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Die kalten Nächte der Kindheit (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025
100 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518783399 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die kalten Nächte der Kindheit - Tezer Özlü
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Eine große literarische Wiederentdeckung
Die kalten Nächte der Kindheit erzählt vom Heranwachsen einer Frau, von ihrem Begehren, ihren Träumen, ihrer Widerständigkeit. Und wirkt darin heute so aktuell wie damals.

»1949. In einer Provinzstadt in Anatolien mit 4000 Einwohnern lerne ich die Welt sehen. Bin 6 Jahre alt. ... Ich empfinde die maßlose Größe der Welt und weiß, dass ich fort und weit weg gehen werde.« So schreibt Tezer Özlü 1981 an den Deutschen Akademischen Austauschdienst über das prägende Gefühl ihrer Kindheit.

Erwachsen geworden, wird sie nach Berlin, Paris und Zürich reisen, fort und weit weg von der Türkei und den »Menschen in Uniform«, dem lauernden Wahnsinn. Sie tauscht die heimischen Obstgärten und Klassenzimmer der Nonnenschule ein gegen die Straßen und Cafés europäischer Hauptstädte - und gegen das Schreiben. Um eine Welt zu erfinden, die ihr entspricht. Indes wird sie über Jahre in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Doch selbst das kann ihren Willen nicht brechen.

Tezer Özlü, geboren 1943 in Anatolien, war eine türkische literarische Übersetzerin und Schriftstellerin, die auch in Deutschland gewirkt hat. Sie besuchte in Istanbul das katholische, österreichische St. Georgs-Kolleg und übersetzte u. a. Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Franz Kafka und Cesare Pavese. Sie lebte in Paris, Ankara, Istanbul, Berlin und Zürich, wo sie 1986 starb.

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman, Die Ungehaltenen, erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen. Außerdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für Tagesspiegel, Der Freitag und weitere überregionale Tageszeitungen). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.

Das Haus


Mein Vater hat die Trillerpfeife aus seiner Zeit als Sportlehrer behalten. Noch bevor er morgens den übergroßen gestreiften Pyjama auszieht, bläst er in seine Pfeife:

Was willst du in der Armee, wenn du so empfindlich bist? Los, aufstehen! Aufstehen!

Er klingt wie eine Trompete.

Ich wache in Süms Armen auf, im frühen Morgenlicht. Ich frage mich, was die Streitkräfte in den Augen meines Vaters mit dem Leben in unserem Haus verbindet. Er verlangt im Alltag militärische Ordnung. Das steht fest. Wäre er reich, würde er vielleicht echte Trompeter vor der Tür aufspielen lassen. Die türkischen Männer der Generation meines Vaters lieben das Militär.

Jetzt sind wir nicht mehr in der Provinz. Die weiten Obstgärten zwischen den Holzhäusern sind in den stillen Kleinstädten zurückgeblieben. Und die stillen Kleinstädte in den Fünfzigerjahren. Die hohen Tannen Esentepes, unter denen wir gelbe und lila Krokusse aus dem schmelzenden Schnee pflückten, sind ferne Kindheitsbilder. Mit dünnen Beinen laufe ich in jenen hellen Sommertagen den Hügel hoch. Den kühlen Winden der Berge entgegen.

Die Allee, die in Saraçhanebaşı beginnt, reicht bis nach Edirnekapı – in ihrer Mitte ein breiter Fußweg mit hoch aufragenden Platanen. Zu beiden Seiten des Fußwegs fährt die Tram mit ihren roten und grünen Wagen. Im Erdgeschoss der Gebäude entlang der Allee befinden sich Geschäfte, darunter ein, zwei Banken. Etwa auf halber Strecke geht ein gepflasterter Weg ab und führt den Hügel entlang nach Çarşamba. Dort, nach der zweiten Abzweigung links, wo sich die Straße rechts in eine Sackgasse krümmt, steht unser Haus. Dass wir in dieses Brandviertel gezogen sind, in dem er schon als Kind gespielt hat, erfüllt meinen Vater mit unvorstellbarer Freude.

Wenn ich mich nachts an meine Mutter schmiege, finde ich Schutz vor Kälte und Einsamkeit. An den Wintermorgen, auf dem Schulweg hinaus aus der Kleinstadt, kämpfen wir uns mit gesenktem Kopf gegen Schnee und Wind voran. Die Kälte reißt meine Hände auf, ich blute. Die Hügel, auf denen im Sommer die Kuhfladen trocknen, sind jetzt watteweiß vom Schnee. Von den Hausdächern hängen dicke Eiszapfen.

Wo es einst gebrannt hat, baut mein Vater das Haus, das er so sehr vermisst hat. Während sie den Grund ausheben, Sand und Kalk ankarren, Ziegelwände mauern, weicht er den Arbeitern nicht von der Seite. Kaum ist der Bau fertiggestellt, pflanzt er drei Kiefern im kleinen Garten.

Strom gibt es in der Kleinstadt nur am Abend, bis Mitternacht. Der Sommer taucht die Wege entlang der Holzzäune der Gärten in ein stilles Licht. Am Nachmittag krähen die Hähne. An den Berghängen grasen Kühe. An manchen Tagen halten die plattnasigen Busse von Istanbul nach Ankara auf dem Platz vor dem Uhrturm. Ich betrachte die Menschen, die in die Großstädte pendeln, mit Sehnsucht. Und ich sage mir still: »Eines Tages werde auch ich diese fernen Welten kennen.«

Jahre später sagt mein Vater:

Jetzt habe ich einen Namen für dieses Haus: »Çelebi Apartman«.

Er lässt den Namen in Marmor gravieren und hängt die Plakette rechts neben die Eingangstür. Die Straße vor dem Haus ist gesäumt von einem illegal gebauten Gecekondu mit vielen Zimmern, die eine Großfamilie bewohnt. Die Trauerweide, die sie gepflanzt haben, ist gut gewachsen. In den Sommermonaten sitzen sie unter dem Baum. Nachts singen sie und trommeln auf einer Daf. Wir leben verwoben mit ihrem Lärm.

Im Erdgeschoss des Holzhauses liegt der hundertjährige Vater der Besitzerin schlohweiß im Bett. Ihm wachsen wieder Milchzähne. Er phantasiert von einer unendlichen Kutschfahrt in sein Dorf zurück. Die Frau kocht Milchkaffee auf der Glut, die sie aus dem Ofen schöpft. Weil wir noch Kinder sind, gibt sie uns nichts davon ab. Im kleinen Fenster hängen weiße Gardinen. In den Bäumen im Garten reifen Pflaumen. Ich betrachte ängstlich das dünne Bein, den großen Fuß und die langen Fußnägel des Großvaters, die aus dem weißen Laken ragen.

In unserem Haus sind wir zu sechst. Ich teile mir ein abgenutztes Metallbett mit Süm. Es ist das Bett, das meine Mutter als Mitgift in die Ehe gebracht hat. Kaum hat sie sich in die Kuhle der Matratze gelegt, schläft Süm ein. Auch ich suche am abschüssigen Matratzenhang nach Schlaf und denke über Gott nach. Ob es ihn gibt oder nicht. Ich bete zu ihm, für uns alle. Bis zu jener Nacht, in der ich weiß, dass es keinen Gott gibt. Jetzt brauche ich nicht mehr zu beten. Ich kann denken, was ich will.

Jede Nacht schlafe ich in Süms Schoß. Morgen müssen wir uns trennen.

Ich werde dich küssen,

sagt sie.

Ich habe noch nie einen Mann geküsst.

Du küsst meine Oberlippe und ich deine Unterlippe,

sagt sie.

Wir machen, was sie sagt.

Wenn sie uns nur lassen würden. Ich in ihrem Schoß schliefe. Wir einem inneren Impuls folgen und unsere Körper entdecken und einander lieben würden. Aufwachsen mit der Liebe, wie die Natur sie gibt. Wie das Kind im Mutterleib.

Auch Bunni schläft in unserem Zimmer. Bunni betet fünf Mal am Tag. Sie spricht die Gebete auf Arabisch. Wenn wir sie beim Beten ärgern, wird sie lauter. Auch nachts im Schlaf schreit sie, »Oh Gott, lieber Gott«. In den über neunzig Jahren ihres Lebens wiederholt sie nichts so oft wie das Wort »Gott«.

Im Bett liegend, fand ich immer nur schwer in den Schlaf. Hörte jedes Geräusch in der Umgebung, sah jedes Licht. Sogar in den stillen Nächten der Krankenhäuser hörte ich die Schreie aus der benachbarten Kinderklinik und konnte nicht schlafen.

Bunni steht früh auf. Kehrt die Asche aus dem Ofen. Legt das Brennholz hinein, verteilt darunter die Anzündstäbchen, schüttet etwas Öl drüber und steckt es in Brand. Das Brennholz knistert »knack, knack«. Das feuchte Morgengrau weicht langsam einer angenehmen Wärme und Helligkeit. Jetzt ist es Zeit für uns, aufzustehen. Ist das Zimmer noch nicht warm genug, drängen wir uns um den Ofen, bis der Tag beginnt. Im eiskalten Badezimmer waschen wir uns eilig mit noch kälterem Wasser das Gesicht und rennen dann zum Ofen zurück. Unsere schwarzen Schuluniformen liegen seit dem Vorabend bereit. Sie haben die Kälte der Nacht angenommen. Wir tragen sie zum Ofen und wärmen sie auf. Beim Ausziehen bekommen wir Gänsehaut. Bunni bringt uns auf einem großen Blech Tee, Quittenmarmelade und geröstetes Brot.

Ein Jahr später folge ich Süm aus der Provinz nach Istanbul. Süm zeigt mir, was sie Neues gelernt hat. In ein verdrecktes Waschbecken kippt sie Salz:

Schau, das wird jetzt ganz sauber,

sagt sie. Reibt es ein.

Siehst du?,

fragt sie.

Vor dem Kühlregal eines Supermarkts bleiben wir stehen:

Wir trinken jetzt haltbare Milch,

sagt sie.

Was ist das?,

frage ich.

Man kann sie trinken, ohne vorzukochen. Schmeckt großartig.

Sie trinkt. Mir schmeckt es nicht.

Wir gehen ins Kino Atlas. Ein großer Saal. Den Film habe ich nicht vergessen. Die sündige Stadt. Nach dem Kino kauft Süm geröstete Maronen. Sie hat sich schnell an die Stadt gewöhnt und sich dem Leben dort angepasst. Ich hingegen sitze immer noch träge unter den Pflaumenbäumen in den Gärten der Provinz.

Am Haken an unserer Tür hängen immer unzählige Kleider übereinander. Im kleinen Einbauschrank stapeln sich die Klamotten der ganzen Familie (bis auf die meines Bruders). Da er nicht tief genug ist, müssen wir die Kleiderbügel schräg hineinzwängen. (Der Schrank im Zimmer meines Bruders ist so groß, dass die Bügel problemlos reinpassen.) Auf dem Boden liegt ein Teppich. Die Vorhangschiene klemmt, der Vorhang ist zu schmal. Wir machen unsere Hausaufgaben am Tisch mit den zwei Schubfächern, den mein Vater noch in der Provinz hat schreinern lassen. Die Höhe der Schreibtischlampe lässt sich verstellen. Süm hängt Vaters Ratschläge an die Wand über dem Schreibtisch:

An meine Kinder:

1. Das Licht muss von links kommen. 2. Das Buch muss 30 bis 45 cm von euren Augen entfernt liegen. 3. Sobald...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2025
Übersetzer Deniz Utlu
Sprache deutsch
Original-Titel Çocukluğun Soğuk Geceleri
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Anatolien • Annie Ernaux • Aufwachsen • Autofiktion • Begehren • Berlin • Bipolare Störung • Bücher Neuerscheinung • Çocukluğun Soğuk Geceleri deutsch • Deniz Utlu • Deutschland • Die Glasglocke • Emanzipation • Emine Sevgi Özdamar • Familie • Feminismus • Feministische Literatur • Frankreich • Geschenk Freundin • Île-de-France • Istanbul • Kindheit • Kindheitserinnerungen • Liebe • Mental Health • Militärputsch • Mitteleuropa • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Nordostdeutschland • Osteuropa • Paris (City) • Paris (Region) • Politische Repression • Psychiatrie • Psychiatrische Anstalt • Schule • Schweiz • Sylvia Plath • Tove Ditlevsen • Türkei • Westeuropa • Wiederentdeckung • Zürich
ISBN-13 9783518783399 / 9783518783399
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