Der Anschlag (eBook)
224 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-3679-5 (ISBN)
Roland Schreyer, 1943, aufgewachsen in Süddeutschland, Studium in Berlin und Hannover, lebt in Barsinghausen und schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke. Veröffentlichungen Dazwischen Unruhe (1980) Einbruch (1987) Ohne Nachricht aus Amsterdam (1987) Flug (1990) Verwerfungen oder Nun lache wieder, Sophie! (1992) Harry Voss. Minutiöse Romane (1998) Im Windflug Worte (1998) Das Ich im freien Fall (2008)
DIE SCHAMANIN
Harry Voss war im Ungewissen. Einschneidende Veränderungen drohten. Und er hatte Kopfschmerzen.
In dieser Situation versprach Wassima Bekirowa, die Schamanin, Erleichterung. Woche für Woche stärkte sie ihm den Rücken. Er vertraute sich ihren Händen an, sie hellte seine Stimmung auf.
Das Fenster zur Kollwitzstraße war weit geöffnet. Die Straßenbauarbeiter hatten ihr Tagewerk beendet. Leichter Wind blähte die hellen Vorhänge. Der Geruch der mächtigen Kiefer im Vorgarten erinnerte ihn an die Berge, an den Duft der niedrigen Latschenkiefern in den Alpen, an blauen Himmel über den schroffen Höhen des Wettersteingebirges. Ein Grünfink ließ sich mit kunstvollem Trillern vernehmen.
Sie hatte ihm eine blassrosa Rose mitgebracht. »Wegen der Abstimmung übermorgen«, hatte sie gesagt, »sie wird dir beistehen, in dir zu ruhen. Sie passt zu dir.«
Über der Fülle der hauchdünnen Kelchblätter, rosigen, ungeküssten, schimmernden Lippen, lag ein weicher Glanz.
Harry müsste sich im siebten Himmel fühlen, dachte er, nicht nur wegen der fast spitzwegigen und jetzt beblümten Heimeligkeit seiner Wohnung, sondern auch weil er auf der gepolsterten Massagebank lag, die Esther mal beschafft hatte, und Wassimas Hände spürte und auf ihr leises Atmen und Murmeln und Summen hörte. Doch da war diese Ungewissheit. Er hatte die Augen geschlossen. Die vielfältigen Laute der Schamanin zu hören war jedes Mal, als umschließe sie ihn mit unzähligen Armen.
Wassimas Vater war Sowjet-Major, zu DDR-Zeiten stationiert in Greifswald, ein Krimtatar in Breschnews Diensten. Sie war hier geboren. Bevor die Lehrerin Wassima Bekirowa, so hieß sie eigentlich, endgültig die Gefährtin des Malers Luvegk, der sie aus unerfindlichen Gründen Barbara nannte, geworden war, hatte sie über ein Jahrzehnt im Land der Zitronenblüte gelebt. Sprach Wassima – was sich zu Recht als die Anmutige übersetzen lässt –, hörte man die italienische Sprachmelodie. Strich sie ihre hellbraunen Haare mit undeutbarem Giacondalächeln aus der Stirn, zog das heitere Flair des Mezzogiorno herauf.
Ihr halbes Leben hindurch hatte sie sich Heil-Wissen angeeignet. Auch bei Indianern, Tibetanern und sibirischen Tataren. In ihrem Greifswalder Freundes- und Patientenkreis vermochten ihr keine Leiden standzuhalten. Sie war unersetzlich. Einer hatte Wassima mal respektvoll Schamanin genannt. Das blieb.
»Vergiss die Außenwelt!«, hatte sie ihn eingangs ermahnt und hatte, über ihn gebeugt, unverzüglich und fingerfertig ein flüchtiges Netz von Berührungspunkten über seine Haut gespannt. Fingerspitzen furchten Gewebe, verlagerten Körperpartien um ein Weniges und kreisten oberflächlich und zupften und schlingerten wellenartig mal kräftig, mal sanft und lösten gefesselte Stränge.
Sie drehte seine Glieder in den Gelenken, drehte sie bis zum Anschlag und zerrte Muskeln.
»Es schmerzt, ich weiß. Und jetzt drück dein Knie gegen den Widerstand!«
Es strengte sie an, hörte er.
»Bleib so! – Ja – Und jetzt: Lass wieder nach!«
Der Widerstand war ihr Bauch, waren ihre mal weichen, mal angespannten Oberschenkel. Sie presste ihn an sich. Es war, als rängen sie. Dachte sie, er spüre nicht, wogegen er gedrückt wurde? Er sah, zum Greifen nah, ihre biegsame Kehrseite. Er schloss die Augen.
Die Schamanin war vorhin eingetroffen wie eine überraschende Windböe. In einem luftig anliegenden Seidenkleid, blau wie Himmel und Meer. Beunruhigend natürlich, beruhigend schön. Und umgeben von einem rätselhaften Duft, den die Rose verstärkte. Sie war von einem Zauber umgeben. Doch war die Schamanin unantastbar. Lebte sie nicht in einer anderen Wirklichkeit? Ihm und allen anderen hatte Hegels Das Geistige allein ist das Wirkliche als Maxime zu gelten.
Aber wer war schon Hegelianer! Ihm fiel diese Maxime nicht leicht, waren ihre Hände doch überall, vervielfachten sich und fügten sich in den Rhythmus seines Atmens, umrundeten Gelenke und Knochen, formten Organe nach, folgten Muskelverläufen, tasteten am Rippengewölbe entlang, lockerten das Zwerchfell und verschoben sogar, mit flacher Hand, die Kniescheibe, was für sie, wie sie bekannte, ein sehr intimer Zugriff sei, weil sie spüre, wie die Patella schwimme und tanze auf dem Gewebe. Überaus sacht müsse sie vorgehen.
Ihm, der von intimem Zugriff hörte, fielen Bilder ein, zur Unzeit, sehr zur Unzeit, wie der Maler und Fotograf Luvegk sie, seine verführerische Gefährtin abgelichtet und im Kulturzentrum ausgestellt hatte. Er erinnerte sich gut an ihre Gestalt zwischen Schatten und Licht, mal stolze Zenobia aus Palmyra, mal lockende Galatea aus Zypern, mal unbegreifliches Nebelwesen. Jetzt vor allem an eine Aufnahme ihres gebeugten Nackens und Kopfes und das eigenwillig sich kräuselnde Nackenhaar. Und an verborgeneren Wildwuchs. Hatte doch Luvegk seine aphroditisch-nackte Wassima in unvergesslichen Posen preisgegeben.
Sie unterbrach ihr Schweigen, die Hand federleicht noch immer auf der Kniescheibe, man müsse sich Zeit nehmen, sagte sie, dann spüre man das lebendige Zittern des Urgefüges, der Urquelle, des Immateriellen. Alles fließe. Dahinströmend verbänden sich Geist und Leben. Erde und Kosmos, Mensch und Tier seien verbunden. Daraus wachse das Unfasslichste, werde die Liebe der Urquell des Kosmos. Der Mensch erlange sie, wenn er sich selbst beherrsche – und liebe. Das lehre Lao Tse.
Wie enthusiastisch sie bei diesen Worten geworden war! Sogleich schämte er sich seiner erotischen Erinnerungen. Wassima Bekirowa ist eine Entrückte, mahnte er sich, eine Unberührbare. Oder – begehrte nicht zum ersten Mal etwas Zügelloses in ihm auf – oder war doch alles anders, lustvoll-sündhaft anders, und sie spürte und genoss verstohlen jede Wirkung ihrer sinnlichen Ausstrahlung und ihres Tuns?
Von Anfang an war ihm ihre Berührung besonnene Fürsorge, eine nie zuvor so empfangene. Wohl unterstellte er immer noch, sie sehe in ihm vor allem ein schadhaftes Corpus, einen diagnostizierten Haltungsdefekt, der der Korrektur bedurfte.
Nachdenklich aber zögerte er: Wie stimmte das überein mit all dem, was sie über Liebe sagte? Ihr Einsatz war für sie offenbar verankert in etwas Universalem, das ihm völlig verschlossen war. Dabei zog sie ihn auch ins Vertrauen, umgab ihn wie die Schlangengöttin Nagi, die Leben schützende und glücklich machende. Von der hatte sie erzählt. Sorglich umschlungen und in Sicherheit fühlte er sich bei ihr.
Draußen durchbrachen, weithin schallend, herrische Rufe einer Elster das eintönige Tröten der Tauben.
Der medizinische Anlass ihres Kommens wurde oft bedeutungslos, so sehr empfand er ihr magisches Tun als beglückend. Auch weil sie immer neue Streifzüge aufnahm. Millionen tastsensibler Sinnesreize erregend. Ungeahnte Zentren hob sie hervor, als ihre Finger seine Außenseiten hinabwanderten. Die langsame Prozession machte kehrt, zog zum Nacken und streifte, Harry geriet immer mehr in Trance, über schmerzleitende Nervenstränge.
Er atmete tief ein und aus. Seine Unrast verflog, sein Pulsschlag begann sich zu verlangsamen. Nur noch die Schamanin zählte. Sie sollte ihn ganz bei der Sache erleben. Doch genau da hatte ihn der Alltag wieder. Es brach aus ihm heraus:
»Ich muss an übermorgen denken. Wir sollten auch das Schlimmste mit einkalkulieren.«
Ihre Hand legte sich auf seinen Mund. Eine erstaunliche Geste.
»Indianer sagen, wirklich weise bist du, wenn du mehr Träume in deiner Seele hast, als die Wirklichkeit zerstören kann«, sagte sie. »Du weißt doch längst, Harry, wofür es sich zu leben lohnt. Hast dein Ikigai gefunden, das dich täglich aufstehen lässt: Unser aller Glück ist zu deinem Lebenssinn geworden. Deshalb sind wir, unser inneres Lächeln bei dir.«
Eine Plattitüde, oder meinte sie das ernst?
»Schopenhauer hielt das fidele Getue für ruchlos«, brachte er nach einer Weile vor.
»Komm, Harry«, blockte die Sensible weiteres Gedankenunheil ab, »überlass dich dem Gleichgewicht der Kräfte.«
»Es ist nur –«
»– wegen Esther? Ist es das?«, fiel sie ihm ins Wort. »Euer Liebes-Aus ist doch Schnee von gestern!« Ihre Hände verzogen sich nach oben. »Genug getrauert, Harry! Du wirst gebraucht, das weißt du! In deiner Beständigkeit liegt das Geheimnis unseres Erfolgs.«
Viel zu schnell, er hatte die Zeit vergessen, unerwartet wie immer, war Schluss.
»Ich höre jetzt auf«, sagte sie. Sie wischte sich über die Stirn, als sei ein beunruhigender Gedanke aus dem Kopf zu verscheuchen. Dann strich sie die Haare beiseite. Er vermisste sie bereits.
Sie griff nach dem Anhänger, den sie um den Hals trug. Das gläserne Medaillon, das, wie jeder wusste, ihre väterliche Heimat, die Halbinsel Krim formte. Gefüllt war es mit lila Lavendelblüten, deren Duft auf der Krim wohl überall in der Luft lag.
Sie umarmte ihn...
| Erscheint lt. Verlag | 28.1.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| ISBN-10 | 3-7693-3679-8 / 3769336798 |
| ISBN-13 | 978-3-7693-3679-5 / 9783769336795 |
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