Irland, Cape Clear Island, 1868: Die 16-jährige Nancy, die als Einzige in ihrer Familie die Große Hungersnot überlebt hat, steigt in ein Fischerboot und kehrt ihrer Heimat für immer den Rücken. Sie findet Anstellung als Dienstmädchen am Rande von Cork und beginnt eine Beziehung zu dem verheirateten Gärtner Michael Egan. Als sie schwanger wird, verlässt er sie jedoch und Nancy muss sich mit ihren Kindern alleine durchschlagen. Im Jahr 1920 ist Nancys Sohn Jer gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und versucht, neuen Halt im Leben zu finden. Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie ereilt haben, zieht Jers Tochter Nellie im Jahr 1982 eine hoffnungsvolle Bilanz ihres Lebens. Ein berührender Generationenroman mit außergewöhnlichen Frauenfiguren, die allen Widrigkeiten zum Trotz für sich und ihre Familie kämpfen, geschrieben von 'einem der großartigsten irischen Schriftsteller' (John Banville).
Billy O'Callaghan wurde 1974 in Cork, Irland, geboren und lebt heute in Douglas, dem Dorf, in dem der Großteil von Was das Leben uns gibt spielt. Er hat vier Kurzgeschichtenbände und vier Romane veröffentlicht. Die titelgebende Kurzgeschichte seines neusten Erzählbandes The Boatman stand auf der Shortlist des Costa Short Story Award und wurde u.a. mit dem Bord Gáis Energy Irish Book Award ausgezeichnet. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bei btb erschien zuletzt der Roman Die Liebenden von Coney Island, der für den Encore Award der Royal Society of Literature nominiert war.
JER
(1920)
Ich war seit sechs Uhr in Barrett’s Pub und habe schnell und viel getrunken. Die wenigen anderen Männer an der Bar hatten genug mitgekriegt, um mir aus dem Weg zu gehen. Obwohl ich direkt von den Feldern, auf denen ich seit dem Morgengrauen Gras für die Silage gemäht hatte, hier gelandet und bereits nach dem zweiten Pint pleite war, stand stets ein volles Glas vor mir, das ich stets hinunterkippte. Nach den paar Stunden wartete ich noch auf die Wirkung, und so lag es schließlich an der Erschöpfung und vielleicht auch an dem Bedürfnis, allein zu sein, dass ich meinen Platz am Tresen aufgab und auf die Bank im Dunkeln am Ende der Lounge umzog, mit einem Tisch für mein Glas und einer Wand im Rücken zum Anlehnen.
Die Polizisten waren gegen neun da. Auf der Suche nach mir.
Ich versuchte, ihnen klarzumachen, dass alles, was ich zuvor an der Bar gesagt hatte, leeres Geschwätz war, und dass einfach nur das Porter aus mir gesprochen hatte, doch Tom Canniffe war mit mir bei den Munster Fusiliers gewesen, und die beiden anderen waren alte RGA-Männer, Kanoniere, und sie wussten Bescheid. Sie kannten mich, aber sie kannten auch sich selbst, wussten, wozu sie fähig waren und was sie getan hätten, wären sie an meiner Stelle gewesen, und es war Tom, der Beste von ihnen und der am wenigsten Aufgeblasene, wenn auch nur ein winziges bisschen weniger, der sich mir gegenübersetzte, die Handschellen auf den Tisch legte und mit leiser Stimme fragte, ob so etwas nötig sei, oder ob ich mich anständig benehmen und ohne jedes Aufheben mitkommen würde. Und inmitten dieses Raunens, das so klang, als wäre er irgendwo weit weg, sah er mich an, jedoch ohne meinen Blick zu erwidern. Stattdessen fixierte er eine Stelle neben meinem Herzen, während die beiden anderen, Larry Regan und Pat Hegarty, ein paar Schritte hinter und links und rechts von ihm standen, entspannt, aber bereit. Beides große, kräftige Männer, meine Statur oder fast, zum Teufel noch mal, Regan mit Schultern so breit wie ein Bulle, Hegarty nicht ganz so ausladend, aber mit Knochen wie aus Eisen. Es war immer angenehm gewesen, in ihrer Gesellschaft ein Pint zu schlürfen oder eine Runde Karten oder Billard in der Hall zu spielen. Aber Tom und ich hatten bei den Munster Fusiliers gemeinsam in den Schützengräben gelegen und nebeneinander in Flandern oder vor Loos gezittert und geblutet, und weil sie ähnliche Verbindungen zu anderen Männern hatten, verstanden sie, dass es zwischen uns beiden zwangsläufig anders war.
»Ist nur der Fusel, ich sag’s euch, Jungs. Das hier ist doch gar nicht nötig.«
»Na klar, was sollst du auch sonst sagen«, seufzte Tom und schüttelte den Kopf. »Biergelaber ist meistens nur die Kehrseite von Dünnpfiff. Aber hin und wieder kommt dabei etwas heraus, auf das man besser hört. Das Problem ist, woher sollen wir wissen, was was ist?«
»Du kannst mich nicht vom Begräbnis meiner eigenen Schwester fernhalten, Tom«, sagte ich. »Das ist nicht richtig. Dieses Recht hat niemand.«
»Sergeant.«
»Was?«
»Ab jetzt Sergeant. Du darfst mich nicht Tom nennen. Nicht, wenn ich im Dienst bin. Die Uniform. Du weißt, wie es ablaufen muss.«
Ich musterte ihn und die anderen. So groß und freundlich diese drei auch waren, noch vor fünf Jahren hätte ich versucht, mir meinen Weg aus dem Pub freizuprügeln, und sie hätten mich schon in Stücke schlagen müssen, um mich davon abzuhalten. Aber nach dem Krieg war ich dicker und langsamer geworden, und wie ich so an diesem hinteren Tisch in der Lounge vom Barrett’s saß, ausgerechnet an diesem Abend, fühlte ich mich, als wäre ich von einer Granate umgenietet worden. Schätze, es gibt Zeiten, da einem Mann die Kraft zum Kämpfen fehlt.
»Ist nur zu deinem Besten«, fuhr er fort, noch immer ohne meinen Blick zu erwidern, ohne die Stimme zu erheben. »Wir reißen uns da nicht drum. So was darfst du nicht über uns denken, Jer. Allmächtiger, Mann. Ich an deiner Stelle würd’s genauso machen. Aber wenn wir dich laufen lassen, was dann? Du gehst nach Hause und schnappst dir ein Messer oder eine Axt.«
Ich hätte fast gelächelt, obwohl mir wahrlich nichts Fröhliches auf der Zunge lag.
»Eine Klinge hätte ich gar nicht nötig«, sagte ich. Meine Hände, die zu beiden Seiten meines fast leeren Glases flach auf dem Tisch lagen, ballten sich zu Fäusten. »Nicht für einen Kerl wie Ned Spillane. Stell uns beide auf eine stille Straße, und ich schlag ihn in Grund und Boden. Schmier die Pflastersteine mit ihm.«
»Ja«, sagte Tom. »Genau das meine ich. Das ist’s, worüber ich hier rede.«
Plötzlich wich die Luft aus meinem Körper, und ich spürte, wie meine Schultern nach unten sackten. »Nur, dass ich es nicht tun würde«, sagte ich ihnen. »Auch wenn er jedes Wort verdient hat und er es eines Tages höchstwahrscheinlich auch bekommt. Von jemand anderem, wenn nicht von mir. Aber der morgige Tag ist für andere Dinge da. An dem Tag geht’s nicht um ihn. Mamie muss anständig begraben werden.«
»Mach es nicht schlimmer, als es sein muss«, sagte einer der Männer hinter Tom. Ich schaute von einem zum anderen, konnte mich aber aus irgendeinem Grund nicht entscheiden, welcher der beiden gesprochen hatte, bis Regan sich räusperte und in anderem Timbre ergänzte: »Der Sergeant hat recht, Jer. Deine Worte haben bei uns Gewicht. Das weißt du. Und wir akzeptieren, dass du meinst, was du sagst. Aber dieser Kerl muss nur was Falsches sagen oder am Grab flennen oder Mitleid heischen, und dir platzt der Kragen. Keiner würde es dir verdenken, wenn es so wäre, aber wenn du ihn dir vorknöpfst, kommst du in den Knast, so ist es eben. Vielleicht fünf Jahre, vielleicht länger, je nachdem, wie weit du gehst oder ob du dich wieder einkriegst, wenn du erst mal angefangen hast. Und das will keiner, wir nicht, du nicht und deine Frau und deine Kinder erst recht nicht. Die Zelle ist nur für eine Nacht, und natürlich bleiben wir da und quatschen mit dir, wenn du das willst, und wir füllen dich mit Tee ab, bis du das Zeug nicht mehr sehen kannst. Es ist am besten so.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Tom beugte sich vor, und jetzt traf sein Blick den meinen. Einen Augenblick lang waren wir wieder im Krieg versunken, wir kauerten beide im Schutt eines zerstörten Viehstalls, und alles schmeckte und roch nach Frankreich. Unter dem Krachen erinnerten Geschützfeuers erkannten wir noch einmal die Wahrheit im anderen, und wir klammerten uns von beiden Seiten daran wie an eine Rettungsleine.
»Sei vernünftig, Jer«, sagte er. »Du warst nie der Mann, der Streit anfängt, wenn es sich vermeiden lässt. Und dumm warst du auch nie.«
»Du weißt nicht, was du mir antust, Tom. Was du mir nimmst. Für lange Zeit gab es nur Mamie und mich. Ich kann dir gar nicht sagen, was wir alles durchgemacht haben. Und wenn sie morgen beerdigt wird, dann legen sie auch einen Teil von mir in dieses Grab. Den besten Teil. Mein Gott, die Kriege, die ich gekämpft habe, hätten für sie sein sollen. Ich hätte Spillane ausnehmen sollen wie eine Forelle, als er das erste Mal in ihre Richtung geglotzt hat. Stattdessen habe ich es so weit kommen lassen.«
»Immer mit der Ruhe, Jer. Er hat sie nicht umgebracht. Rippenfellentzündung, heißt es. Daran sind schon viele gestorben.«
»Er hat sie umgebracht. Er hat ihr vielleicht nicht den Stuhl weggetreten, aber mit seiner Sauferei hat er ihr die Schlinge um den Hals gelegt. Er hat sie jahrelang getötet. Und jetzt ist sie nicht mehr da.«
Über den Tisch hinweg betrachtete mich Tom noch immer. Dann wirkte er plötzlich viel lockerer. Er griff nach den Handschellen und gab sie Regan. »Ist ja noch früh«, sagte er, ohne den Kopf zu drehen. »Zeit genug für ein Pint, würde ich sagen, bevor wir zurückgehen. Hol doch mal ’ne Runde, Larry.«
*
Manchmal, wenn ich allein bin oder ein bisschen Zeit zum Sinnieren habe, denke ich darüber nach, wer ich eigentlich bin. Nicht, wer ich sein sollte oder zu sein versuche oder vorgebe, sondern über mein wahres Ich. Meistens sperre ich mich gegen diese Sachen oder halte sie tief vergraben, weil das kein sehr gesunder Gedankengang ist, aber ab und zu, wenn ich in nachdenklicher Stimmung bin, öffne ich mich ihm.
Vielleicht schlendere ich über die Felder oben auf der Spitze von Hilltown an einem dieser langsam anbrechenden, bleichen Frühlingsmorgen, lausche dem Wind in den Hainbuchen und schaue Snowy, meinem Terrierwelpen, zu, der kopfüber in den Stechginster stürzt, zu knurrender Jagd verleitet von einem vorbeihoppelnden Hasen oder Karnickel, um dann Minuten später wimmernd wiederaufzutauchen, an tausend Stellen aufgeritzt von den grünen Klauen des Strauchs. Oder ich liege im Bett mit meiner Frau Mary im Tiefschlaf neben mir und den leise atmenden Kindern, ausgestreckt auf Strohsäcken, in ihrem Teil des Zimmers, und dann spüre ich die Nacht vom Kopf bis zu den Füßen wie einen Sargdeckel über mir, und ich atme so langsam, wie ich nur kann, und dieser Atem schmeckt in Mund und Kehle immer nach Staub, Stahl und verbrannten Bäumen und darunter nach verfaultem Fleisch und ganz unten nach Schreien. Es ist 1920, fast vier Jahre nach der Somme, aber die Aromen dieser Schlacht haben mich noch nicht verlassen.
Tage, die voller Arbeit sind, begrenzen die Zeit zum Nachdenken, deshalb passiert es nur oben auf diesen hohen Hilltown-Feldern, oder wenn ich wach liege unter der ganzen Leere der Nacht, dass meine Gedanken Auslauf bekommen. Es hat etwas mit den sanften Wogen des Landes zu tun und mit dem Strömen des...
| Erscheint lt. Verlag | 16.4.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Klaus Berr |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Life Sentences |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Berührend • Bestseller • btb SELECTION • Cork • eBooks • Emotional • Erster Weltkrieg • Familiengeschichte • Familienroman • Familiensaga • Generationenroman • Geschichte • Irland • Roman • Romane • Schicksal |
| ISBN-10 | 3-641-28137-7 / 3641281377 |
| ISBN-13 | 978-3-641-28137-3 / 9783641281373 |
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