelassen, dass Tschumowoj einen Verlust erleidet, aber Makar hatte das Volk aus der Ruhe gebracht und dabei geholfen, dass Tschumowoj Schaden litt.
Tschumowoj selbst jagte nicht dem Fohlen hinterher, sondern kam zu Makar, der sich stumm nach dem Sturm sehnte, und sagte:
»Du lenkst das Volk hier ab, und ich habe keinen, der das Fohlen verfolgt …«
Makar erwachte aus der Nachdenklichkeit, weil ihm etwas eingefallen war. Denken konnte er nicht, weil er einen hohlen Kopf über den klugen Händen hatte, aber dafür fiel ihm gleich etwas ein.
»Gräm dich nicht«, sagte Makar dem Genossen Tschumowoj, »ich mache dir einen Selbstfahrer.«
»Wie?«, fragte Tschumowoj, weil er nicht wusste, wie mit seinen leeren Händen einen Selbstfahrer machen.
»Aus Reifen und Schnüren«, antwortete Makar, ohne zu denken, aber mit dem Gefühl für die Zugkraft und das Umlaufen in jenen künftigen Schnüren und Reifen.
»Dann mach es bald«, sagte Tschumowoj, »sonst ziehe ich dich zur gesetzlichen Verantwortung für die ungesetzlichen Spiele.«
Aber Makar dachte nicht an die Strafe – denken konnte er nicht –, er überlegte, wo er Eisen gesehen hat, und konnte sich nicht erinnern, weil das gesamte Dorf aus Oberflächenmaterial gemacht war: aus Lehm, Stroh, Holz und Hanf.
Der Sturm kam nicht, das Karussell lief nicht, und Makar kehrte zurück zum Hof.
Zu Hause trank Makar vor Schwermut Wasser und bemerkte den herben Geschmack jenes Wassers.
»Bestimmt gibt es auch deshalb kein Eisen«, Makar fiel etwas ein, »weil wir es mit dem Wasser trinken.«
In der Nacht schlüpfte Makar in einen trockenen, verwilderten Brunnen, verbrachte darin einen ganzen Tag und suchte Eisen unter dem feuchten Sand. Am zweiten Tag zogen die Bauern Makar heraus, unter dem Kommando Tschumowojs, der fürchtete, ein Bürger könnte abseits der Front des sozialistischen Aufbaus umkommen. Makar war nicht zu stemmen – in seinen Händen waren braune Batzen Eisenerz. Die Bauern zogen ihn raus und verfluchten ihn für das Gewicht, und Genosse Tschumowoj versprach, Makar für die gesellschaftliche Aufregung mit einer weiteren Strafe zu belegen.
Jedoch hörte ihn Makar nicht an und machte in einer Woche aus dem Erz Eisen, nachdem seine Bäuerin im Ofen Brote gebacken hatte. Wie er das Erz im Ofen gebrannt hat, war niemandem bekannt, weil Makar mit seinen klugen Händen handelte und dem stummen Kopf. Noch einen Tag später hatte Makar ein Eisenrad gemacht, dann noch ein weiteres Rad, doch keins der Räder fuhr von selbst: man musste sie mit den Händen rollen.
Kommt Tschumowoj zu Makar und fragt:
»Hast du einen Selbstfahrer gemacht anstatt dem Fohlen?«
»Nein«, sagt Makar, »mir ist eingefallen, dass sie selbst rollen, aber sie – nichts.«
»Was hast du mich denn betrogen, du Brausekopf!«, rief Tschumowoj amtlich aus. »Dann mach halt ein Fohlen!«
»Kein Fleisch da, sonst würde ich machen«, weigerte sich Makar.
»Und wie hast du Eisen aus Lehm gemacht?«, erinnerte sich Tschumowoj.
»Ich weiß nicht«, antwortete Makar, »ich habe kein Gedächtnis.«
Tschumowoj war jetzt gekränkt.
»Was denn, du verbirgst eine Entdeckung von volkswirtschaftlicher Bedeutung, du Teufels-Subjekt! Du bist kein Mensch, du bist ein Einzelbauer! Ich werde dich jetzt rundum abstrafen, dass du weißt, wie man denkt!«
Makar gab sich geschlagen:
»Aber ich denke ja nicht, Genosse Tschumowoj. Ich bin ein leerer Mensch.«
»Dann Hände weg, tu nicht, was du nicht begreifst«, warf der Genosse Tschumowoj Makar vor.
»Wenn ich, Genosse Tschumowoj, deinen Kopf hätte, dann würde ich auch denken«, bekannte Makar.
»Eben, eben!«, bestätigte Tschumowoj. »Aber so einen Kopf gibt es einen auf das ganze Dorf, und du musst mir gehorchen.«
Und hier strafte Tschumowoj Makar rundum ab, und so musste sich Makar zum Erwerb nach Moskau begeben, um die Strafe zu zahlen, und Karussell und Wirtschaft unter der rührigen Fürsorge des Genossen Tschumowoj zurücklassen.
***
Makar war vor neun Jahren schon Zug gefahren, im Jahr neunzehn. Damals beförderte man ihn umsonst, weil Makar sofort aussah wie ein Tagelöhner, man fragte ihn nicht mal nach seinen Papieren. »Fahr weiter«, sagte ihm mitunter die proletarische Wache, »du bist blank, bist uns lieb.«
Heute stieg Makar, so wie vor neun Jahren, ohne zu fragen in den Zug und wunderte sich über die Menschenleere und die offenen Türen. Aber trotzdem setzte sich Makar nicht in die Mitte des Waggons, sondern auf die Kupplungen, um zu schauen, wie die Räder im Fahren arbeiten. Die Räder begannen zu arbeiten, und der Zug fuhr los in die Mitte des Staates – nach Moskau.
Der Zug fuhr schneller als jedes Halbblut. Die Steppen flogen dem Zug entgegen und nahmen scheinbar kein Ende. »Sie plagen die Maschine«, Makar bedauerte die Räder. »Tatsächlich, was es nicht alles gibt auf der Welt, so wüst ist sie und leer.«
Makars Hände befanden sich in Ruhe, ihre freie kluge Kraft war in seinen hohlen großen Kopf gegangen – und er fing an zu denken. Makar saß auf den Kupplungen und dachte, was er konnte. Allerdings saß Makar nicht lange. Es kam eine Wache ohne Waffe und fragte nach seiner Fahrkarte. Eine Fahrkarte hatte Makar nicht bei sich, weil es nach seiner Annahme die starke Sowjetmacht gab, die jetzt alle Bedürftigen überhaupt für umsonst fährt. Der Wächter-Kontrolleur sagte Makar, dass er auf alle Fälle aussteigen soll an der ersten Bahnstation, an der es ein Buffet gibt, sodass Makar nicht an Hunger stirbt auf der öden Strecke. Makar sah, dass die Macht sich um ihn sorgt, wo sie nicht einfach vertreibt, sondern ein Buffet anbietet, und bedankte sich bei dem Zügechef.
An der Bahnstation stieg Makar trotzdem nicht aus, obwohl der Zug hielt, um Briefumschläge und Postkarten aus dem Postwaggon zu entladen. Makar erinnerte sich an eine technische Erwägung und blieb auf dem Zug, um ihm beim Weiterfahren zu helfen … »Umso schwerer eine Sache ist«, Makar stellte sich vergleichend Stein und Feder vor, »umso weiter fliegt sie, wenn du sie wirfst; so fahre auch ich mit dem Zug als weiterer Ziegelstein, damit der Zug bis Moskau sausen kann.«
Um die Zugwache nicht zu kränken, kroch Makar in die Tiefe des Mechanismus unter den Waggon und legte sich dort zum Ausruhen, der wogenden Schnelligkeit der Räder lauschend. Von der Ruhe und dem Schauspiel des Trassensandes schlief Makar fest ein und träumte, er löse sich von der Erde und fliege durch den kalten Wind. Aus diesem prächtigen Gefühl bedauerte er die auf der Erde verbliebenen Menschen.
»Serjoshka, was lässt du denn die heißen Achshälse im Stich!« Makar wachte von diesen Worten auf und griff sich an den Hals: ist sein Körper heil ...
| Erscheint lt. Verlag | 17.12.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Gabriele Leupold |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Die Baugrube • Franz Kafka • James Joyce • Josef Wissarionowitsch Stalin • Mitläufertum • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Neuübersetzung • Osteuropa • Repression • Robert Musil • Russische Moderne • Russland • Sowjetunion • UdSSR Sowjetunion • Ungehorsam • Untertan • Wahrheitsliebe • Weltliteraur • Wladimir Iljitsch Lenin |
| ISBN-10 | 3-518-77848-X / 351877848X |
| ISBN-13 | 978-3-518-77848-7 / 9783518778487 |
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