Sommerschatten (eBook)
140 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78207-1 (ISBN)
Sommerschatten ist ein einfühlsamer Roman über eine späte Liebe und die Kraft der Erinnerung. Als Brücke zurück in den Alltag, ins Leben.
<p>Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane <em>Paarbildung</em> und <em>Halt auf Verlangen</em> standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.</p>
Ein Tauchen
Die Nachmittagssonne, versöhnlich hell für die letzten Novembertage, verhieß einen milden Spätherbstabend. Ina würde zu einem Glas sich einfinden, vielleicht, würde auf die Rheinebene verweisen und die Sammlung der Zugvögel für den Südflug. Sie kannte ihre Nist- und Sammelplätze, winkte den dichten Formationen zu: mit einem übermütigen Gruß.
Ich verließ Straßburg über die A35, die wenig Verkehr aufwies. Auf dem Umweg über Illkirch-Graffenstaden erstand ich im Estaminet à l'Agneau eine der berühmten Lachsrollen im Teig für den Abend. So fuhr ich gelassen auf die Rheinbrücke zu, zufrieden darin, dass ich noch vor der Dämmerung meine Rebhütte erreichen würde. Nachdem ich meine Wohnung in Straßburg aufgegeben hatte, war diese Hütte mein Unterschlupf geworden. Die Klause bot seit einigen Wochen ein vorläufiges Unterkommen, war so nahe bei Ina, dass ich mit ihr noch durch die Reben gehen und mir die verlassenen Nester der Kiebitze zeigen lassen könnte.
In Straßburg hatte ich an diesem Tag verschrobene Schriftliebhaber und Schmetterlingsforscher zu Gesprächen getroffen. Wir verfolgten das Projekt einer Monatsschrift mit topographischen Medaillons. Einer nannte unser Vorhaben, mit ironischer Anspielung, eine Parallelaktion, parallel zum Rhein, der uns trennte und verband; parallel aber auch zu unserer Zeit mit ihren Verschwörungen und Bitternissen, zu all den groß und wichtig scheinenden Phänomenen der Gegenwart. Wir hatten den ganzen Nachmittag im Roi et son Fou gesessen, einem Café in der wenig beachteten Rue du Vieil-Hôpital, und zum Kaffee den einen oder anderen Absinth getrunken, was zur unbekümmerten Stimmung beigetragen hatte, obwohl wir mit unseren Plänen für die Ortsbeschreibungen, Skizzen von vergessenen Landstrichen, Müllhalden und einsamen Flussläufen nicht weitergekommen waren; das Geld fehlte auf beiden Seiten des Rheins.
Ich liebte die Stadt, auch nach Jahren noch, die Bürgerhäuser mit ihren steilen Giebeldächern und vor allem das Licht, das diesen Ort so hell machte, ihm eine südliche Wärme verlieh.
In aufgeräumter Stimmung fuhr ich heimwärts. Am Morgen würde ich ein Protokoll verfassen; mit den Projektvorschlägen – Tabakpflanzungen in den Rheinauen, die Totenköpfe in Dambach und anderes mehr – an die Kulturbehörden weiterleiten.
Vielleicht würden Ina und ich noch einen Abendtrunk in der Waldhütte am Hasenhain nehmen, den weiten Blick in die Vogesen genießen, die im Glanz der Wälder als Schattenspiel über der Ebene flackerten. Hier holte Ina die Zweige, die sie für die Vögel in ihre Gartenlaube stellte, mit Nahrungstrauben behängt, den ganzen Winter über. Da stand sie dann, wenn sie heranflogen, sah ihnen zu, hob leicht die Hand, als wollte sie zu einer Vogelpredigt ansetzen wie einst der heilige Franz.
Die kleinen Gänge, nah beim anderen, horchend, lauschend, gehörten zum Ritual unseres Miteinanderseins. In dieser Zeit, in der die gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um den Erdball zurückkehrten, auch die Kriege, waren sie Orte der Zuflucht vor dem Schiffbruch der Welt. Traumland, in übler Zeit.
Ich hatte eben den Fluss Jll überquert, fuhr zwischen den Tümpeln dahin, gemächlich auf die Brücke zu, da gewahrte ich die stehende Wagenkolonne, verlangsamte das Tempo, reihte mich ein. Die Grenze am Rhein war meist problemlos zu passieren, Kontrollen fanden selten statt, kamen aber gelegentlich vor. Ausgerechnet heute, in der Vorfreude auf den Abend, auf Ina. Ich versuchte, den Klingelton meines Handys zu ignorieren, zögerte, legte die Hand daran, ließ es schrillen. Polizisten schritten die Kolonne entlang, leuchteten mit grellweißen Lampen ins Innere der Wagen. Ich schaute kurz auf das Display hinunter. Die Nummer kannte ich nicht, hörte gleich danach die Nachricht: Zurückrufen. Dringend. Eine panisch verängstigte Stimme. Ich nahm die nächste Ausfahrt: den Rastplatz zum Auen-Wildnispfad, den wir oft als Ausgangspunkt zu einem Bummel genommen hatten, den alten Rhein oder den Mühlbach entlang, in die Dschungelwildnis hinein, an Tümpeln und Gießen vorbei.
Ich wählte die Nummer, nach wenigen Sätzen erkannte ich die Stimme. Ich hatte Almut öfter an Inas Seite gesehen, im Sprechgesang zum Cello, eine nahe Freundin. Immer mal zu einem Scherz bereit.
Jetzt ließen die Wörter ihres Staccato mich zusammenzucken. Sieht schlimm aus mit Ina. Ohne Bewusstsein aus dem Wasser geborgen. Gerettet. Wiederbelebungsversuche, presste sie noch heraus. Ihre Stimme zitterte, ging in einen unverständlichen Wortschwall über, der kein Nachfragen zuließ, bis sie in Tränen ausbrach und abbrach.
Ich stand ans Auto gelehnt, benommen, vor den Kopf geschlagen, ließ das Handy in die Tasche gleiten.
Was war geschehen? Atem anhalten. Ein Spiel aus Kinderzeiten. Auch ein Sport. Ich wusste um die Gefahren des Freitauchens, das sie liebte, unter strengen Bedingungen im Verein, mal an einem der Seen, dann und wann als Training in der Halle, Streckentauchen in einem Atemzug: Wer kommt wie weit? Ein Kribbeln. Auch ein wenig Rausch. Aber immer in Begleitung. Überwacht. Kaum je ein Unfall. Eine besondere Erfahrung, sagte sie, besonders in den Seen, in einem der vielen Altwasserseen in der Gegend. Eine Welt von unten.
Ich versuchte zu ordnen, was ich gehört hatte. Kaum hatte ich das Handy losgelassen, fiel mir die Nachricht ein, die mich Tage zuvor erreicht hatte. Ich tippte an und las: »Liebster, der Nachtwind durchkämmt das Gras, greift ins Haar und vernebelt die Sicht. Alles hält ein, bleibt ohne Aussicht. Die Wege gehen zu, verlieren sich im Ungefähren. Und irgendetwas fragt: wie weiter? Überhaupt weiter?«
Ich hatte diesen Worten auch deshalb zunächst wenig Beachtung geschenkt, weil mich dann und wann Nachrichten solcher Art erreichten, als gehörte ein wenig Daseinsüberdruss, der auch mir nicht fremd war, zu Inas gelegentlichen Gemütslagen.
Hatte ich überhört, was sie mir sagen wollte? Manchmal nahm ihr Reden einen rauchigen Tonfall an, wies auch einen Zug zum Monologischen auf, bekam einen dunklen Sog.
Ich taumelte, verharrte unschlüssig, statt loszurasen. Die Wörter wirbelten in meinem Kopf. Der Aufruhr in der Halle, der Schreck in den Gesichtern, die reglose Gestalt Inas. Almuts Stammeln hatte etwas schneidend Kantiges gehabt, die Entsetzensschreie, das Heulen der Sirenen – ein Sperling hüpfte vor mir über den Kies, schnappte nach Krümeln oder Würmern, flog auf, Richtung Strom, hinter dem sich schwarz die Berge abhoben. Diesmal hat die heilige Odilia nicht geholfen. Das sagte Ina nach einem schweren Sturz mit dem Fahrrad vor zwei Jahren. Sie war für Minuten ohne Regung geblieben, aber rasch wieder bei Bewusstsein. Mit Schürfwunden und Rippenquetschungen glimpflich davongekommen. Für den Moment hatte ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck angenommen.
Keine Angst vor dem Freitauchen, ein Sport mit Vorsicht geübt, einer schwimmt, einer schaut. Ich werde schon achtgeben, hatte sie beteuert. Hatte ich ihren Beschwichtigungen zu leichtfertig vertraut?
Und jetzt?
Wieder hörte ich Almuts Stimme.
Aufgefischt wie eine Ertrunkene.
Die Worte der Freundin drangen gepresst durch das Schluchzen, bis sie erneut darin erstickten.
Ich stand noch immer wie gelähmt, statt endlich mich auf den Weg zu machen. Ein Lichterbaum beim Aufgang der Brücke. Bald Advent, dann Weihnachten. Ein Zittern durchfuhr mich, dann setzte ich mich hinters Steuer. Noch bevor ich losfahren konnte, erreichte mich ein weiterer Anruf. Es war Frank, Almuts Freund. Die Ambulanz hätte Ina bereits ins Kreis-Klinikum überführt, in die Notfallstation. Ich solle mich dorthin begeben. Hier in der Halle sei die Gendarmerie mit der Abklärung der Umstände beschäftigt, Almut und die anderen würden befragt, besonders Thilo, der Aufsicht hatte.
Der Abendverkehr hielt sich in Grenzen; ich kam unerwartet schnell voran. Ich hatte Ina schon einmal ins Klinikum gebracht wegen Unterkühlung nach einer langen...
| Erscheint lt. Verlag | 14.4.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Anerkennungsbeitrag Literatur des Kantons Zürich 2014 • Angst • Apnoe-Tauchen • Bücher Neuerscheinung • Cello • Erinnerung • Europa: Gebirge Berge Ebenen Küstenstreifen usw. • Europa: landschaftlich • Freitauchen • Koma • Krankenbett • Krankenhaus • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2017 • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2021 • Liebe • Natur • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Reisen • Schwarzwald • Schwimmen • Trauer • Verlust • Wandern |
| ISBN-10 | 3-518-78207-X / 351878207X |
| ISBN-13 | 978-3-518-78207-1 / 9783518782071 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich