Gut, dass du nicht mehr da bist (eBook)
Seit sich Fränzi erinnern kann, verbringt ihre Mutter die meiste Zeit weinend im Bett. Was sie als kleines Mädchen nicht weiß: Ihre Mama ist schwer depressiv. Zeitlebens nimmt die Krankheit mehr Raum ein als Fränzis Sorgen oder Wünsche – schon als Kindergartenkind kocht Fränzi für ihre Mutter und tröstet sie. Sie will ein vorbildliches Kind sein, eines, das keine Probleme macht.
Franziska Hohmann erzählt schonungslos und zugleich liebevoll, wie sie ihr Leben lang versucht, ihrer kranken Mutter eine Stütze zu sein, wie sie dabei selbst gnadenlos untergeht und alkoholkrank wird – und warum sie ihre Mutter trotz allem liebt. Kraftvoll und Mut machend berichtet sie auch von der erwachsenen Fränzi, einer Frau, die Schritt für Schritt lernt, in Liebe loszulassen.
»Ich bin mit einer schwer psychisch kranken Mutter aufgewachsen und selbst fast in den Abgrund gestürzt. Nun teile ich meine Geschichte, um Menschen zu erreichen, die Ähnliches erlebt haben oder gerade erleben. Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, nicht aufzugeben.«
- Was passiert, wenn sich die von Natur aus sicherste Bindung der Welt unsicher anfühlt?
- Kraftvoll, Mut machend und trotz allem unterhaltsam: wie man sich von einer vergifteten Vergangenheit befreien kann
- Raus aus der Tabuzone: Franziska Hohmann ist eine Identifikationsfigur für die vielen erwachsenen Kinder aus toxischen Eltern-Kind-Bindungen
Franziska Hohmann ist in der internationalen Musik- und Medienbranche zu Hause. Als PR-Managerin platziert sie seit über zwei Jahrzehnten Stars wie Sarah Connor, Alphaville, Adel Tawil oder Lenny Kravitz im deutschen Fernsehen. Die gebürtige Hessin lebt in Berlin und auf Mallorca. Seit 2022 baut sie sich als Systemischer Coach für Veränderungsmanagement und Resilienztrainerin ein zweites Standbein auf.
1
Eine Trauerhalle in der Nähe von Frankfurt am Morgen des 6. Januars 2022
Ich stehe mit dem Rücken zur Tür. Hinter mir der Eingang der Trauerhalle, vor mir Stuhlreihe um Stuhlreihe. Heute sieht der Raum ganz anders aus als noch vor zwei Wochen bei der Besichtigung. Besichtigung – das klingt falsch, irgendwie nach neuer Wohnung. Wie nennt man es denn, wenn man sich den Ort anguckt, an dem man der eigenen Mutter für immer Lebewohl sagt? Instinktiv ziehe ich die Schultern hoch und den Kopf ein. Dabei habe ich bei diesem Anblick doch allen Grund, zufrieden zu sein. Vom hölzernen Braunton der Trauerhalle ist fast nichts mehr zu sehen. Das Podest, auf dem das Pult des Trauerredners steht, ist durch drei Stufen von den Stuhlreihen abgesetzt. Alles dort oben strahlt. Die stattliche weiße Urne mit dem kitschigen Engel vorne drauf, in der ihre Asche liegt, und vor allem die unzähligen weißen Rosen. Ihre Lieblingsblumen. Ich habe so viele Rosen von der Friedhofsgärtnerei liefern lassen, dass die Bestellung fast für Engpässe gesorgt hätte. Ha, so ein Brimborium, das hätte meiner Mutter gefallen! Oder? Sicher sein kann ich mir nicht, denn außer dem Wunsch, eingeäschert zu werden, hat sie keine weiteren Gedanken für mich festgehalten. Ganz anders als die inzwischen ebenfalls verstorbene Mutter einer guten Freundin. Sie hat ihrer Tochter einen langen liebevollen Brief mit ihren Vorstellungen für das Begräbnis hinterlassen. Machte man das als gute Mutter nicht so, um dem Kind neben dem Schmerz ein bisschen was von dem großen Chaos zu ersparen?
Mehrere Blumenkränze thronen um das Pult, allesamt gesteckt und gebunden aus dicken weißen Blüten. Direkt neben meinem steht der von Rosi, einer von Mamas ältesten Freundinnen. Und der Kranz neben Rosis, von wem war der noch mal? Es sind so viele, wie soll man da den Überblick über die Absender behalten? »In Gedenken an Annette« oder »Wir werden dich nie vergessen, Annette« steht in goldener Schrift auf opulenten Schärpen, die an den Kränzen hängen. Auf einer anderen Schärpe lese ich die Worte: »Jetzt bist du erlöst.« Ich nicke.
»Was?«, fragt Ramona leise. Ramona steht so dicht hinter mir, als müsste sie in der Lage sein, mich aufzufangen, falls ich falle. »Wie, was?«, entgegne ich, ohne die Schärpe mit dem Erlösungssatz aus den Augen zu lassen. »Du hast gerade genickt, warum?« Ich nicke noch mal und flüstere Ramona zu: »Ich weiß nicht.« Doch ich denke bei mir: Vielleicht weiß ich es doch, aber sagen kann ich es nicht, nicht mal Ramona. Noch nicht.
Ramona und Britta waren am Abend zuvor aus Berlin angereist. Sie übernachteten mit im Haus meiner Mutter und stellten am Morgen mit mir das Outfit für den Tag zusammen. Sie stopften Taschentücher in die eine Tasche meines Blazers und statteten die andere mit Gummibärchen aus. Sie bemuttern mich richtig. Weich und warm fühlt sich das an. Ich spüre, wie sich die beiden bei mir unterhaken. Sie schieben mich ein Stückchen weg von der Eingangstür. Ich stehe jetzt in der Mitte des Gangs. Auf der einen Seite ist die Tür der Trauerhalle, sie wirkt klein und dunkel, auf der anderen das große strahlende Weiß. Wie angewurzelt stehe ich auf einem Fleck, als hätte man mich eben dort abgestellt. Wie eine Figur aus einem Schachspiel, die auf den nächsten Zug wartet. Meistens ist der nächste Zug eine Umarmung, die ich bekomme, kombiniert mit lieben Worten oder ein paar stumm verdrückten Tränen.
Ist das immer noch der Funktionsmodus, in dem ich mich befinde? In diesen Zustand war ich wenige Stunden, nachdem ich am Flughafen vom Tod meiner Mutter erfahren hatte, hinübergeglitten. Zuerst hatte ich so viel geweint wie insgesamt in meinem ganzen Leben noch nicht. Doch im Anschluss setzte sofort mein Retterinstinkt ein: sich um alles kümmern, an alles denken, bloß nicht ausruhen, am besten alles allein erledigen, dann passieren schon keine Fehler.
Mein Blick wandert über die schwarz gekleidete Masse. Obwohl es noch etwas dauert, bis die Beerdigung beginnt, sind fast alle Sitzplätze belegt. Manche der Menschen blicken mit gesenktem Kopf vor sich hin. Andere tauschen sich im Flüsterton miteinander aus. Die Stimmung ist im Keller, alle sind traurig. Anders darf es ja auch gar nicht sein. Ein paar Satzfetzen fliegen dann und wann zu mir herüber. »Wie die Blumen duften, herrlich!« oder »Nein, sieht das schön aus!« oder »Mein Gott, die arme Annette!« oder »Mein Gott, die arme Fränzi!«. Eine einzige schwere Wortmasse. Wie zäher Teig oder zu lang gekauter Kaugummi. Mein Blick kommt immer wieder bei der weißen Urne an, tapfer steht sie auf einem kleineren Pult, direkt neben dem großen, und strahlt hinab auf die Trauernden. Doch, doch, das alles hätte meiner Mutter sicher gefallen. Besonders der kitschige Engel.
Mein Herz pocht schnell und fühlt sich dabei an, als wären die Schichten meines Körpers, die eigentlich die Aufgabe haben, es zu schützen, dünner geworden. Auch das Atmen fällt mir schwer. Ich bin hellwach und todmüde zugleich. Geschlafen habe ich in dieser Nacht kaum. So viele Fragen, auf die ich keine eindeutige Antwort finden konnte. Nicht in der Nacht, nicht heute früh. Irgendwann? Bis zuletzt war ich nicht sicher, ob ich eine Grabrede schreiben und dann auch halten können würde. Doch heute früh um sechs Uhr zog es mich plötzlich unter der warmen Bettdecke hervor und in das spärlich beheizte Wohnzimmer meiner Mutter, wo ich schließlich alles in einem Rutsch runterschrieb. Ganz leicht war es mir von der Hand gegangen. Ist das nicht komisch?, fragte ich mich im Morgengrauen und später Ramona und Britta. »Nein, wieso?«, fanden beide. Ich versuche noch immer, mich mit dieser Antwort zufriedenzugeben.
Welche meiner Freundinnen hatte mich eigentlich vor einer knappen Stunde zur Beerdigung gefahren? Oder hatte ich selbst hinterm Steuer gesessen? Das gibt’s doch nicht, ich kann mich nicht erinnern. Auch wenn an diesem Tag bislang alles nur so an mir vorbeizieht, nehme ich jetzt wahr, wie Britta einige der Gäste in Empfang nimmt. Und wie Ramona auf herzliche Weise irgendetwas mit dem Trauerredner klärt. Gut, dass die beiden da sind, gut, dass sie bei diesem Gang zwischen Leben und Tod hinter mir stehen. Es fühlt sich richtig an, heute nicht allein zu sein. Dabei bin ich doch so gut im Alleinsein. Ja, meine Mutter hatte sich ihr Leben lang durch Depressionen und eine Psychose nach der anderen gequält – und ich mit ihr, aber das steht hier nicht zur Debatte, hatte es nie innerhalb unserer Mutter-Tochter-Beziehung. Dass meine Mutter jetzt tot ist, ist trotzdem schwer zu begreifen. Ich spüre Zufriedenheit beim Anblick des opulenten Blumenschmucks, den ich organisiert und bezahlt habe. Und zugleich fühlt es sich so an, als würde ich den Boden unter den Füßen verlieren, weil jetzt der eine Mensch nicht mehr da ist, den ich am meisten geliebt und am meisten gehasst habe. Wie, um alles in der Welt, soll ich diesen Tag überstehen – ohne meine Mama? Und dann auch noch ohne Alkohol.
Ich umarme viel und nehme noch mehr Beileidsbekundungen entgegen, dabei versuche ich, die Urne nie aus den Augen zu verlieren. Kommt dieser Teil mit dem Beileid nicht erst am Schluss, wenn man es geschafft hat? Warum stürmen alle auf mich zu, als wäre ich ein kleines Mädchen? Aber lieb finde ich es schon auch. Wie es sich wohl anfühlen wird, wenn ich die Asche meiner Mutter gleich zu Grabe tragen werde? Während der ganzen Organisationsphase hatte mir eine Freundin, die auch ein schwieriges Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter hatte, geraten, nicht den Urnenträger die Urne zu Grabe tragen zu lassen, sondern das selbst zu übernehmen. Das würde helfen, hatte die Freundin gemeint, und ich hatte den Vorschlag instinktiv angenommen, statt ihn noch zehn- oder zwanzigmal in meinem Kopf abzugleichen.
Als ich den Termin bei der Bestatterin hatte, hatte die mich recht irritiert angesehen und gesagt: »Frau Hohmann, also, ich verstehe Sie, aber das ist eher unüblich.« Dann hatte sie die Hände etwas verkrampft im Schoß gefaltet. Ich hatte sofort gedacht, dass die Frau gar nichts versteht und das Verhältnis zu meiner Mutter auch eher unüblich gewesen war und sie meinen Wunsch doch bitte einfach in den Unterlagen festhalten soll.
»Bitte. Es ist mir wirklich wichtig.« Ich sah der Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs lang in die Augen, als ich diesen Satz sagte.
So lang, bis diese schließlich sagte: »In Ordnung, Frau Hohmann, dann machen wir das so.« Geht doch, dachte ich, ohne weiter über den Gang mit der Urne nachzudenken. Es gab genügend andere To-dos, und die musste ich Schritt für Schritt abarbeiten.
Helfen würde es, die Urne der Mutter selbst zu tragen, hatte die Freundin immer wieder gesagt. Wobei eigentlich?, frage ich mich jetzt, wo der Gang in einer Stunde, vielleicht anderthalb bevorsteht. Oder wogegen?
Die Süße der Rosen strömt vom Podest bis zu mir. Die Blumen duften wirklich gut. Eine ältere Dame erhebt sich aus einer der vorderen Sitzreihen. Rosi. Sie arbeitet sich durch die inzwischen voll besetzten Stuhlreihen und wischt sich immer wieder verstohlen Tränen aus den Augen. Als Rosi auf meiner Höhe ist, fasst sie mich am Arm. Ganz sanft. So wie früher. »Ich hol noch mal ein paar Taschentücher aus dem Auto, Fränzilein. Bin gleich wieder da«, flüstert sie. Ich spüre Rosis warme trockene Hand auf meinem kalten Unterarm und lächle sie an.
Der Strom an Besuchern ist verebbt. Zum Glück, einige von ihnen haben nicht einmal einen Sitzplatz abbekommen, so groß ist der Andrang. Gleich geht es los. Gleich...
| Erscheint lt. Verlag | 10.9.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
| Schlagworte | Alkohol • Alkoholabhängigkeit • Beziehung • Beziehungsratgeber • Biografie • Biographien • Depression • eBooks • Gesundheit • Hassliebe • I'm Glad My Mom Died • jenette mccurdy • Mutterliebe • Mutter-Tochter-Beziehung • Neues Leben • Psychologie • Selbstliebe • Selbstwirksamkeit • Sucht • Tochter • toxische Beziehung |
| ISBN-10 | 3-641-33061-0 / 3641330610 |
| ISBN-13 | 978-3-641-33061-3 / 9783641330613 |
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