Der Seelenheiler (eBook)
208 Seiten
edition a (Verlag)
978-3-99001-756-2 (ISBN)
Prof. DDr. Johannes Huber studierte Theologie und Medizin. Von 1992 bis 2011 war er Leiter der klinischen Abteilung fu?r gynäkologische Endokrinologie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Er ist in Wien als Arzt tätig, seine Vorträge und Bu?cher machten ihn im gesamten Raum bekannt.
Prof. DDr. Johannes Huber studierte Theologie und Medizin. Von 1992 bis 2011 war er Leiter der klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Er ist in Wien als Arzt tätig, seine Vorträge und Bücher machten ihn im gesamten Raum bekannt.
Sepphoris war bereits von Weitem zu sehen. Auf einem Hügel thronte es wie die Krone auf dem Haupt eines Königs. Die Straßen der Stadt waren mit gebrochenem Marmor ausgelegt, die Häuser der reichen Bürger bestanden aus Lehm, Stein und Holz und waren innen mit Mosaiken ausgeschmückt. Es gab ein Hippodrom für Pferderennen und einen Tempel für die Götter der Heiden, der so anders war als jene Tempel und Gebetshäuser, die Jeschua kannte, obgleich er als gläubiger Jude in den fast dreißig Jahren seines Lebens noch nie darin gewesen war. In der Mitte der Stadt lag ein von Säulen umgebener Marktplatz, die Agora. In einen Hang war ein Theater hineingebaut, in dem die Römer ihre Schauspiele aufführten und sich amüsierten. Josef schüttelte darüber den Kopf. »Wer das Leben imitiert, der lästert Gott«, sagte er. »Nur ihm ist es gegeben, zu erschaffen.«
Das Haus ihres Auftraggebers lag südlich des Theaters. Die Diener des Griechen kamen fast alle aus seinem Heimatland und der Hausherr behandelte sie gut. Kratylos, wie der Hausherr hieß, war ein Mann, wie er Jeschua noch nie begegnet war. Wenn Josef und er eine Pause machten und sich sein Vater mit einem Schlauch Wasser in den Schatten einer Dattelpalme zurückzog, lud Kratylos den jungen Jeschua ein, mit ihm zu »diskutieren«. Eine Diskussion, erklärte er Jeschua, war eine griechische Kunst, in der beide Seiten aus verschiedenen Perspektiven über ein Phänomen sprachen und sich gegenseitig von ihrem Standpunkt zu überzeugen versuchten. Allerdings glichen Kratylos’ Diskussionen den Vorträgen, die Jeschua von den jüdischen Gelehrten kannte. Er selbst kam kaum zu Wort. Doch das störte ihn nicht, hatte der Grieche doch interessante und bisweilen lustige Dinge zu erzählen.
So berichtete er Jeschua von einem griechischen Philosophen. Philosophen, erklärte er ihm, seien große Weise gewesen, die Einsichten über das Leben besaßen, die sie über die gewöhnlichen Menschen erhoben. Sie würden in seiner Heimat sehr verehrt. Deshalb wunderte sich Jeschua, dass Kratylos’ Lieblingsphilosoph ein Mann namens Diogenes gewesen war, der mit nichts als einem Leinentuch bekleidet heimatlos umherirrte und von Almosen lebte. »Ich besitze nicht, damit ich nicht besessen werde«, soll dieser Diogenes gesagt haben. Und als er einmal auf den großen Feldherren Alexander traf, über den Jeschua zahlreiche Legenden gehört hatte, wollte ihm der große Kaiser einen Wunsch erfüllen. »Geh mir aus der Sonne«, war alles, was Diogenes darauf erwiderte.
Kratylos amüsierte sich prächtig über diese Geschichten. Seinem großen Vorbild zu Ehren hatte Kratylos die marmorne Statue eines Hundes am Eingang seines Hauses aufgestellt, denn Diogenes wurde auch Kyniker, Hund, genannt. Soweit Jeschua verstand, weil er lebte wie ein Hund.
Die Lehren seines Vorbilds predigte Kratylos auch seinen Dienern. Täglich sah Jeschua sie im Schatten der Palmen sitzen und ihrem Herrn lauschen, während er und sein Vater Lehm anrichteten und Holz bearbeiteten. Von der Gleichheit aller Menschen war da die Rede, von dem Wunder der Besitzlosigkeit und vom Glück durch innere Freiheit. »Egal, welche Umstände euch heimsuchen«, verkündete Kratylos, »nur euer Innerstes entscheidet, ob ihr frei seid oder nicht.«
Jeschua wusste nicht, was die Diener von den Reden ihres Herrn hielten. Er selbst kleidete sich zwar einfach und trug einen dichten, wilden, schwarzen Bart, der ihm ein grobschlächtiges Aussehen verlieh, doch Jeschua wusste, dass Kratylos mit dem Handel von Gewürzen und Stoffen ein Vermögen gemacht hatte. Es wirkte nicht, als ob er die Besitzlosigkeit lebte, die er anderen predigte. Seine Diener mochten das Glück in ihrem Inneren finden, Kratylos suchte es jedenfalls noch immer in den Goldmünzen, die jede Woche in sein Haus strömten. Aber Jeschua wäre es nicht eingefallen, bei einer ihrer Diskussionen dieses Missverhältnis zur Sprache zu bringen. Immerhin versorgte Kratylos Josef und ihn mit Arbeit.
Jeschua mochte diese Arbeit. Sie bekamen Datteln und Brot, Wasser und manchmal auch Wein. Kratylos trieb sie nicht an und zeigte sich mit ihren Fortschritten zufrieden. Außerdem war da noch Kratylos’ Gemahlin.
Zum ersten Mal hatte Jeschua sie nach seiner ersten Woche bemerkt. Die Sonne neigte bereits ihr stolzes Haupt und machte dem Abend Platz, als er eine Bewegung an einem der Fenster des Hauses wahrnahm. Als er den Blick hob, war das Fenster leer.
Am nächsten Tag wandte er den Blick zur gleichen Zeit empor. Diesmal war sie im Fensterrahmen geblieben. Er erkannte ihre zierliche Gestalt, doch von ihrem Gesicht sah er kaum etwas. Sie war völlig in einen purpurfarbenen Mantel gehüllt. Nur ihre schwarzen Augen blitzten hervor, fingen die letzten Sonnenstrahlen auf, bevor sie entkommen konnten, und entfachten ein bisher ungekanntes Feuer in Jeschuas Seele.
Am folgenden Tag trat sie aus dem Haus, kurz bevor Josef und er die Arbeit beendeten, warf ihm einen flüchtigen Blick zu und stellte einen Krug mit Wein vor die Tür, ehe sie wieder im Inneren verschwand. Josef widerstrebte es, den Wein zu trinken, auch wenn es laut Tora nicht verboten war. Doch bei den Griechen galten noch losere Regeln und er wollte keinen undankbaren Eindruck bei den Bauherren hinterlassen. Als ihn Kratylos aufforderte, ließ er sich also mit ihm vor dem Haus nieder und winkte Jeschua zu sich. Kratylos bestand darauf, dass auch der junge Mann einen Schluck nahm. »Bei uns beginnen die Männer schon zu trinken, wenn sie halb so alt sind wie du«, sagte er und reichte den Krug lachend an Jeschua.
Das herbe, bittere Getränk rann ihm die Kehle hinab. Es war weniger klar, weniger einfach als das Wasser, das er sonst trank. So viele Eindrücke lagen in einem so kleinen Schluck, dachte Jeschua.
»War das Eure Frau, die uns den Wein brachte?«, fragte Josef.
»Ja«, sagte Kratylos. Seine fröhliche Miene verfinsterte sich. »Sie ist eine gute Frau, eine schöne Frau. Ich lernte sie in Athen kennen. Sie war jünger als ich und ich dachte, sie könne mir gute Nachkommen schenken.« Er nahm einen Schluck. »Doch kurz nach unserer Hochzeit befiel sie eine seltsame Krankheit. Deshalb trägt sie zu jeder Stunde diesen Schleier und wagt sich erst für längere Zeit aus dem Haus, wenn die Nacht ihren schützenden Mantel über sie breitet. Die besten Ärzte Griechenlands konnten sie nicht heilen. Meine letzte Hoffnung besteht in den Medizinern Alexandrias. Sie sind die besten Heiler, die es gibt. Nun warten wir darauf, dass sie stark genug wird, um die weite Reise antreten zu können ...« Ohne seinen Satz zu beenden, stand er auf. Auf Jeschua machte es den Eindruck, als hätte Kratylos mehr gesagt, als ihm lieb war. Doch es war offensichtlich, dass er niemanden hier hatte, mit dem er sich über seine Sorgen unterhalten konnte. Gern hätte Jeschua den Mann nach diesem Alexandria gefragt, doch er wagte es nicht, aus Angst, ihn an das Schicksal seiner Frau zu erinnern, das auch sein Schicksal war.
Seit diesem Tag waren Wochen ins Land gezogen. Der Trakt der Bediensteten war beinahe fertig. Jeschua hatte ein wenig Griechisch gelernt, denn Kratylos meinte, ein Mann von Welt müsse die Sprache der Philosophen beherrschen. Und jeden Abend, kurz bevor sie den Weg nach Hause antraten, kam Kratylos’ Ehefrau vor die Tür und wartete, bis Jeschua ihren Blick erwiderte. Er wusste nicht, was darin lag, und wünschte, er wüsste es. Nur für einen Augenblick wollte er unter ihrem Schleier stecken, ihren Schmerz fühlen, ihre Einsamkeit und ihre Pein. Er wollte begreifen, wie es für sie war, sie zu sein. Dann wüsste er, wie er ihr würde helfen können. Denn das wollte er: helfen. Er konnte nicht sagen, warum er das wollte. Doch dieser Wunsch war stärker als alles andere. Er wollte den Schleier zerreißen, der die Welt und all ihre Wunder von diesen tiefen schwarzen Augen trennte.
Als Josef an diesem Tag ihre Ankunft meldete, führte sie ein Diener nicht wie sonst zum Trakt der Bediensteten, sondern ins Innere des Herrenhauses. Weder Josef noch Jeschua waren jemals darin gewesen.
Anders als der grobe Lehmboden des Diensttrakts bestand jener des Herrenhauses aus feinen Mosaiksteinchen, doch was sie zeigten, begriff Jeschua nicht. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein athletischer Mann, der mit einem Löwen rang. Ein anderer, der mit seinem Bogen auf eine Schar verängstigter Männer zielte. Eine Frau, die vor etwas saß, das wie ein Musikinstrument aussah.
dar »Halte dich nicht mit diesen Bildnissen auf«, sagte Josef auf Aramäisch. Es war die Sprache ihres Volkes und für die meisten Römer und Griechen, die nach der römischen Eroberung hierhergezogen waren, unverständlich. »Sie sind nichts als Illusionen, geschaffen zur Zerstreuung.«
Jeschua wandte den Blick ab, doch etwas daran faszinierte ihn. Der Bedienstete musste sein Interesse bemerkt haben, denn er wandte sich Jeschua zu. »Das sind Abbildungen griechischer Mythen«, erklärte er. »Geschichten, die sich die Griechen seit vielen Jahrhunderten erzählen. Mein Herr hat seine Liebsten als Mosaike darstellen lassen, um sie stets um sich zu haben.«
»Sind sie wirklich geschehen?«, fragte Jeschua.
Der Diener, ein kahlgeschorener Mann mit olivenfarbener, glatter Haut, dessen Alter unmöglich zu schätzen war, lächelte. »Wenn etwas lang genug zurückliegt, ist es egal, ob es wirklich geschehen ist oder nicht. Wird es oft genug erzählt, bekommt es eine Wahrheit, die über die Wirklichkeit hinausgeht.«
Der Diener sprach gebildeter, als Jeschua erwartet hatte. Ob dies mit Kratylos’ Vorträgen zu tun...
| Erscheint lt. Verlag | 20.10.2024 |
|---|---|
| Verlagsort | Wien |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Schlagworte | Abraham • Christentum • Evangelium • Glaube • Gott • Jesus • Josef • Judentum • Jünger • Katholisch • Kirche • Maria • Religion • Sohn • Testament • Weihnachten |
| ISBN-10 | 3-99001-756-X / 399001756X |
| ISBN-13 | 978-3-99001-756-2 / 9783990017562 |
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