Augenblicke des Bösen (eBook)
604 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-9408-5 (ISBN)
Nach Schule und Ausbildung lange in der Medienbranche tätig. Erste literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien ab den 1980er Jahren. Einige Jahre in einem Kurzgeschichtenforum aktiv. Eine inspirierende Zeit, um sich in verschiedenen Genres auszuprobieren. 2016 das Romandebüt und zugleich der Start der Eric-Teubner-Reihe mit dem Krimi BLUE NOTE GIRL. Seitdem Verfasser von Krimis, Thrillern und Unterhaltungsliteratur. Lebt heute glücklich verheiratet in seiner Geburtsstadt Hamburg.
Kapitel 1: Trauer
Nach dem tödlichen Unfall ihres Mannes hatte sie so perfekt funktioniert, wie alle es von ihr gewohnt waren. Kathrin Claussen, eine starke und gefasste Witwe. Die Frau, die sich mit siebenundvierzig Jahren eine unverändert aparte Ausstrahlung bewahrt hatte, da sah man ihr weder die zwei halbwegs erwachsenen Kinder an, noch eine über zwanzigjährige Ehe. Zwei Jahrzehnte Glück! Stetig bergauf. So hätte es weitergehen können … müssen! Ihr ganzes Denken und Handeln war darauf ausgerichtet gewesen. Gerade jetzt, da die Kinder flügge zu werden begannen, hätten sie ihrer Ehe eine neue Richtung geben können. Mehr reisen, mehr genießen, mehr erleben. Aber dann war Marc Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, auf der A7, im letzten Wagen am Ende eines Staus hinter einem Wohnmobil. Ein LKW war ungebremst in seinen Audi gekracht, aus Gründen, die von der Polizei noch untersucht wurden. Der Fahrer war vermutlich abgelenkt gewesen, oder kurzzeitig eingenickt, hatte vielleicht von seiner Familie geträumt, hinter dem Steuer nicht mehr ausreichend konzentriert – was auch immer dazu geführt haben mochte, einen lebenslustigen Mann in eine Leiche zu verwandeln, die nicht mal mehr in einem Stück aus dem Autowrack geborgen werden konnte.
Nach dem Verlust eines Menschen durchleben Hinterbliebene in der Regel verschiedene Phasen der Trauer. Anfangs der Schock. Oft Lähmung, stundenlanges Weinen. Später folgen Anfälle von Zorn. Wut über die Ungerechtigkeit. Hadern mit Gott. Unverständnis für jene, denen es besser geht, die vorbeikommen, um Trost zu spenden, oft ohne den Hauch einer Ahnung von dem Schmerz zu haben, der in den Trauernden wütet. Dann wieder Resignation. Selbstaufgabe. Totaler Stillstand. Das stupide Starren in eine Leere, die andere Menschen nicht kennen, eine Leere, die durch die offenen Augen von draußen in den Kopf fließt.
Aber Kathrin klammerte sich an das, was sie von den Eltern vor allem anderen gelernt hatte: Haltung und Disziplin. Sie ließ sich nicht gehen, stand weiterhin jeden Tag früh auf, duschte, machte sich sorgsam zurecht, kleidete sich passend und stellte sich ihrem veränderten Dasein als unbeugsame Witwe. Sie kümmerte sich um alles, was nach Marcs Tod anfiel. Tröstete die Eltern, die Schwiegereltern, die Kinder Yvonne und Jaschar und gönnte sich nachts höchstens ein paar unterdrückte Verzweiflungsschreie in das Kissen. Marc hatte ihr eine finanziell abgesicherte Existenz hinterlassen. Ein abbezahltes Haus mit Grundstück im Hamburger Stadtteil Flottbek, klug angelegte Vermögenswerte und eine kleine, gesunde Castingagentur.
„Mach dir keine Sorgen“, pflegten Verwandte und Freunde nach seinem Tod gern zu sagen. Aber das war nicht der Punkt. Sie wollte einfach Zeit zum Trauern finden. Genau daran mangelte es, weil ständig jemand um sie herum war. Der Chef des Bestattungsunternehmens sprach mit ihr in mehreren Terminen alles durch, was die Beerdigung betraf. Der Pastor kam vorbei, um sie zu trösten und seine Rede für Marcs Beerdigung abzustimmen. Die Kinder, die trotz Volljährigkeit immer noch viel Unterstützung brauchten, forderten sie jetzt verstärkt. Tochter Yvonne steckte gerade in der Ausbildung und war noch nicht stabil genug, mit dem Tod des Vaters allein fertig zu werden. Letztes Jahr achtzehn geworden war sie trotzdem weit entfernt von echter Volljährigkeit. Sohn Jaschar hatte mit dreiundzwanzig Jahren zwar schon vor einiger Zeit eine eigene Firma gegründet, der Tod des Vaters aber hatte ihn und seine Schwester wieder in hilflose Kinder verwandelt, denen Kathrin Stärke vorleben musste. Auch die Polizei tauchte mehrmals auf. Nebenbei hatte sich Kathrin um die Zukunft von Marcs Agentur zu kümmern, um ihren Halbtagsjob in einer Galerie. Und pausenlos kamen Verwandte oder Freunde vorbei. Angeblich, um Trost zu spenden. Meist aber lief es dann genau umgekehrt. Kathrin fand keine Zeit für Tränen und kümmerte sich stattdessen um jene, die zum Trösten gekommen waren, und das mit ungebrochener Kraft. Sie wurde zum Felsen in der Brandung – eine von Trauer umflutete versteinerte Seele.
Auf der Beerdigung behielt sie die eisern beherrschte Miene vom Anfang bis zum Ende der Zeremonie bei, als wäre ihr Gesicht aus demselben Material wie der schlichte und stilvolle Stein, der in Kürze auf Marcs Grab platziert werden würde – auch darum hatte sie sich allein gekümmert.
Nach der Beerdigung ertrug sie die Trauerfeier bei Kaffee und Kuchen, von ihr im eigenen Haus organisiert. Ein Cateringservice leistete tadellose Arbeit. Während an manchen Tischen schon wieder verhalten gelacht wurde und aus einigen Gesprächen die Betroffenheit über den tragischen Anlass zu weichen begann, der sie hier und heute zusammengeführt hatte, trat Kathrin Claussen in die Mitte des Raumes. Dann tat sie das, was sie schon längst hatte tun wollen:
Sie schrie! Schrie sich die Seele – nein, eher die totale Verzweiflung aus dem Leib.
Ein Schrei, der nicht menschlich klang. Ein Schrei, der aus dem Zentrum ihrer Qual kam, aus einer Tiefe, die niemand der hier Anwesenden von ihr kannte. Auch nicht die Eltern oder die Kinder. Nicht einmal sie selbst. Weil sie bisher immer nur damit beschäftigt gewesen war, eine perfekte Ehefrau zu sein, die perfekte Mutter oder Tochter, verlässliche Freundin und engagiertes Mitglied der Gemeinschaft. Lächelnd. Geduldig. Zuversichtlich. Um Harmonie und Ausgleich bemüht. Ihre volle Aufmerksamkeit mehr auf andere gerichtet. Angepasst und flexibel. Zwischen allen Egos um sich herum hatte sie immer nur beflissen Türen geöffnet und Brücken gebaut.
Damit war ab heute Schluss. Kathrin schrie so lange, bis alle Gespräche verstummt waren. Bis Freunde, Bekannte und weniger Bekannte nach und nach betroffen das Haus verließen. Danach drängte sie auch ihre Eltern und Schwiegereltern zum Aufbruch. Zuletzt die Kinder. Tochter Yvonne, Sohn Jaschar und dessen Verlobte Iris, die immer mit dabei war, ohne besonders aufzufallen. Anfangs sperrten sich Sohn und Tochter, die eigene Traurigkeit als Sorge um die Mutter getarnt. Ob sie denn glaube, es täte ihr gut, gerade jetzt ganz allein zu bleiben. An diesem Tag! Sie bräuchte doch Trost, Unterstützung. Dein Schrei, Mama ...!
Jaschar wollte sie umarmen, aber sie lehnte jede Berührung ab, mit zur Abwehr erhobenen Händen, während sie immer wieder den Kopf schüttelte. Jetzt nicht!
Kathrin entdeckte in den geröteten Augen der drei jungen Menschen nichts, was ihr helfen konnte. Diese Kinder wollten nur nehmen, nichts geben. Sie schickte sie weg. Sollten sie in Jaschars und Iris‘ neuem Haus oder bei irgendwelchen Freunden trauern, bei denen sie sich eh schon ihr halbes Leben herumtrieben. Kathrin wollte diese eine besondere Nacht mit sich und ihrem Kummer allein sein. Ungestört! Ohne das Gefühl, auf jemand anderen Rücksicht nehmen zu müssen.
Sobald die ersehnte Ruhe eingekehrt war, hätte sie beinahe vor Freude gejubelt. Endlich allein in ihrem Haus. Jetzt konnte sie hemmungslos weinen. Erwartungsvoll setzte sie sich auf einen der vielen Stühle, die ohne jede Ordnung herumstanden, und sah sich um. Parallel zum überstürzten Aufbruch der Gäste hatte es der Cateringservice fertiggebracht, fast alle Spuren der Trauerfeier dezent zu beseitigen. Das meiste war verschwunden. Die Räume erinnerten wieder an den ursprünglichen Zustand. Kathrin konnte ihr Zuhause erkennen, und das steckte voller Erinnerungen an Marc und die glückliche Zeit mit ihm.
Sie war mehr als bereit, hier und jetzt sofort mit der persönlichen Trauer zu beginnen. Wartete. Gab sich Mühe. Richtete den Blick nach innen, um der ersten Schmerzwelle sofort nachzugeben. Aber wo immer sich Kummer und Tränen auch verkrochen hatten, sie regten sich nicht. Der Urschrei vorhin hatte ihre gesamte Gefühlswelt lahmgelegt. Der Nachhall war immer noch in ihr gefangen. Kathrin fühlte sich in ihren Grundmauern erschüttert, wie ein verlassenes Gebäude.
Unten im Gäste-WC betrachtete sie sich im Spiegel. Braune Augen, die größer wirkten, weil das Gesicht schmaler geworden war, eingefallen und blass, mit markanten Wangenknochen und spitzem Kinn. Das dunkelblonde Haar in einen strengen Knoten gezwängt, sie hatte es immer gern so getragen, auch während der guten Zeiten.
Marc hatte oft von ihrer klassischen Schönheit geschwärmt, schon damals, als sie ihn an der Uni entschieden auf Distanz gehalten hatte, weil er ihr zu oberflächlich vorgekommen war; dazu noch begehrt von viel zu vielen anderen Kommilitoninnen. Ein sportlicher Draufgänger mit Charme und Witz. Er hatte zu sehr ihrem Ideal entsprochen, um sich einfach so auf ihn einzulassen. Für solche Entscheidungen war sie prinzipiell zu vorsichtig gewesen. Aber Marc hatte nicht lockergelassen, hatte die richtigen Worte zur richtigen Zeit gefunden. Selbst, als Kathrin sein Lob ihrer klassischen Schönheit anzweifelte.
Er hatte von ihren hohen Wangenknochen geschwärmt, den ebenmäßigen Zügen, dem feinen Mund, auf dem ein Lächeln nie bedeutungslos wirkte, den aufmerksamen Augen – etwas zu dunkel, um sie durchschauen zu können – und dem makellosen Hals, geschaffen für wunderbaren Halsschmuck, mit dem er sie besonders...
| Erscheint lt. Verlag | 8.1.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Eric Teubner |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Ermittlungen • Filmschocker • Obsessionen • Regisseur • Verlust |
| ISBN-10 | 3-7693-9408-9 / 3769394089 |
| ISBN-13 | 978-3-7693-9408-5 / 9783769394085 |
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