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Your Heaven, My Hell (eBook)

Spiegel-Bestseller
Wie Heavy Metal mich gerettet hat
eBook Download: EPUB
2025
256 Seiten
Ullstein eBooks (Verlag)
978-3-8437-3594-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Your Heaven, My Hell -  Mille Petrozza,  Torsten Groß
Systemvoraussetzungen
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Ruhrgebiet, in den Siebzigerjahren: Mille Petrozza wächst als Sohn einer Malocherfamilie im Essener Stadtteil Altenessen auf. Die Mutter DDR-Geflüchtete, der Vater Gastarbeiter aus Kalabrien, er arbeitet unter Tage. Im multikulturellen Schmelztiegel des Potts treffen die Subkulturen der damaligen Zeit auf strukturellen Wandel: Zechensterben, Gewalt, Alkoholismus, Pattexschnüffeln. Heavy Metal kracht da einfach so rein: Nach einem Kiss-Konzert wird Mille Teil einer international vernetzten Graswurzelbewegung. Durch Heavy Metal emanzipiert er sich von den saufenden Jugendgangs. Die erste Gitarre verleiht ihm Superkräfte: Mit seiner Band Kreator wird Mille ungeplant zum internationalen Thrash-Metal-Star. In seiner Autobiografie erzählt Mille Petrozza zum ersten Mal die unglaubliche Geschichte seiner frühen Jahre, wie seine Mutter den ersten Plattenvertrag unterzeichnete und danach aus einer Heavy-Metal-Clique im Ruhrpott eine der international bedeutendsten und langlebigsten Thrash-Metal-Bands überhaupt wurde.

Mille Petrozza, geboren 1967 in Essen, ist seit über 40 Jahren Gitarrist, Songschreiber und Sänger von Kreator. In ihrer seit 1982 andauernden Karriere hat die Band Millionen Alben verkauft und zuletzt mit »Gods of Violence« (2017) und »Hate über alles« (2022) Platz 1 und 2 der deutschen Charts erreicht. Auch international ist Deutschlands größte Thrash-Metalband enorm erfolgreich. Petrozza lebt in Essen und Berlin. Er lebt vegan, engagiert sich für Peta und praktiziert Yoga.

Torsten Groß, geboren 1971 in Iserlohn, ist Musikjournalist, Autor und Moderator. Groß war beim »Rolling Stone« sowie Chefredakteur der »Spex«, er hat für Arte Tracks gearbeitet und mit Klaus Doldinger dessen Autobiografie geschrieben. Er moderiert den »Soundcheck« auf Radioeins und arbeitet u.a. für »Zeit Online«, Deutschlandradio Kultur, »Focus«, »Rolling Stone« sowie als Podcaster. Groß lebt in Berlin.

Altenessen


Bis heute erzählen mir meine Verwandten aus Zittau, ich solle sie doch bitte unbedingt mal wieder besuchen kommen, das sei so gesund für die Lungen. Zittau liegt im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien, im südöstlichen Zipfel Sachsens, und muss vor dem Krieg eine ziemlich schöne Stadt gewesen sein. Die umliegenden Berge gelten als Luftkurort. Die Familie meiner Mutter wollte dort allerdings nicht bleiben. Sie haben sich vermutlich gefragt, was ihnen die gesunde Luft bringt, wenn sie jeden Abend hungrig ins Bett gehen. Die Versorgungslage in der DDR war in den Jahren vor dem Bau der Mauer eine Katastrophe. Für alles brauchte man Zuteilungsmarken, oft blieben die Regale im örtlichen Konsum leer. Die Leute sind deswegen später in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen. Zittau lag immer noch teilweise in Trümmern, Arbeit gab es ebenfalls kaum. Als der Berliner Mauerbau im August 1961 tatsächlich begann, bestieg Barbaras Familie einen der letzten Züge und flüchtete aus der Ostzone, wie meine Mutter die DDR immer nannte. Meine Oma hatte von Freunden gehört, dass man noch relativ gefahrlos mit dem Zug ausreisen könne, und das taten sie. Meine Mutter landete mit ihrer Familie in einem Übergangswohnheim in Oberhausen.

Mein Vater Piero stammt ebenfalls aus äußerst spärlichen Verhältnissen. Sein Heimatdorf Cutro ist ein winziges Kaff im tiefsten Kalabrien, am unteren Rand der italienischen Stiefelsohle. So fühlte sich das Leben dort für die Familie meines Vaters auch an: wie Dreck unter der Sohle eines schicken Lederschuhs. Pieros Vater war gleichzeitig Schuster und Filmvorführer von Cutro gewesen, und nach seinem frühen Tod musste mein Vater bereits mit zwölf für den Lebensunterhalt seiner gesamten Familie sorgen, was nicht besonders gut gelang. Wir sind später ab und zu dorthin gefahren und haben Verwandte besucht. Die Provinz Crotone, in der Cutro liegt, ist eine karge, aber sehr schöne Gegend, das Ionische Meer ist nur wenige Kilometer entfernt. Kalabrien war aber auch damals schon eine der ärmsten Regionen Italiens. Das italienische Wirtschaftswunder der Fünfziger- und Sechzigerjahre hatte es nicht bis Cutro geschafft. Wer zu dieser Zeit dort lebte und halbwegs bei Kräften war, zog entweder in den reichen Norden oder schloss sich der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, an.

Mein Vater wählte einen dritten Weg: Im Zuge des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens von 1955 zogen Millionen von Italienern als sogenannte Gastarbeiter in die boomenden Wirtschaftszentren der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere Kalabrien war danach zeitweise regelrecht entvölkert. Mein Vater folgte dem Boom und stieg mit Anfang zwanzig zusammen mit seinem dreizehnjährigen Bruder in einen Zug nach Oberhausen, damals eine der bedeutendsten Stahlstädte Deutschlands. Die Montanindustrie war der Motor des deutschen Wirtschaftswunders, es konnte gar nicht genug Arbeiter geben.

So kam zusammen, was nirgendwo sonst zusammengekommen wäre: Mein Vater und sein Bruder wohnten zunächst in derselben Übergangsreinrichtung, in der auch meine Mutter mit ihrer Familie untergekommen war, von ihnen als Baracke bezeichnet. Hier trafen sie sich nun also. Aus unterschiedlichen politischen Systemen und Ländern kommend, konnten meine Eltern sich nicht einmal unterhalten. Aber sie brauchten auch nicht besonders viele Worte.

Meine Oma hat einmal erzählt, dass Italien zu der Zeit schwer in Mode und es also voll angesagt war, als deutsches Teenager-Mädchen einen italienischen Freund zu haben, idealerweise einen älteren. Meine Eltern haben sich jedenfalls in dieser Baracke kennengelernt, in der DDR-Geflüchtete zusammen mit italienischen Gastarbeitern untergebracht waren, freundeten sich erst an und wurden dann ein Paar. Mein Opa war zunächst gegen die Verbindung, meine Mutter war erst siebzehn, mein Vater schon dreiundzwanzig, da hatte er Bedenken, nicht zuletzt der katholischen Kirche wegen. Aber gegen die Liebe meiner Eltern konnten weder die Kirche noch mein Opa etwas unternehmen. Heute sind meine Eltern seit über sechzig Jahren ein Paar.

Musik spielte für die beiden eine große Rolle. Es gab in der Gegend Lokale, in denen abends Kapellen zum Tanz aufspielten. In einer dieser Kapellen hat mein Vater ab und zu gesungen, das fand meine Mutter stark. Überhaupt ist mein Vater bis heute musikbegeistert. Zu Hause liegen immer noch kistenweise alte Bänder von ihm herum. Er sang und spielte Gitarre, der Rock ’n’ Roll hatte es meinen Eltern angetan. Papa hatte eine Elvis-Frisur, Pomade, Tolle, Entenschwanz, das volle Programm. Ich habe noch Fotos, auf denen meine Mutter Barbara Petticoat trägt, während Piero seine Gitarre in der Hand hält, und dazu diese Elvis-Frisur, das sah schon ziemlich cool aus. Beim Rock ’n’ Roll hörte die Liebe zur Musik für meinen Vater aber längst nicht auf, ebenso gerne mochte er italienische Schlager. Einmal hat er in der Essener Grugahalle Domenico Modugno angeguckt. Meine Mutter hat Peter Kraus und Conny Froboess verehrt, die deutschen Superstars der Fünfzigerjahre, von Peter Alexander hatte sie sogar eine Autogrammkarte.

Musik war wichtig, aber im Wesentlichen ging es im Leben meiner Eltern um Maloche. Nachdem sie sich kennengelernt hatten, arbeiteten beide im Presswerk, in späteren Jahrzehnten war mein Vater als einfacher Bergmann unter Tage. Ich habe mich oft gefragt, wie das für ihn wohl so war: Du bist Anfang zwanzig, kommst vom Meer, bist am Strand groß geworden, in der schönsten Natur – und dann kommst du ins Ruhrgebiet, musst runter ins Loch, den ganzen Tag im Dreck herumwühlen. Ganz schön heftig. Dabei war mein Vater nicht einmal Steiger, die hatten noch mal ein ganz anderes Leben. Er war auch kein Berg- und Maschinenmann, sondern ein einfacher Werkarbeiter, der kurz angelernt wurde und anschließend sein gesamtes Berufsleben durch die Stollen fahren musste. Mir gegenüber hat er sich darüber nie beklagt, aber mein Cousin aus Mailand hat mir erst kürzlich erzählt, dass mein Vater ihn damals davor gewarnt habe, jemals unter Tage zu arbeiten. Besonders geliebt hat er seinen Job also nicht. Doch meine Eltern haben das damals pragmatisch gesehen: In Zittau und Kalabrien gab es keine Arbeit, im Ruhrgebiet schon. Obwohl sie dafür extrem hart malocht haben, ging es uns wirtschaftlich bald relativ gut. Mit harter Arbeit konnte man im Pott immer noch einen gewissen Wohlstand erreichen.

Ich habe aber auch gesehen, was der Preis dafür war. Wenn mein Vater von der Maloche kam, war er völlig fertig. Die Leute neigen dazu, den Mythos Ruhrgebiet zu verklären. Einiges ist auch einfach wahr: Die Menschen sind auf eine sehr besondere Weise füreinander da, es gibt eine Loyalität, die vermutlich damit zu tun hat, dass du dich unter Tage wirklich auf deine Kumpel verlassen musstest. Es gab Grubengase, Schlagwetterexplosionen, Kohlenstaubexplosionen, Gebirgsschlag, unzählige andere Gefahren. Hinzu kam, dass im Ruhrgebiet damals zahlreiche Kulturen und Ethnien zusammengekommen sind, die durch die harte Arbeit zusammengeschweißt wurden, eine Schicksalsgemeinschaft. Meine Eltern sind das beste Beispiel.

Mir war aber trotzdem schon ziemlich früh klar, dass diese endlose Ruhrpott-Romantisierung mit »Steigerlied« und so weiter für mich nicht funktionierte. Wenn du selbst der Typ warst, der jeden Tag ins Loch fahren musste, hat sich das nicht so wahnsinnig geil angefühlt. Das war dann gleich nicht mehr ganz so romantisch, sondern vor allem dreckig, stickig und anstrengend. Für meine Eltern war diese Maloche der Horror. Mein Vater war mit Anfang fünfzig in Rente, er war kaputt und konnte nicht mehr. Diesen Weg wollte ich auf keinen Fall beschreiten, sondern lieber Regisseur werden. Oder eben Kung-Fu-Kämpfer, wie Bruce Lee. Auch der Beruf des Biologen erschien mir reizvoll. Ich liebte Marvel-Comics und ging davon aus, dass ich als Biologe ein Serum entwickeln könnte, das mir Superkräfte verleihen würde. Unter Tage arbeiten kam für mich jedenfalls nicht infrage, auch wenn ich sagen muss, dass mich die Schwerindustrie durchaus geprägt hat. Es ist womöglich kein Zufall, dass Heavy Metal übersetzt Schwermetall heißt. Judas Priest und Black Sabbath stammen aus Birmingham, Slayer aus Huntington Park, Sepultura aus Belo Horizonte – alles Malocherstädte.

Aufgewachsen bin ich in einer sogenannten Zechensiedlung im Essener Stadtteil Altenessen, also in einer dieser Bergarbeitersiedlungen, wie es sie im Ruhrgebiet überall gab. Innerhalb der Werksiedlungshierarchie gab es für uns schon nach kurzer Zeit ein Upgrade, als wir zwei Häuser weiter in eine größere Wohnung gezogen sind. Wir bewohnten dort zwei Etagen und einen Dachboden, für die damalige Zeit einigermaßen luxuriös. Der Dachboden war ausgebaut, und meine Eltern und ich bezogen dort jeweils eigene Zimmer. Meins war nicht besonders groß, aber es gehörte mir.

Das Klima in der Zechensiedlung war auf herzliche Weise rau und absolut typisch für eine Kindheit in der Arbeiterklasse der damaligen Zeit. Die ganze Siedlung bestand aus Zechenhäusern und Wohnblöcken, es gab eine Straße und eine sogenannte Trinkhalle, also einen Kiosk, wo die Arbeiter nach der Maloche – und zu allen anderen Zeiten – soffen. Davor noch...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2025
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Biographie • Essen • Heavy metal • Kreator • Musik • Ruhrpott • Thrash • Vegan • Wacken • Yoga • Zeche
ISBN-10 3-8437-3594-8 / 3843735948
ISBN-13 978-3-8437-3594-0 / 9783843735940
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