Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt null Prozent (eBook)
246 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-32635-7 (ISBN)
Dr. Hannes Hennes, leicht unterforderter Mathelehrer, glücklicher Ehemann und Vater, könnte ein zufriedener Mensch sein. Doch seit dieser demütigenden Sache bei der Nobelpreisverleihung in Stockholm und dem peinlichen Auftritt bei Günther Jauch läuft in seinem Leben alles schief. Natürlich hätte er auch niemals mit dem Jagdgewehr seines besten Freundes schießen dürfen.
Als Hannes erfährt, dass das Gehirn seines Idols, des berühmten Mathematikers Carl Friedrich Gauß, gestohlen wurde, macht er sich auf zu einem Abenteuer, das ihn in ein Luxushotel, in die Katakomben der Charité und in ein gnadenloses Männerseminar führt. Seine Pechsträhne scheint zu enden, als ihm ein geheimnisvoller Wissenschaftler ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet. Aber das Schicksal hat noch viel mit ihm vor.
In seinem zweiten Roman erzählt Michael Ebert die atemberaubende Tragikomödie eines ganz normalen Mannes – in seiner ihm eigenen funkelnden Sprache, voller Geist, Witz und Empathie.
»›Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt null Prozent‹« erzählt von Liebe und Familie, von Schuld und Scham - und davon, was Zufälle im Leben eines Menschen anrichten können.“ Christine Westermann, WDR2 Lesen
»Ein mitreißendes Buch! Michael Ebert erzählt mit großer erzählerischer Kraft, der man sich gern überlässt.« Juli Zeh
Michael Ebert, 1974 in Freiburg geboren, ist Chefredakteur des Süddeutsche Zeitung Magazin und wurde für seine journalistische Arbeit bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. In seinem Debütroman »Nicht von dieser Welt« führt er uns an den verwunschenen Ort, an dem er selbst aufgewachsen ist: ein Krankenhaus in einer süddeutschen Kleinstadt.
1
Dass Hannes noch immer am Leben war, ganz anders als geplant, und nun mit einer blonden Perücke auf dem Kopf, in einem schwarzen Plastik-Minirock und einer viel zu engen weißen Bluse, darunter einem Büstenhalter, der zwei Grapefruits hielt, in hochhackigen Damenschuhen Größe 44 und mit einer blutigen Suppenkelle in der Hand vor einer johlenden Männertruppe stand, kreidete er sich selbst an.
Vielleicht war es wirklich so, wie Marlene ihm noch hinterhergerufen hatte, als er mit leichtem Gepäck, also eigentlich ohne Gepäck, drei Tage zuvor das Haus verlassen hatte: »Manche schauen auf das Leben und sehen das Glas halb voll. Andere sehen das Glas halb leer. Für mich war es immer ganz voll – aber neuerdings kann ich mir sicher sein, dass du es gleich vom Tisch stoßen wirst.«
Vielleicht hatte er wirklich keine Begabung für das Glück.
Natürlich lag es auch am Wetter, dass er noch nicht gestorben war. Es hatte einfach nicht mehr geregnet. Und Regen war eine Voraussetzung für einen Tod, wie er ihn sich zurechtgedacht hatte.
Der Mann, den Hannes eben mit einer Suppenkelle niedergeschlagen hatte, lag bewusstlos vor ihm am Boden. Seine Arme hatten sich zu einer eigenartigen Geste unter dem Körper verdreht, er sah aus wie ein Page, der einem Hotelgast mit beiden Händen den Weg weist. Blut tropfte aus seiner Nase und seinem Ohr.
Hannes blickte fassungslos von dem Mann zu der Suppenkelle in seiner Hand.
Seine Kopfhaut juckte mörderisch unter der Perücke.
Dann sah er zu den anderen Männern im Saal.
Da stand Gerd, der so aussah, als würde er immer lächeln, wie ein Delfin, und den deshalb alle »Flipper« riefen, der aber durchs Leben ging, als würden Gewichte an ihm hängen. Der Anästhesist Mühlenkamp, der sich wie ein Schwächling vorkam. Wolfman, der am ganzen Körper behaart war. Yavuz, der sich Pentagramme in die Haut ritzte und hoffte, dass ihn dadurch der Teufel verschonen würde. Jakob, der immer der Beste sein musste, in allem – und der an der Unmöglichkeit seines Anspruchs an sich selbst verzweifelte. Marty, der ein Zahlenschloss für Hunde erfunden hatte, das niemand kaufen wollte. Siegfried, dessen Frau vor drei Monaten gestorben war und der sich seit ihrem Tod von Butterbroten ernährte, weil er nie gelernt hatte, den Herd oder die Spülmaschine zu bedienen. Männer, die sich in ihrem Leben vorkamen wie ausgemusterte VHS-Videorekorder, die mit einem »Zu verschenken«-Schild vor einer Haustür abgestellt worden waren: eigentlich noch funktionsfähig, aber von der Welt nicht mehr benötigt.
Männer, die etwas zu beweisen haben, sind besonders unberechenbar.
Nach einem Augenblick schreckstarrer, absurder Stille im Saal schrie jemand:
»Packt ihn!«
Es brach Tumult aus. Eine Horde brüllender Männer kam auf Hannes zugerannt, viele mit nacktem Oberkörper, schwitzend, besinnungslos in Rage. Hände grapschten nach ihm. Hannes hielt sich die Angreifer mit der Suppenkelle vom Leib, kickte die hochhackigen Schuhe von seinen Füßen, drehte sich um und rannte barfuß Richtung Ausgang. Er war nicht schnell, nie schnell gewesen – aber schnell genug. Er sprintete durch den Saal, nahm die erste Tür, knallte sie hinter sich zu, hastete durch eine Umkleide in einen schmalen Gang mit Holzfurnier an beiden Seiten und stand plötzlich im verglasten Eingangsbereich des Seminargebäudes, einer alten Mehrzweckhalle am Geierswalder See.
Dort wippte einer der Kraftkrieger mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl und hörte Musik über kabellose Kopfhörer. Von der Aufregung im Saal hatte er noch nichts mitbekommen. An einer Holztafel neben dem Kraftkrieger sah Hannes die Autoschlüssel hängen, die allen Seminarteilnehmern bei ihrer Ankunft abgenommen worden waren, geordnet nach Zimmernummern. Daneben Stoffsäckchen, in denen ihre Handys aufbewahrt wurden, die sie ebenfalls abgegeben hatten. Gewaltige Plakate, auch als Sichtschutz gegen neugierige Blicke von außen an den Glasscheiben festgeklebt, verkündeten das Seminarziel: »Mann sein & Krieger werden!« Im Vorbeirennen griff Hannes mit der linken Hand die Autoschlüssel und das Stoffsäckchen vom Nagel »Zimmer 8« – seine Schlüssel, sein Handy. Erst jetzt öffnete der Kraftkrieger auf dem Stuhl seine Augen, bemerkte Hannes und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren.
»Was … hey!«
Hannes, gekleidet im Serviererinnen-Kostüm, der Strafuniform des Seminars, mit zwei Grapefruits vor der Brust, die ihm bei jedem Schritt gegen das Kinn knallten, hielt seine Autoschlüssel wie einen Pokal vor sich in der einen Hand, in der anderen trug er noch immer die Suppenkelle. Er stieß die Glastür mit der Schulter auf und flüchtete aus dem Gebäude. Hinter ihm waren Schreie und Getrampel zu hören, jemand rief nach einem Notarzt.
Der Weg vor dem Gebäude war mit Kieselsteinen aufgeschüttet, die sich bei jedem Schritt schmerzhaft in seine Fußsohlen bohrten. Die Luft in seinen Lungen brannte. Er drückte schon auf dem kurzen Weg Richtung Parkplatz die Fernbedienung seines dunkelblauen VW Touran, riss die Autotür auf und ließ sich in den Fahrersitz fallen. Die Suppenkelle warf er neben sich auf den Beifahrersitz.
Eins null sechs sechs eins eins acht sechs
Unglaublicherweise gelang es ihm trotz seiner zitternden Hand schon beim ersten Versuch, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Er startete den Motor und raste über einen sorgsam angelegten Grünstreifen davon. Dabei riss er sich die Perücke vom Kopf und zerrte so lange an dem BH unter der weißen Bluse, bis wenigstens eine der beiden Grapefruits unter dem Stoff hindurch zu Boden fiel.
Endlich konnte er wieder atmen.
In seinem vierten Jahr am Gymnasium hatte er im Unterricht bei der schrecklichen 8c entdeckt, dass er sich an einen magischen, absolut friedlichen Ort in seinem Innersten zurückziehen konnte. Während sich der eine Teil von ihm im Klassenzimmer weiter bemühte, den Schülerinnen und Schülern den Unterrichtsstoff beizubringen, und sich dabei vorkam wie ein Paketbote, der keines seiner Pakete zustellen konnte, kletterte der andere Teil in die Krone eines gewaltigen Birnbaums. So hoch hinauf, dass er die Wirklichkeit noch beobachten und nötigenfalls auf sie reagieren konnte, er zugleich aber so entrückt vom Treiben im Klassenzimmer war, dass ihn der Lärm dort kaum mehr erreichte.
Dort oben hörte er das affektierte Gekreische der übertrieben geschminkten Samersberger aus Reihe drei nur noch wie durch Pluderwolken. Statt des Grunzens des verschlagenen Bühler, der immer am Fenster saß und verlässlich an der zweiten binomischen Formel scheiterte, vernahm er das Flüstern der Birnbaumblätter im Wind. Wie durch das Fernglas eines weit entfernten Bergwanderers beobachtete er, dass sich der dünne Martens und der dicke Martens, die nur zufällig die gleichen Nachnamen trugen, kichernd gegenseitig Kaugummi vor die Nasenlöcher klebten und versuchten, so viel Luft durch ihre Nasen zu pressen, dass ihre Kaugummis Blasen warfen.
Oben auf seinem Birnbaum erreichte ihn all das kaum. Hier fühlte er das milde, gleichmäßig schwebende Glück eines Unbeteiligten. Hier gab es keine Klassenbucheinträge und vergessenen Hausaufgaben, keine dreisten Teenager-Lügen, kein hilfloses Gestammel bei banalen Aufgaben zu gebrochen-rationalen Zahlen, keine ahnungslosen Blicke auf seine Fragen zu Laplace-Experimenten.
»Bühler, bitte: Ich mach’s dir leicht. Acht rote Kugeln in einer Vase, vier weiße. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du bei einem Griff in die Vase eine rote Kugel erwischst? Wie rechnest du?«
»Ich rechne … mit gar nichts. Dann werde ich nicht enttäuscht.«
Gelächter. Klar.
»Bühler! Acht rote, vier weiße.«
»Ich … ich … die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine rote Kugel erwische, ist … relativ wahrscheinlich?«
»Herrgott, Bühler.«
»Ich kann eine rote erwischen. Oder eine weiße.«
»Richtig! Aber du hast doppelt so viele rote!«
»Aber ich kann doch trotzdem eine weiße ziehen!«
»Natürlich! Aber du berechnest nicht den Zufall, Bühler. Du berechnest eine Wahrscheinlichkeit!«
Hannes rieb seinen Zeigefinger an seinem Daumen, eine Angewohnheit aus der Zeit, in der er noch mit Kreide an die Tafel geschrieben hatte.
Noch mal, sanfter: »Bühler, wie wahrscheinlich ist es, dass du eine rote Kugel erwischst, wenn du doppelt so viele rote wie weiße Kugeln in der Vase hast?«
Bühler schaute ihn noch immer mit leerem Blick an und wählte den letztmöglichen Ausweg aller Ahnungslosen.
»Mal ehrlich: Wozu brauch ich das im Leben?«
Unterdrücktes Kichern im Klassenzimmer. Nur Langendorf hatte schon wieder die Hand oben, natürlich.
Ja. Wozu?
Und ich, Bühler? Wozu brauche ich das im Leben?
»Bühler, schon Sokrates hat gesagt, dass es nur ein einziges Gut für den Menschen gibt: das Wissen. Und nur ein Übel: die Unwissenheit.«
»Aber ist das nicht der, der auch gesagt hat: ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹? So wie diesem Sokrates geht’s mir auch.«
Gelächter. Kurz aufblitzende Unsicherheit bei Hannes: War er diesem Bühler eventuell doch nicht gewachsen?
Dann plötzliche Aufregung. Ein paar der Schülerinnen und Schüler hoben ihre Handys hoch, obwohl die im Unterricht natürlich verboten waren.
Dem dicken Martens hing tatsächlich eine riesige Kaugummiblase an seiner Nase. Er jubelte: »Nur durchs Nasenloch!«
Hier oben, im Birnbaum, gab es nur den...
| Erscheint lt. Verlag | 19.3.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Abenteuer • Alena Schröder • Antiheld • christoph kramer buch • Doris Knecht • eBooks • elena fischer • Entfremdung • Familienroman • Humor • Lebenskrise • lustig • lustige • Männerdrama • Männerroman • Männerseminar • Mariana Leky • Mathematik • Midlife Crisis • Neid • Nele Pollatschek • Physik • Reise zu sich selbst • Roadmovie • Roman • Romane • Schuld und Scham • Selbstwert • Tragikomödie • vater-tochter-roman • Wissenschaft • Wolf Haas • Zufall |
| ISBN-10 | 3-641-32635-4 / 3641326354 |
| ISBN-13 | 978-3-641-32635-7 / 9783641326357 |
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