Was ich von ihr weiß (eBook)
454 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-31936-6 (ISBN)
»Über manches, was uns fehlt, kommen wir nie hinweg.« Im großen Spiel des Schicksals hat Mimo – Michelangelo Vitaliani - die falschen Karten gezogen. In Armut geboren, wird er als kleiner Junge zu seinem Onkel nach Italien gegeben, um das Handwerk eines Bildhauers zu erlernen. Dort, in dem kleinen ligurischen Dorf Pietra d’Alba, begegnet er Viola, Tochter aus gutem Hause und jüngstes Kind der Orsinis, einer angesehenen Adelsfamilie. Viola scheint vom Glück begünstigt zu sein, doch sie ist eine junge Frau, die nicht in die Zeit passt. Sie will »fliegen« - auf eigenen Beinen stehen, aus dem engen gesellschaftlichen Korsett ausbrechen, das für eine Frau ihres Standes nur die Ehe vorsieht. Von ihrer ersten Begegnung an durchleben Viola und Mimo Seite an Seite die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Aufstieg des Faschismus und die Unruhen der Weltkriege. Er, der ungewöhnlich kleine Bildhauer, wird ein von der Elite gefeierter Künstler; sie versucht unermüdlich, ihre Träume als emanzipierte Frau zu verfolgen. Beide werden sich immer wieder verlieren und finden, als Verbündete oder Gegner, ohne ihre Freundschaft jemals aufzugeben. Aber was nützt Mimo aller Ruhm, wenn er Viola am Ende doch ziehen lassen muss?
Jean-Baptiste Andrea, 1971 in Cannes geboren, ist Romanautor und Filmemacher. Er wurde für »Was ich von ihr weiß« mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet und gilt »in Frankreich als einer der vielversprechendsten Autoren seiner Generation« (DER SPIEGEL). Jean-Baptiste Andrea studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Paris. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt in Cannes.
Mein Heimatland lernte ich im Oktober 1916 kennen, in Begleitung eines Säufers und eines Schmetterlings. Der Säufer hatte meinen Vater gekannt und war dank des Zustands seiner Leber der Einberufung entgangen, doch so wie die Dinge sich entwickelten, stand zu vermuten, dass seine Zirrhose ihn nicht länger würde schützen können. Kinder, Alte, Lahme wurden eingezogen. In den Zeitungen hieß es, wir würden das Spiel gewinnen, die Boches wären bald Geschichte. In unserer Gemeinde hatte man im Jahr zuvor die Nachricht, dass Italien sich den Alliierten angeschlossen hatte, wie eine Siegesverheißung aufgenommen. Doch all jene, die von der Front zurückkehrten, sangen ein anderes Lied, sofern sie noch Lust hatten zu singen. Der ingegnere Carmone, der wie die anderen Makkaronis in Aigues-Mortes Salz geerntet und dann in Savoyen einen Lebensmittelladen aufgemacht hatte, wo er seinen Weinvorrat zum großen Teil selbst konsumierte, hatte also beschlossen, zurückzukehren. Wenn schon sterben, dann lieber in der Heimat, die Lippen rot vom Montepulciano, so ließ sich die Angst vertreiben.
Seine Heimat waren die Abruzzen. Er war sehr nett und auch bereit, mich auf dem Weg bei Zio Alberto abzusetzen. Er tat es, weil er ein wenig Mitleid mit mir hatte, aber auch, denke ich, wegen der Augen meiner Mutter. Die Augen von Müttern haben es oft in sich, aber bei meiner war die Iris von einem sonderbaren Blau, fast violett. Mehr als eine Schlägerei hatten sie ausgelöst, bis mein Vater Ordnung in die Sache brachte. Ein Steinmetz hat gefährliche Hände, dem würde ich gewiss nicht widersprechen. Die Konkurrenten hatten es bald aufgegeben.
Am Bahnhof von La Praz vergoss meine Mutter dicke violette Tränen. Mein Onkel Alberto, Steinbildhauer auch er, würde sich meiner annehmen. Sie versprach, bald nachzukommen, sobald sie die Werkstatt verkauft und etwas Geld verdient hätte. Eine Sache von Wochen, höchstens ein paar Monaten – sie brauchte zwanzig Jahre. Der Zug schnaufte, stieß einen schwarzen Qualm aus, den ich noch heute auf der Zunge schmecke, und nahm den beschwipsten Ingegnere und ihren einzigen Sohn mit.
Was immer die Leute sagen, mit zwölf Jahren hält die Traurigkeit nicht lange an. Ich wusste nicht, wohin der Zug mit uns schwankte, sehr wohl aber, dass ich noch nie Eisenbahn gefahren war – oder ich erinnerte mich nicht. Die Aufregung kippte bald ins Unwohlsein. Alles ging viel zu schnell. Kaum hatte ich etwas in den Blick genommen, eine Tanne, ein Haus, war es schon wieder weg. Eine Landschaft ist nicht dazu da, sich zu bewegen. Ich fühlte mich elend und wollte mich dem Ingegnere anvertrauen, aber der schlief und schnarchte mit offenem Mund.
Zum Glück hatte ich den Schmetterling. Er kam in Modane hereingeflogen und setzte sich an die Fensterscheibe zwischen mir und den vorbeiziehenden Bergen. Nach einem kurzen Kampf gegen das Glas gab er auf und rührte sich nicht länger. Ein schöner Schmetterling war das nicht, nicht diese bunte und goldene Pracht, die ich später, im Frühling, sehen würde. Nur ein nichtssagender Schmetterling, grau, ein wenig bläulich, wenn man die Augen fest zusammenkniff, ein vom Tag benommener Falter. Für einen Moment dachte ich daran, ihn zu quälen, so wie alle Jungs in meinem Alter, aber dann merkte ich, dass meine Übelkeit verging, wenn ich ihn fest ansah, er war der einzige Ruhepol in einer Welt im Aufruhr. Stundenlang blieb der Schmetterling dort sitzen, gesandt von einer befreundeten Macht, um mich zu beruhigen, und so bekam ich vielleicht zum ersten Mal eine Ahnung davon, dass nichts wirklich ist, was es zu sein scheint, dass ein Schmetterling nicht nur ein Schmetterling ist, sondern eine Geschichte, etwas gewaltig Großes auf allerkleinstem Raum, was die erste Atombombe ein paar Jahrzehnte später bestätigen sollte und was ich, vielleicht mehr noch, hinterlasse, wenn ich im Unterbau der schönsten Abtei des Landes sterbe.
Als der Ingegnere Carmone aufwachte, schilderte er mir sein Projekt, denn ein solches hatte er. Er war Kommunist. Du weißt, was das ist? In unserer Gemeinde in Frankreich hatte ich das Schimpfwort etliche Male gehört, die Leute fragten sich ständig, ob dieser oder jener einer war. Ich antwortete: »Pfff, klar, das ist ein Mann, der Männer und Frauen liebt.«
Der Ingegnere lachte. Ja, in gewisser Weise sei ein Kommunist ein Mann, der Männer und Frauen liebe. »Eine falsche Art, die Menschen zu lieben, gibt es auch gar nicht, das verstehst du doch, oder?« Ich hatte ihn noch nie so ernst gesehen.
Die Familie Carmone besaß ein Grundstück in L’Aquila, einer Provinz, der die Geografie ein zweifaches Unrecht angetan hatte. Zum einen war es die einzige Provinz in den Abruzzen ohne Zugang zum Meer. Zum anderen wurde sie in regelmäßigen Abständen von Erdbeben heimgesucht, genau wie das Ligurien meiner Vorfahren, mit dem Unterschied, dass Ligurien, dieses Luder, sich am Meer aalte.
Das Grundstück bot einen hübschen Blick auf den Lago di Scanno. Der Ingegnere beabsichtigte, dort auf einem riesigen Kugellager einen Turm zu errichten, wo er die Proletarier aus der Gegend unterzubringen gedachte, das alles zu einem moderaten Mietpreis, von dem er angemessen würde leben können – zumal er als guter Kommunist die oberste Etage für sich reservierte. Dank zweier Pferdegespanne, die alle zwölf Stunden wechselten, würde sich das Gebäude im Laufe des Tages um die eigene Achse drehen. So kämen ausnahmslos alle Bewohner, ohne Profiteure oder Ausgebeutete, einmal am Tag in den Genuss eines Seeblicks. Vielleicht würde die Elektrizität eines Tages die Pferde ersetzen, auch wenn Carmone zugab, dass sie wohl nie bis dorthin käme. Aber er träume gern.
Die Kugeln hätten darüber hinaus den Vorteil, die Konstruktion bei einem Erdbeben vom Boden abzukoppeln. Bei einem Beben der Stärke 12 auf der Skala von Mercalli – aus dem Mund des Ingegnere hörte ich zum ersten Mal den Namen – habe sein Haus im Vergleich zu einem normalen Gebäude eine um dreißig Prozent höhere Chance standzuhalten. Dreißig Prozent klinge vielleicht nach nicht viel, aber mit Stärke 12 sei nicht zu spaßen, erklärte er und verdrehte die Augen, das sei gewaltig.
Dann döste ich vor mich hin, die Augen fest auf meinen Schmetterling gerichtet, während wir nach Italien hineinfuhren und der Ingegnere mir mit innigen Worten von Zerstörung erzählte.
Gleich bei der ersten Begegnung fielen Italien und ich uns wie alte Freunde in die Arme. Ich hatte es so eilig, in Turin aus dem Zug zu kommen, dass ich auf dem Trittbrett stolperte und mit ausgestreckten Armen auf dem Bahnsteig landete. Ich blieb einen Moment liegen, dachte nicht einmal daran zu weinen, selig wie ein Priester bei der Weihe. Italien roch nach Flintenstein. Italien roch nach Krieg.
Der Ingegnere beschloss, eine Droschke zu nehmen. Es war teurer, als zu Fuß zu gehen, aber meine Mutter hatte ihm in einem Umschlag Geld zugesteckt, und so wie der Wein zum Trinken da sei, machte er klar, müsse auch das Geld ausgegeben werden, also, wenn du nichts dagegen hast, kaufen wir uns vor der Weiterfahrt ein Viertelchen Roten vom Po.
Ich hatte nichts dagegen, und ich staunte nicht schlecht über das Gewimmel ringsum: Soldaten auf Urlaub, Soldaten im Aufbruch, Träger, Lokführer und Scharen von zwielichtigen Gestalten, deren Funktion oder Ansinnen dem Jungen, der ich war, rätselhaft erschienen. Zwielichtige Gestalten hatte ich in meinem Leben noch keine gesehen, und ich hatte das Gefühl, dass sie meine eindringlichen Blicke mit Wohlwollen erwiderten, wie um zu sagen, du bist einer von uns. Vielleicht starrten sie auch nur auf die blaue Beule, die auf meiner Stirn wuchs. Ich ging durch einen Wald von Beinen, glückselig, überwältigt von all den Gerüchen: Teeröl und Leder, Pulver und Metall, ein Geschmack von Dämmerlicht und Schlachtfeld. Und dann die Geräusche, der Lärm einer Schmiede. Es knirschte, quietschte, krachte, eine von Analphabeten gespielte konkrete Musik weit abseits der Säle, in denen blasierte Honoratioren sich einmal drängen sollten, um so zu tun, als würden sie die Klänge schätzen.
Ohne dass ich es wusste, war ich im schönsten Futurismus gelandet. Die Welt war nichts als Geschwindigkeit, mit der Schritte, Züge, Kugeln dahinschossen, Schicksale umschlugen oder Bündnisse wechselten. Nur schienen all diese Menschen, all diese Massen es nicht wahrhaben zu wollen. Mit Hurra stürzten sie zu den Waggons, den Schützengräben, einem Horizont aus Stacheldraht, und doch war da etwas, zwischen zwei Bewegungen, zwei Schwüngen, das schrie, ich will noch ein bisschen leben.
Als ich später Karriere zu machen begann, zeigte mir ein Sammler stolz seine jüngste Erwerbung, das futuristische Gemälde Die Revolte von Luigi Russolo. Das war in Rom, um das Jahr 1930, glaube ich. Der Mann hielt sich für einen Kenner mit einer Leidenschaft für abstrakte Kunst. Ein Narr war er. Wer an diesem Tag nicht am Bahnhof Porta Nuova gewesen ist, wird das Werk nicht verstehen. Wird nicht verstehen, dass nichts Abstraktes daran ist. Es ist ein gegenständliches Bild. Russolo hat gemalt, was uns ins Gesicht explodiert ist.
Natürlich würde kein Zwölfjähriger es so formulieren. In dem Moment schaute ich mich lediglich um, mit weit aufgerissenen Augen, während der Ingegnere in einer Kaschemme am Ende des Bahnsteigs seinen Durst löschte. Aber all das habe ich gesehen. Ein Zeichen, wenn es denn noch eines bedurfte, dass ich nicht so war wie die anderen.
Als wir den Bahnhof verließen, schneite es leicht. Wir waren kaum draußen, da trat...
| Erscheint lt. Verlag | 1.4.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Thomas Brovot |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | VEILLER SUR ELLE |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Benedict Wells • Benjamin Myers • Bildhauer • eBooks • Emanzipation • Frankreich • Freundschaft • Italien • Liebe • Liebe über Standesgrenzen • Michael Ondaatje • Nr. 1 Bestseller Frankreich • Pascal Mercier • Prix Goncourt • Roman • Romane |
| ISBN-10 | 3-641-31936-6 / 3641319366 |
| ISBN-13 | 978-3-641-31936-6 / 9783641319366 |
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