Colin Cotterill, in London geboren, begab sich nach einer Ausbildung zum Englischlehrer auf eine lange Weltreise. Mittlerweile lebt er in Chumphon, Thailand. Seine in Laos angesiedelte Krimireihe um Dr. Siri wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.
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Jede Leiche hat eine Geschichte zu erzählen
Es gab einen Mythos. Keine schaurige Großstadtlegende, die kleine Kinder vor Angst das Bett einnässen ließ, aber etwas Verstörendes hatte er durchaus. Seine zweifelhafte Existenz verdankte er vermutlich der schelmischen Erzählkunst eines Arztes wie Siri Paiboun, des ehemaligen staatlichen Leichenbeschauers der Demokratischen Volksrepublik Laos, der dafür bekannt war, dass er die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit oft und gern verwischte. Der Mythos lautete in etwa so: Nach dem Tod eines Menschen wachsen seine Haare und Nägel auf rätselhafte Weise weiter. Jeder auch nur halbwegs kompetente Mediziner würde derlei mit einem Kichern abtun, doch so abseitig diese Geschichte auch sein mochte: Es gab Leute, die Stein und Bein schworen, dieses Phänomen mit eigenen Augen beobachtet zu haben. Und all die Zweifler und »Experten« hätten nur einmal den Schlüssel unter der Fußmatte der Pathologie der Mahosot-Klinik in Vientiane hervorholen, sich Zugang zum Schneideraum verschaffen, das einzige belegte Fach der Kühlkammer herausziehen und das Tuch zurückschlagen müssen. Dann hätten sie schon gesehen …
Das Haupthaar des Genossen Thinh war noch immer voll und kräftig, wenn auch für laotische Moralverhältnisse ein klein wenig zu lang. Seine Nasenhaare hingegen waren in eindrucksvollem Maß gewachsen, seit er das Zeitliche gesegnet hatte. Sie waren aktuell gut sechs Zentimeter lang. Herr Geung, der Laborassistent, hatte sie zu einem ordentlichen Schnäuzer gekämmt und nicht den geringsten Zweifel, dass über kurz oder lang ein Kinnbart daraus werden würde.
Der Genosse Thinh lag seit fast einer Woche in der Pathologie und kultivierte seine struppige Nasenpracht, während seine Frau und seine Geliebte sich darum stritten, wer seinen Leichnam mit nach Hause nehmen durfte. Zu seinem Glück war Thinh nicht mehr am Leben, denn die beiden Frauen waren verabscheuungswürdige Gestalten. Er hatte sich das Genick vermutlich nur gebrochen, um sie endgültig loszuwerden. Die Entscheidung lag gegenwärtig in den Händen eines eilig einberufenen Rates, bestehend aus Mitgliedern des vietnamesischen Zentralkomitees, selbstverständlich alles Männer. Dass die Frage von einem so hohen Gremium erörtert wurde, verdankte sich dem Rang und Ansehen des Verstorbenen und nicht zuletzt den potenziellen Folgen, die drohten, wenn er auf dem falschen Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Offiziell hatte Dr. Siri mit der Pathologie nichts mehr zu tun. Er fristete sein Los inzwischen hinter dem Eingang der Nudelküche seiner Frau, wo er zwischen den Schichten an einem der hinteren Tische saß, Kaffee trank und die Nase in jedes Buch steckte, dessen er habhaft werden konnte. Seine illegale Bibliothek existierte schon seit Jahren nicht mehr, und 1981 war Laos auf der literarischen Weltkarte ein weißer Fleck. In der einzigen Buchhandlung des Landes gab es fünf laotische Übersetzungen von sowjetkommunistischem Blabla, ein Regal mit amtlichen Berichten und die letzten drei Jahrgänge des wöchentlich erscheinenden Parteiorgans Pasason Lao. Den Rest der Verkaufsfläche nahmen verstaubte Sportgeräte ein und ausgestopfte Exemplare vom Aussterben bedrohter Arten mit Murmeln statt Augen, denen der Schrecken jener letzten Jagd auf ewig ins Gesicht geschrieben stand.
Doch hat einen die Lesesucht erst einmal befallen, wird man sie so leicht nicht wieder los. Da weder Geld noch gute Worte einen Proust oder Victor Hugo nach Vientiane zu holen vermochten, las Siri das Protokoll der jüngsten ZK-Tagung und die Vorschläge für den nächsten Dreijahresplan zur Entwicklung und zum Aufbau der Nation. Und natürlich las er – zum x-ten Mal – das Drehbuch seines Filmes, der es niemals auf die große Leinwand schaffen würde. Er sehnte sich nach etwas Anregendem und Kreativem, das ihm die öden Tage erträglich machte. Und ist so ein Sehnen stark genug, reicht es manchmal schon aus, um das Schicksal auf Trab zu bringen.
Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß in die Pathologie zu setzen, aber wer konnte bei postmortalem Nasenhaarwuchs schon Nein sagen? Kaum war Herr Geung zu seiner abendlichen Nudelschicht eingetroffen und hatte ihm die frohe Kunde von der Leiche in der Kühlkammer überbracht, saß Siri auch schon auf seinem Fahrrad und radelte gen Mahosot, und Köter, die Promenadenmischung, die dem Tod dreimal nur knapp entronnen war, trottete ihm hinterdrein. Es fuhren keine Autos. Eine Zählung hatte jüngst ergeben, dass in Laos insgesamt rund vierzehntausend Kraftfahrzeuge gemeldet waren. Elftausend davon hatten keinerlei Zugang zu Benzin, weil die spärlichen Vorräte allein der Regierung vorbehalten blieben. Viele Kinder fragten sich verwundert, was es wohl mit den moosbewachsenen Denkmälern in den Vorgärten ihrer Eltern auf sich hatte.
Es war der laue Abend eines lauen Tages am Ende eines lauen Monats. Die Hitzesaison lauerte hinter den Bergen Vietnams und wartete nur auf ihr Stichwort, um die laotische Hauptstadt in einen Glutofen zu verwandeln, doch bis zu ihrem großen Auftritt lockten die milden Abende Rudel von Jungen und Mädchen aus dem Haus, die im Schneckentempo auf Fahrrädern ihre Runden drehten, in der Hoffnung, mit einem Lächeln oder Nicken belohnt zu werden. Obwohl sie so langsam fuhren, hielten sie sich, allen Gesetzen der Physik zum Trotz, scheinbar mühelos im Sattel. Siri hatte das Wort »Illstand« erfunden, das nur eine Winzigkeit über absolutem »Stillstand« lag und deshalb für die Beschreibung des Flirtradelns wie geschaffen war. Schamlos schäkerte er mit den Mädchen, die ihm entgegenkamen, und sie taten so, als hätten sie ihn nicht gehört. Doch das leichte Schürzen der Lippen, das Flattern der Lider ließ sich nicht verhehlen. Keine Frau ist taub für Komplimente.
Die Tür der Pathologie stand einen Spaltbreit offen. Siri parkte das Fahrrad und Köter im Schatten einer Tamarinde und schleuderte im Vorraum seine alten Ledersandalen von den Füßen. Er kam an dem Büro vorbei, in dem er ungezählte Stunden mit dem Entziffern antiker französischer Forensik-Lehrbücher verbracht hatte, und betrat den sogenannten Schneideraum, wo Chefinspektor Phosy und seine Frau, Schwester Dtui, sich über den Leichnam des Genossen Thinh beugten. Kichernd blickten sie auf.
»Ah, Siri«, sagte Phosy. »Ich wusste doch, dass Sie der Versuchung nicht würden widerstehen können.«
»Ich habe zu viele glückliche Stunden damit zugebracht, Aas unter die Lupe zu nehmen, um die OP-Schürze endgültig an den Nagel zu hängen«, sagte Siri.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte Dtui. Sie war bildhübsch und etwas rundlicher als sonst. Er enthielt sich der Frage, ob sie schwanger sei, man konnte schließlich nie wissen.
»Ich hoffe, Sie machen sich nicht über die Toten lustig?«, sagte Siri.
Er trat zu ihnen und konnte sich seinerseits ein Glucksen nicht verkneifen, als er die Leiche erblickte. Herr Geung hatte einen prächtigen Schnurrbart modelliert, der über einen Poirot längst hinausgewachsen war und sich nun den Dimensionen eines Fu Manchu annäherte. Siri zog daran, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen Streich handelte. Der Bart hielt stand.
»Also, ich habe ja schon vieles gesehen«, sagte Siri, »aber das übertrifft alles.«
»Meinen Sie, es besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Nasenhaar und seinem Tod?«, erkundigte Phosy sich scherzhaft.
»Da fragen Sie den Falschen«, sagte Siri. »Wer ist für den Fall zuständig?«
»Dr. Mot hat die Todesursache festgestellt«, sagte Dtui.
»Aha, dann wird sie ein ewiges Geheimnis bleiben«, sagte Siri. Er war kein großer Freund des derzeitigen Leichenbeschauers, der erst vor Kurzem aus dem Ostblock zurückgekehrt war. Siri fragte sich, wie der Mann ein Medizinstudium in einer Sprache hatte absolvieren können, die er nicht einmal in Ansätzen beherrschte. Und doch besaß er eine Urkunde, der zufolge er über die erforderliche Qualifikation zur Durchführung einer Obduktion verfügte. Sie hing gerahmt an seiner Bürowand, neben einer ähnlichen Urkunde, die ihn als Fachmann für Porzellanglasuren auswies.
»Und was führt Sie beide hierher, abgesehen von dem albernen Jahrmarktsspektakel?«, fragte Siri.
»Ich wurde gebeten, in diesem Fall persönlich zu ermitteln«, sagte Phosy.
»Ich dächte, man hätte Sie an Ihren Schreibtisch gekettet.«
»Wenn es um so delikate Angelegenheiten wie diese geht, bekomme ich hin und wieder Freigang«, sagte der Polizist.
»Was ist denn daran so delikat?«, fragte Siri. »Wie ich von meiner internen Quelle höre, ist der Mann im Suff eine Felswand hinabgestürzt. Leider konnte Herr Geung mir nicht verraten, warum dieser schnöde Umstand auf so lebhaftes Interesse stößt.«
»Das hängt einzig und allein damit zusammen, wer er ist«, sagte Phosy.
»Und wer ist er?«
»Sagt Ihnen der Name Bui Sok Thinh etwas?«
»Nicht das Geringste.«
»Er war der Sohn von Bui Kieu.«
»Bei mir klingelt noch immer nichts.«
»Dann ist er vermutlich erst nach Ihrer Zeit auf der Bildfläche erschienen«, sagte Phosy. »Er ist einer der reichsten Männer Vietnams.«
»Ich dachte, wir hätten Reichtum abgeschafft«, sagte Siri. »Gilt die kommunistische Lehre noch, oder habe ich da etwas verschlafen?«
»Es ist gekommen, wie es kommen musste, Doc«, sagte Dtui. »Bei uns ist es nicht anders. Viele gute Vorsätze, aber kein Geld. Ein paar zusammengebrochene Kooperativen, ein paar Naturkatastrophen, und das Budget für Infrastruktur ist dahin. Und schon regiert wieder die gute alte...
| Erscheint lt. Verlag | 25.6.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Dr. Siri ermittelt |
| Übersetzer | Thomas Mohr |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The Delightful Life of a Suicide Pilot |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Serien |
| ISBN-13 | 9783641309374 / 9783641309374 |
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