Jenseits der Wand (eBook)
226 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783769374315 (ISBN)
DAS GELBE FRAGMENT
Es ist Sonntagmittag an einem Sommertag. Ich bin etwa sieben Jahre alt und sitze am Ende des langen Flures unserer Altbauwohnung auf blauen Säcken, die mit Altkleidern gefüllt sind. Es ist noch niemand dazu gekommen, sie abzutransportieren. Unter mir ist es kalt, aber weich. Draußen im Innenhof spielen Kinder. Ihre entfernten Rufe dringen durch die gekippten Fenster unserer Wohnung zu mir hinauf. Es riecht nach Essen. Die Nachbarn bereiten einen Sonntagsbraten zu.
Das Sonnenlicht scheint durch ein Fenster und trifft auf die gegenüberliegende Wand. Das Muster der Tapete, bestehend aus kleinen Arabesken, wird getaucht in goldenes Licht. Es sind geschwungene Linien, sanft, die weich ineinander übergehen. Mit meinem Zeigefinger fahre ich entlang der Ornamente, langsam, wiederkehrend. Ich fühle die Struktur der Tapete, ich fühle meinen Finger, wie er sanfte Kreise zieht. Kleine Staubkörner wirbeln im Kegel des Lichts hin und her. Sanft puste ich in ihre Richtung und beobachte, wie sie noch mehr durcheinander geraten. Zwischendurch halte ich inne und betrachte das Sonnenlicht. Da ist die Stille, der Raum um mich herum, das Sonnenlicht und da bin ich. Meine Gedanken. Mein Alleine-Sein. Die äußere und die innere Welt. Mein tiefes Gefühl der Glückseligkeit.
* * *
Mein Vater war mit seiner Firma sehr erfolgreich und verdiente viel Geld, sodass meine Eltern mit meinem jüngeren Bruder und mir in ein großes Haus am Stadtrand umzogen. Meine älteren Geschwister blieben in der Stadt wohnen.
Die Gegend, in der wir wohnten, lag abseits des Ballungszentrums auf einem kleinen Hügel. Ich sah nie Menschen auf den Straßen, weil die Bewohner der Häuser mit ihren Autos in die großen Garagen fuhren, deren Tore sich anschließend automatisch schlossen. Wenn sie ihre Häuser verließen, fuhren sie mit den Autos wieder hinaus. Die Frauen, die in den Autos saßen, hatten meist eine Sonnenbrille auf, auch wenn es bewölkt war. Ich hätte sie nicht erkannt, wenn ich sie doch mal auf der Straße getroffen hätte.
Niemand ging durch eine Haustür, da es fußläufig nichts zu erledigen gab. Es gab keine Einkaufsläden, keine Arztpraxen, keine Post. Man wohnte dort, man wohnte luxuriös, man hatte sein eigenes kleines Reich, geschützt durch dicke Mauern.
Auch unser Haus hatte dicke Mauern. Wir hatten alles, was ein materieller Wohlstand zu bieten hat: teure Autos, einen riesigen Garten, einen Pool, das Haus war groß und komfortabel. Die Haushaltshilfe, die ihre Dienste schon viele Jahre in unserer Altbauwohnung angeboten hatte, blieb uns treu und fuhr fortan regelmäßig mit dem Bus zu uns.
Genauso, wie das Älterwerden ein Kontinuum ist, ein leiser und zunächst unsichtbarer Prozess, eines Tages als Geschehnis unversehens sichtbar an einer beliebigen Stelle des eigenen Körpers, legte sich der Wohlstand meiner Familie im Laufe der Jahre sanft wie ein süßer Zuckerguss über meine Wahrnehmung. Ich war umgeben von Insignien des Gelingens und der Beruhigung, die mir meine Sinne vernebelten. Ich bekam alles, was man mit Geld kaufen kann. Der Luxus war eine Selbstverständlichkeit für mich. Er war ein Vehikel des Schweigens. Die Sucht meiner Mutter verschwand unter dem Mantel des Wohlstands, sie lag dort still und unauffällig, sorgfältig abgeschirmt von der Außenwelt. Wo das Leben augenscheinlich gelingt, dort vermutet niemand einen Abgrund. Es war die Atmosphäre der vermeintlichen Zugehörigkeit, die eine Brutstätte war für die Lügen, die Abgrenzung, das Kaschieren der Scham. Das, was ich mir so sehr wünschte, was ich herbeisehnte, was ich gebraucht hätte wie die Luft zum Atmen, körperliche Zuwendung, eine Mutter, die mich mittags beim Nachhausekommen in den Arm nimmt, die sich bei mir erkundigt, welche Bücher wir im Deutschunterricht lesen und mit mir über die Inhalte diskutiert, die mir meine Tränen trocknet, der ich von meiner ersten Verliebtheit erzählen kann, die mich morgens mit einem Kuss auf die Stirn weckt und mir dabei sanft zuflüstert, all das hatte ich nicht. Stattdessen herrschte bei uns eine etablierte Gleichgültigkeit.
Wie soll ich beschreiben, was mich umgab? Wie soll ich Worte finden für das, was ich nicht hatte, wenn ich doch gar nicht weiß, wie es sich angefühlt hätte, wenn ich das Gegenteil erlebt hätte? Wie beschreibt man eine Negation?
Es war nicht so, dass wir nicht miteinander sprachen. Mittags beim Essen redeten wir über die aktuelle Politik, mein Vater erzählte von seinen geschäftlichen Dingen oder fragte meinen Bruder und mich, wie es in der Schule war. Einmal erzähle ich, was das Thema der letzten Englisch-Klausur war. Wir sollten eine Analyse des Gedichts Funeral blues vonWystan Hugh Auden1 verfassen.
»Wovon handelt das Gedicht?«, fragt mein Vater.
Er hatte nie eine Fremdsprache gelernt, außerdem interessierte ihn Lyrik nicht sonderlich. Dennoch erkundigte er sich, weil er wissen wollte, womit wir uns in der Schule beschäftigten.
»Es ist ein Gedicht über den Verlust, über die Trauer um einen Menschen«, antworte ich und zitiere die vierte Strophe, zunächst die englische Version, anschließend die deutsche Übersetzung2.
»The stars are not wanted now: put out every one; Pack up the moon and dismantle the sun, Pour away the ocean and sweep up the woods; For nothing now can ever come to any good.«
»Die Sterne sind jetzt unerwünscht,
löscht jeden aus davon
verhüllt auch den Mond und nieder reißt die Sonn’,
fegt die Wälder zusammen
und gießt aus den Ozean,
weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann.«
»Du meine Güte, Kind, das klingt düster. Ist es wirklich nötig, dass ihr in der Schule so etwas lest?«, fragt mein Vater, sichtbar irritiert.
Für mich klingen die Worte nicht düster. Sie berühren mich, sie beschreiben den Stillstand, das Ende der Zeiten.
»Mir gefällt das Gedicht, das Traurige, es klingt schön. Es lässt sich auch umfassender interpretieren, nicht nur hinsichtlich eines erlebten Trauerfalls«, entgegne ich.
Mein Vater sieht mich ratlos an. Mit dem Löffel legt er sich noch zwei Kartoffeln auf seinen Teller.
»Ein Mensch kann diese Trauer sein ganzes Leben lang empfinden, dann ist er depressiv. Und dann gibt es noch die Prophezeiung bezüglich unserer Zukunft. Die Sonne, sie wird verglühen, eines Tages«, füge ich hinzu.
Meine Mutter, die wie immer schweigend am Tisch sitzt, steht nun auf.
»Lass das nicht so nah an dich heran, sonst verbitterst du«, höre ich sie sagen, während sie in die Küche geht.
Ich verstehe sie nicht. Was soll ich tun, damit mich die Sprache nicht derart berührt? Und warum würde ich verbittern, wo doch das, was ich empfinde, worüber ich nachdenke, ohnehin da ist, existent, ein Teil von mir? Viel lieber würde ich mit ihr über das, was ich empfinde, sprechen. Doch sie kommt zurück aus der Küche, nimmt die leeren Teller und trägt sie fort.
Das, was ich nicht aussprechen kann, fühlt sich an wie eine Wand, eine gläserne Wand in meinem Inneren. Sie fühlt sich schwer an, sie übt Druck aus, dem ich standhalte. Das Druckgefühl ist immer da. Die Worte, die ich spreche, sie können diese Wand passieren, mühelos. Doch es gibt andere Worte, Gedanken, Bilder, die vor dieser Wand Halt machen. Ich trage sie immer mit mir herum.
Im Roman Die Wand von Marlen Haushofer3 steht die Protagonistin eines Tages vor einer durchsichtigen Wand, die mitten in der Landschaft steht. Hinter der Wand ist alles erstarrt – die Menschen, die Tiere, sie stehen dort, als seien sie eingefroren.
Die Wand in mir ist für mich unsichtbar. Sie ist da, ich spüre sie, aber sie zeigt sich nicht. Die Zeit außerhalb meines Körpers schreitet voran, täglich. In mir, hinter der Wand, ist die Zeit einst zum Stillstand gekommen, ich kann den Augenblick nicht benennen. Eine Totenstarre, mitten im Leben. Für das Momenthafte habe ich kein Gespür, weil die Zeit verdeckt ist, eingenommen von der Angst. So zieht sie an mir vorbei, verschluckt die Erlebnisse, die ich nicht habe, nimmt keine Rücksicht darauf, dass ich in der Zukunft bedauern werde, nicht intensiv gelebt zu haben.
Die Wand, sie verbirgt meine Angst. Die Angst vor den verschwommenen Augen meiner Mutter, wenn ich nach Hause komme. Hinter der Wand sehe ich die Bilder meiner nächtlichen Albträume, brennende Häuser, Menschen, die schreiend in den Flammen stehen. Ich spüre die Scham. Die Scham über meine Mutter, die mich nach Alkohol riechend zum Busbahnhof bringt, an dem meine Freundinnen auf mich warten. Und ich verspüre mein schlechtes Gewissen, dass ich diese Scham empfinde.
Ich frage mich, warum wir ihn leben, diesen Wahnsinn, warum sie trinkt und nicht aufhört, warum wir das aushalten, obwohl es nicht auszuhalten ist, warum mein Vater das alles nicht einfach beendet.
Ich frage mich, warum wir lügen, jeden Tag, warum wir lächeln, obwohl wir innerlich zu zerbrechen drohen.
Ich frage mich, warum wir...
| Erscheint lt. Verlag | 31.1.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| ISBN-13 | 9783769374315 / 9783769374315 |
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