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Protokoll eines Verschwindens (eBook)

Basierend auf einem wahren Kriminalfall | Debütroman | Autor ist Kriminalreporter der ZEIT und ZEIT Verbrechen | Für Fans von Ferdinand von Schirach und Heinz Strunk
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
288 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0834-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Protokoll eines Verschwindens - Alexander Rupflin
Systemvoraussetzungen
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Gabriel verlässt Rio, um zu seiner Schwester Isabella nach Deutschland zu ziehen. In Hamburg läuft für ihn zunächst alles nach Plan: Er findet Arbeit in einer IT-Firma und verliebt sich. Doch dann verschwindet er spurlos. Für Isabella beginnt eine verzweifelte Suche in einem Land, das ihr immer fremder wird.
Zur gleichen Zeit versucht der Pfleger Fabio, sein unauffälliges Leben weiterzuführen, bis er nicht mehr ignorieren kann, was in seinem Gästezimmer liegt: eine seit Monaten verwesende Leiche.
Den Fakten treu, gleichzeitig zutiefst menschlich, rekonstruiert Alexander Rupflin die erschütternden Details eines Verbrechens. Er gibt den Angehörigen eine Stimme und taucht in das Selbstbild eines Täters ein, der noch immer seine Unschuld beteuert.

»Protokoll eines Verschwindens« ist eine Geschichte vom Streben nach Glück, der Suche nach Wahrheit, dem Gefühl der Verlorenheit und den Abgründen unserer Triebe.



<p>Alexander Rupflin, geboren 1991, lebt in Hamburg. Als Kriminalreporter schreibt er für die ZEIT<i> </i>und das Magazin ZEIT Verbrechen. Er studierte Jura an der Universität Augsburg, verfasste und inszenierte zugleich teils prämierte Theaterstücke. Zudem ist er Mitgründer der Autorenagentur Hermes Baby, die sich der literarischen Reportage widmet.</p>

Lucas


Der graue Himmel hing so tief, als würde er auf die Erde gezogen. Lucas klebte der bittere Geschmack seiner Magensäure im Mund, der Gaumen hing leblos auf der Zunge, sodass er das Gefühl nicht loswurde, sich gleich wieder übergeben zu müssen.

Der kalte Wind vom Hafen durchwühlte sein langes blondes Haar, wehte es ihm ins Gesicht, kitzelte an der Nase. In der Hektik hatte er sein Haargummi in der Wohnung des kleinen Mannes vergessen. Er lief, lief, ohne zu wissen, wohin. Doch mit jedem Meter, den er zwischen sich und diese Wohnung brachte, schien er bloß den Erinnerungen an die vergangene Nacht wiederum näher zu kommen.

Erste verwackelte Bilder vor Augen: Schmale Lippen, umrahmt von einem akkurat getrimmten ergrauten Fünftagebart, schließen sich um seinen schlaffen Penis und saugen an ihm, wie ein Kalb an der Zitze seiner Mutter.

Und er selbst unfähig, sich zu rühren.

Warum hatte er sich nicht gewehrt?

Hatte er es zugelassen?

Hatte er es gewollt?!

Ein älteres Touristenpärchen, neonfarbene Rucksäcke umgeschnallt, kam Lucas entgegen. Die einzigen Menschen, die an jenem Sonntagmorgen durch St. Pauli spazierten, über Scherben der letzten Nacht, an Obdachlosen in Häusernischen vorbei, die unter Decken und Schlafsäcken ihren Rausch ausschliefen, bis der erste grölende Junggesellenabschied in Hawaiihemden an ihnen vorbeiziehen würde, auf dem Weg zum Hafen, wo Männer in Matrosenkostümen auf Booten zur Elbrundfahrt einluden, wo die ersten Buden gerade ihre Fritteusen anwarfen, um bis tief in die Nacht hinein einen Tiefkühlbackfisch nach dem anderen in Fett zu ertränken. Lucas überlegte kurz, ob er die beiden Touristen ansprechen und um Hilfe bitten sollte. Aber was sollte er sagen? Der Mann, dessen kakifarbenes Safarihemd am Bauch spannte, musterte Lucas abschätzig und amüsiert. Dann ging er an ihm vorbei.

Lucas musste einen desolaten Eindruck machen.

Er wankte über die daniederliegende Reeperbahn. Der Asphalt glänzte feucht. Geruch von Bierpisse und kühler Hafenluft umwehte ihn. War er nicht genau hier vor ein paar Stunden erst gewesen? Zusammen mit dem Italiener, der ihm an jedem der zahllosen Straßenläden einen »Mexikaner« ausgegeben, ihn genötigt hatte, diese scharfe Mischung aus Wodka, Tomatensaft, Tabasco und Pfeffer runterzukippen, die ihm jetzt übel aufstieß.

Noch ein Erinnerungsfetzen: eine junge Frau, nicht viel älter als er, Anfang zwanzig vielleicht, mit blond gelocktem Haar, einem Nasenpiercing und einem schmückenden Muttermal unterm Mundwinkel, das sich andere Frauen mit Kajal aufmalen würden. Sie steht ihm gegenüber in irgendeiner Bar. Es ist leer, es muss weit nach Mitternacht sein. Sie lächelt ihn an. Etwas Herausforderndes liegt in diesem Lächeln.

Keine Ahnung, wie er hierhergekommen ist.

Der kleine Mann sitzt in der Nähe, an einem Tisch, darauf mehrere Halbliter-Weinflaschen und Gläser. Auch er lächelt.

Lucas spricht mit der Frau auf Englisch, erzählt, dass er gerade aus Warschau gekommen sei, dass er dort lebe und studiere. »Yes, I’m from Poland, but born in Canada!« Dass er die ganze Strecke per Anhalter bis nach Hamburg gefahren sei, morgen wolle er weiter über Kopenhagen bis nach Göteborg. Dort treffe er seinen Vater, mit dem er ein Eishockeyspiel besuchen wolle. Lucas gibt sich Mühe, vor der Frau nicht so besoffen zu wirken, wie er sich fühlt. Sie fragt, ob ihm Hamburg gefalle, er nickt, obwohl er außer der Reeperbahn nichts gesehen hat. Sie sagt, sie sei »a real Hamburger Deern«, was, wie sie erklärt, bedeute, dass sie hier aufgewachsen sei und auf dem Kiez arbeite. Sie tauschen Facebook-Kontakte aus, wissend, dass sie einander niemals wiedersehen.

Auf einmal ist die Frau verschwunden. In seiner Erinnerung steht Lucas nun allein auf der Tanzfläche, halb wippend, halb wankend zur Musik, Takt und Halt verloren um sich selbst tanzend. Der kleine Mann sieht ihm noch immer lächelnd zu. Ein merkwürdiger Typ mit Glatze, Fünftagebart und einem irgendwie harten, ins Gesicht gemeißelten Lächeln, findet Lucas. Er kippt neben ihn und trinkt. Wein, Wodka, Bier, irgendwie alles durcheinander.

Er hatte den Mann erst an diesem Abend kennengelernt. Sie hatten sich über die Plattform couchsurfing.com verabredet, wo er sich auf einem einzigen unscharfen Handyfoto präsentiert hatte, mit roter Basecap und schwarzem Kapuzenpulli. In seinem Profil stand, er heiße Fabio, sei fünfundvierzig Jahre alt, von Beruf Krankenpfleger. Aufgewachsen in Turin. Sprachkenntnisse: Italienisch, Französisch, Englisch. Kaum hatte Lucas – es muss kurz vor zweiundzwanzig Uhr gewesen sein – die kleine Erdgeschosswohnung betreten, hatte Fabio ihm auch schon ein Weinglas in die Hand gedrückt. Kurz darauf fand er sich in einem recht karg eingerichteten Wohnzimmer wieder, auf einer schmalen Couch mit Holzarmlehnen. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, und jedes Mal, wenn Lucas einen Schluck getrunken hatte, schenkte Fabio ihm hastig nach. Irgendetwas stimmt mit dem Typen nicht, dachte Lucas, diese Vertraulichkeit ging zu schnell, war aufdringlich. Statt Widerwillen spürte er aber eine ihn selbst überraschende Neugier. Lass dich einfach drauf ein, sagte er sich, mal schauen, was passiert, vielleicht wird’s ja lustig.

Irgendwann schlug Fabio vor, dass sie noch gemeinsam ausgehen könnten. Lucas zögerte. Eigentlich war er nach der Anreise zu müde dafür. Doch schon ein paar Minuten später liefen sie über die Reeperbahn, und Fabio zeigte ihm, wo die Prostituierten sich anboten. Er erklärte, dass er deren Dienstleistungen nur wärmstens empfehlen könne, und lachte dabei zu laut.

Von den ganzen Mexikaner-Shots fühlte sich Lucas leicht und seltsam wirr, so wie er es noch nie gefühlt hatte, obwohl er eigentlich ziemlich vertraut war mit der Wirkung von Alkohol.

Und dann, wie durchtrennt, war ihm der Faden zwischen Bewusstsein und Gedächtnis gerissen; er wurde geschleudert durch bunte Lichter, warme Bässe und klebrige Körper jener Nacht. Erst in der letzten Bar bei der Frau mit dem Nasenpiercing und dem Muttermal war er sich der Welt wieder halbwegs bewusst geworden. Doch als die Frau verschwunden war, hatte ihm der kleine Mann schon wieder ein Glas in die Hand gedrückt, und Lucas hatte getrunken, so als wäre er am Verdursten – und das Bewusstsein ging ihm erneut verschütt.

Lucas hatte das Bedürfnis, die eigene Haut abzustreifen, die in Fetzen daliegenden Erinnerungen wie Schuppen zurückzulassen.

Die immer gleichen Fragen hämmerten in seinem Schädel:

Warum hatte er sich nicht gewehrt?

Hatte er es zugelassen?

Hatte er es gewollt?!

Er irrte durch die leblosen Straßen von St. Pauli.

Er hatte diese Reise durch Europa unternommen, um zu sich selbst zu finden, nicht, um sich auf so brutale Weise selbst abhandenzukommen. Vor ein paar Wochen hatte er mit seiner Freundin Schluss gemacht, obwohl er sie noch liebte. Sie war seine Jugendliebe, sie wurden ein Paar, da war er sechzehn und natürlich naiv genug, um zu glauben, es könne für immer halten. Vor ein paar Monaten hatte er dann herausgefunden, dass sie ihn betrogen hatte. Keine Ahnung, wie lange sie ihm in die Augen gesehen, ihn geküsst und ihm etwas vorgespielt hatte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, sich im freien Fall zu befinden. Seither betrank er sich, feierte, versuchte sich einzureden, er könne nachholen, was ihm diese Jugendliebe verwehrt hatte. Doch das alles hatte sich bald schal und wenig hilfreich angefühlt, und so war er auf die Idee gekommen, allein durch Europa zu trampen. Letztlich eine Flucht.

Mit zittrigen Händen nahm er sein Handy, wollte nachsehen, wie er zum Hauptbahnhof kam. Dann entschied er sich, über das Internet eine Mitfahrgelegenheit zu suchen, mit der er nach Kopenhagen und von dort aus nach Göteborg gelangen könnte. Er überlegte, ob er seinen Vater anrufen sollte. Aber was sollte er sagen? Dass er besoffen mit einem fremden Kerl rumgemacht hatte, der gut doppelt so alt war wie er?

Noch ein Bild von letzter Nacht: nackt im Bett, rechts neben ihm der kleine Mann, dessen Hand über Lucas’ nackten Arm streichelt, über die Brust, den Bauch. Fabio tastet sich vor, weiter, bis an sein Glied, umfasst es mit den Fingern, massiert die Hoden. Das Gefühl, im eigenen Körper eingeschlossen zu sein. Erstarrt. Nicht aus Angst, sondern aus dem tatsächlichen Empfinden heraus, jemand hätte ihm die Halswirbelsäule durchtrennt. Er spürt alles, das Kribbeln zwischen seinen Beinen, das ihn anwidert, nur ist er dabei wie gelähmt. Mit aller Willenskraft gelingt es ihm schließlich, Fabios Hand wegzuschieben. Er hört neben sich ein enttäuschtes Seufzen: »Come on!«

Wie ist er überhaupt aus der Bar zurück in die Wohnung gekommen?

Keine Ahnung.

Lucas will aus dem Bett des Italieners aufstehen, abhauen, sein Körper gehorcht nicht; eine ungemein schwere, geradezu krankhafte Müdigkeit hält ihn im Griff. Er fällt zurück in einen todähnlichen Schlaf. Als er abermals erwacht, fühlt er wieder die Hand zwischen seinen Beinen. Wieder stößt er sie weg.

Irgendwann der Moment, nur ein loser Bildfetzen, in dem sein Penis im Mund des kleinen Mannes verschwindet.

Dann wieder Finsternis, bis es draußen endlich hell wird.

Als Lucas endgültig zu sich kommt, liegt er auf der Seite, sieht auf eine weiße Wand mit Raufasertapete, zwei kleine schiefe Bilder, die fleischigen...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgründe • Brasilien • Bruder verschwunden • Der goldene Handschuh • Favelas • Gerichtsreporter • Hamburg • Justizthriller • Kiez • Kiminalreportage • Kriminalfall • Mord auf Ex • Mörder • Podcast • Prozess • Reeperbahn • Schuld • Serientäter • Sexualdelikte • St. Pauli • Straftat • Triebe • True Crime • Urteil • Verbrechen von neben an • Wahre Verbrechen • Wahrheit • Wegen Mordes verurteilt • Weird Crimes • ZEIT Verbrechen
ISBN-10 3-7499-0834-6 / 3749908346
ISBN-13 978-3-7499-0834-9 / 9783749908349
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