Tage aus Glas (eBook)
304 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0824-0 (ISBN)
Zwei junge Frauen, zwei Welten und ein Traum vom besseren Leben
Düsseldorf im Jahr 1901. Im Deutschen Reich streiken die Glasmacher. Auch die Arbeiter der Gerresheimer Glashütte, weltweit führend in der Flaschenproduktion, löschen die Öfen - mit dramatischen Folgen.
Bille, Tochter eines Flaschenmachers, träumt davon mit ihrem Geliebten Adam nach Amerika auszuwandern. Doch Adam wird zum Streikbrecher, während Billes Familie für den Streik alles riskiert.
Leonie ist die Tochter des Arztes der Glashütte und lebt eingezwängt in großbürgerliche Konventionen. Die begabte junge Frau sucht die Nähe zur künstlerischen Bohème, doch ihr Vater hat andere Pläne.
Am selben Ort, in unterschiedlichen Welten kämpfen Bille und Leonie um Selbstbestimmung und ihre Träume von einem besseren Leben. Und müssen entscheiden, welchen Preis sie dafür bezahlen wollen.
Eindringlich erzählt Dorothee Krings von zwei Frauen um 1900, von Hoffnungen und Träumen, schicksalhaften Wendungen - und dem Leben, das seinen eigenen Regeln folgt.
Ein gänzlich unberührtes historisches Setting: Neue Einblicke in die deutsche Geschichte der Glasmacherei.
<p>Dorothee Krings, 1973 geboren, wuchs in Mönchengladbach in einer Goldschmiedefamilie auf und erlernte selbst das Handwerk. Sie hat Journalistik studiert, arbeitet als Politikredakteurin bei einer Tageszeitung und hat Sach- und Reportagebücher geschrieben. 'Tage aus Glas' ist ihr erster Roman. Sie wohnt mit ihrem Mann in Düsseldorf.</p>
2
In jenem Sommer stieg ein Glasmacher allein den Weg vom Sandberg nach Gerresheim hinab. Es war am Morgen, das Licht noch grau von der Nacht. Der junge Mann ging leicht gebeugt, groß und schlaksig war er, und hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen. Sein Bündel trug er unter den Arm geklemmt und seine Fäuste hatte er tief in die Taschen versenkt. Sein Blick war wach und gutmütig. Keiner von denen, die Streit suchen.
Adam schritt mit Eile gegen die Frühe und das flaue Gefühl in seinem Magen an, blieb jedoch abrupt stehen. Sein Weg hatte ihn an die Abbaukante des Sandbergs geführt. Der lichte Wald, durch den er eben noch gewandert war, endete, und es ging viele Meter senkrecht in die Tiefe. Adam beugte sich über die Klippe und betrachtete die Farben der Sandschichten, die man abgetragen hatte. Eine so gewaltige Abbaustelle hatte er noch nie gesehen. Die Klippe sah aus, als habe ein Riese seine Zähne in die Landschaft geschlagen und den halben Berg verschlungen.
Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte der junge Glasmacher die Spuren der Sandträger, die an diesem Abhang gearbeitet haben mussten, und hatte bald einen Weg für sich ausgemacht. Ganz ungefährlich wäre der Abstieg nicht, die Trampelpfade schienen nicht mehr in Gebrauch und waren hier und da verschüttet. Doch weiter unten mündeten sie in einen Hohlweg, der schnurstracks Richtung Düsseldorf führte. Wenn er sich hinunterwagte, konnte er ein gutes Stück Weg abkürzen und wäre früher an der Hütte in Gerresheim. Adam hatte mit sich ausgemacht, bis Sonnenaufgang dort zu sein.
Der Glasmacher ging an der Abbruchkante entlang bis zu jener Stelle, wo tief unter ihm ein schmaler Vorsprung begann. Er setzte sich, warf sein Bündel hinunter, beobachtete, wie es mit einem dumpfen Schlag im Sand landete. Noch einmal ließ Adam den Blick in die Ferne schweifen. Im blassen Licht des anbrechenden Morgens suchte er nach jener Stelle am Horizont, wo die Schlote der Glasfabrik wie Zinken einer Harke in den Himmel ragten. Er kniff die Augenlider fester zusammen und versuchte, die Kamine zu zählen. Der Werber hatte nicht übertrieben. Vor ihm kauerte ein fettes Biest im Tal und schnaubte seinen Kohleatem in die Landschaft.
Nur ärgerlich, dachte Adam, dass er nicht gleich unterschrieben hatte. Schon öfter hatte ihn sein Zögern um Vorteile gebracht. Doch er hatte dem Werber nicht getraut. Der Kerl hatte blank geputzte Stiefel getragen und an seiner Weste eine goldene Uhrkette. Wer setzte sich so zu Glasmachern in die Kneipe? Und dann hatte er noch getan, als erzähle er rein zufällig von der großen Hütte im Westen und all den Vorteilen, die Glasmacher in Gerresheim hatten. Werkswohnung, Garten, Viehstall, Schweineversicherung und was nicht alles. Dabei hatte jeder gewusst, dass der Kerl ein Werber war. War ja nicht der erste in der Gegend. Natürlich hatte er noch am Abend Verträge aus der Tasche gezogen. Man hatte nur unterschreiben müssen und einen Vorschuss für die Reise bekommen, sofort ausgezahlt gegen Quittung. Bruno hatte das Geld genommen und sich gleich am Sonnabend auf den Weg gemacht. »Wir sehen uns!«, hatte er zum Abschied gesagt, so sicher war er gewesen, dass sein Freund nachkommen würde. Doch Adam hatte sich nicht entschließen können. Hatte auch nicht gewusst, ob das Rheinland günstig lag auf dem Weg aus dem Isergebirge zur Küste. Schließlich wollte er nicht mehr viel Zeit verlieren.
Doch in den Wochen darauf hatte er immer wieder von Glasmachern gehört, die gen Westen zogen, zur großen Hütte vor den Toren Düsseldorfs, und allmählich hatte ihm geschwant, dass der Werber womöglich nicht übertrieben hatte. Sein Freund Bruno hatte mal wieder den richtigen Entschluss gefasst, ohne groß zu überlegen. Da hatte sich auch Adam auf den Weg gemacht – ohne Vorschuss. Und ohne Garantie, dass er in Gerresheim überhaupt noch Arbeit bekommen würde.
Adam dachte an den Kaffee, den es an der Hütte geben sollte, so viel man wollte. Echten Bohnenkaffee, hatte der Werber versprochen. Wäre ihm lieber als das laue Bier, das es sonst überall gab. Das machte nur müde. Schon hatte Adam den Duft von gebrannten Bohnen in der Nase. Was hätte er jetzt für einen dampfenden Becher gegeben und dazu eine Kante Brot mit Schmalz? Die Nacht hatte er im Schankraum eines Gasthauses zugebracht. Erst spät am Abend war er dort angekommen und hatte von seinen letzten Groschen einen Krug Bier bestellt. Als die letzten Säufer in der Nacht gegangen waren, hatte der Wirt ihn kehren lassen. Dafür bekam er die Bank am Fenster. Reste aus der Küche hatte man ihm nicht angeboten. Und Adam war keiner, der fragte. War nun schon ein paar Tage her, dass er etwas Warmes in den Magen bekommen hatte. Im Morgengrauen hatte der Hunger ihn geweckt, da war er gleich wieder losmarschiert. Hatte sich geschworen, bis zum Schichtbeginn an der Hütte zu sein, und dann wäre es vorbei mit dem Hunger! Noch einmal blickte er zu den fernen Umrissen der Fabrik und sprang hinunter auf den Pfad.
Die Hütte erreichte Adam Malek mit Beginn der Frühschicht. Noch ehe die Sonne senkrecht in die schwarzen Schlote schien, hatte man ihn als Einleger angestellt. Nun stand er hinter einem der neuen Öfen und musste die Zutaten fürs Glas von einer staubigen Halde in die Glut schaufeln. Wie er den Schieber mit dem eisernen Arm bedienen musste, hatte man ihm schnell erklärt, doch die Hitze so dicht vor der offenen Glut war unerträglich. Immer wieder ließ Adam seinen Schieber los, drehte den Oberkörper nach hinten und rang nach Luft. Die Männer neben ihm grinsten und schaufelten weiter, als spürten sie die Hitze nicht. Doch Adam konnte es ihnen nicht nachtun. Das Feuer aus dem Ofen loderte in seiner Lunge und brannte auf seiner Haut. Bald schmerzte ihn jeder Atemzug, und sein Blick war weiß vom Licht. Doch er schaufelte weiter, sah kaum noch, was er tat, versuchte durchzuhalten.
Bisher hatte Adam an traditionellen Glasöfen gearbeitet, die für jede Schicht neu befüllt wurden. Dafür gab es flache Becken, die von den Wannenmachern getöpfert wurden. Handlanger schaufelten Rohstoffe und zerbrochenes Glas in diese Becken und schoben sie in die Glut. Erst wenn das Gemenge in den Wannen geschmolzen war, rief man die Flaschenmacher an die Öfen. Adam und seine Kumpel hatten an kleinen Luken gearbeitet, bis die Häfen leer geschöpft waren. Niemand hatte in die offene Glut schaufeln, niemand der Hölle die Stirn bieten müssen.
Doch in dieser Fabrik gab es keine Zeit, um auf die Glasschmelze zu warten. Die Öfen waren in Dauerbetrieb. Darum hatte man sie gebaut wie Tunnel, die von einer Seite befüllt, an der anderen leer geschöpft wurden. Aus den Seitenwänden dieser Tunnel loderten Gasflammen, die das Gemenge von oben befeuerten und den Fluss aus geschmolzenem Glas auf Temperatur hielten. Solche Öfen brauchten ständig Nachschub. Also wurden Männer gesucht, die es in der Hitze aushielten und den ganzen Tag frisches Gemenge in den Glasfluss schaufelten. Alte Säufer mit roten Gesichtern hielten das aus. Und junge Männer wie Adam, die Geld brauchten.
Im Vorbeilaufen hatte er am anderen Ende der Halle die Flaschenmacher gesehen. Sie standen auf hölzernen Podesten, drei, vier Stufen hoch, und schwangen ihre Pfeifen, lange Metallrohre, die ihnen so vertraut in den Händen lagen, als seien sie ein Teil ihrer selbst. Auf ihrer Seite des Tunnels waren die Öfen zugemauert, und die Männer arbeiteten an Luken, wie Adam sie kannte. Auch davor war es so heiß, dass den Püstern die Wimpern wegschmorten und der Schweiß ihnen aus jeder Pore drang. Aber daran konnte man sich gewöhnen. Die Männer legten sich feuchte Lappen in den Nacken, rieben sich den Schweiß aus dem Gesicht und schufteten weiter.
Am liebsten wäre Adam gleich zu den Flaschenmachern auf das Podest geklettert. Er kannte ihre Bewegungen, sah jetzt vor sich, wie sie ihre Pfeife in den Ofen tauchten, einen Pfropfen Glas, das Külbel, aus dem glühenden Strom schöpften, die Pfeife in die Luft schwangen, die Wangen blähten und mit kurzem Druck einen hohlen Kern in den heißen Pfropfen pusteten. Mit ihrem Atem dehnten sie das Külbel, bis es dunkler wurde, kälter, härter. Dann schoben sie das Pfeifenende mit dem Külbel zurück in die Hitze des Ofens, um es erneut geschmeidig zu machen, und zogen es hell glühend wieder heraus. Sah man ihnen länger zu, wirkte das alles wie eine einzige Bewegung, wie ein Schwingen, das, einmal in Gang gesetzt, niemals erlahmt.
War der hohle Kern genügend gewachsen, traten die Glasmacher an den Rand der Bühne, blähten die Wangen wie Frösche, beugten sich vornüber und drückten mit ihrer Puste das Glas in die eisernen Flaschenformen am Boden. Da unten hockten schon die Zuträger, flinke Jungs, die ihren Vätern mit acht, neun Jahren in die Fabrik gefolgt waren. Sie hatten gelernt, die glühenden Flaschen mit gewässerten Zangen aus den Formen zu greifen und schleunigst in den Kühlofen zu tragen. Wenn sie träumten, Schabernack trieben oder einen Rohling fallen ließen, bekamen sie einen Hieb von oben. Der Peitsche eines Flaschenmachers entkam man nicht. Die Püster hatten keine Zeit zu verlieren, sie wurden fürs Flaschenhundert bezahlt. Die guten schafften 200 Flaschen in einer Schicht, die besten 250. Im Akkord pressten sie sich die Puste aus ihren Leibern, und ihr Schweiß bildete Salzränder in ihren Hemden. Wie sehr die Frauen daheim auch schrubbten, nach jeder Wäsche tauchten die weißen Kränze wieder auf. Gewellte Linien wie Lebensringe von Bäumen.
Der kurze Blick im Vorübergehen hatte Adams Sehnsucht geweckt. Ohne zu zögern, hätte er sich einreihen können bei den Männern vor dem...
| Erscheint lt. Verlag | 25.3.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Auswanderung • Deutsche Geschichte • Deutsches Reich • eintauchen • Entscheidung • Freud und Leid • Gewerkschaft • Glasmacher • Glasmacherstreik • Leben für Familie • Leben für Träume • Peter Prange • pflichtbewusstsein • realistisch • Schicksal • Schicksal zweier Frauen • Streikende • Träume erfüllen • Zwanzigstes Jahrhundert • Zwei-Klassen-Gesellschaft • Zwischen den Stühlen stehen |
| ISBN-10 | 3-7499-0824-9 / 3749908249 |
| ISBN-13 | 978-3-7499-0824-0 / 9783749908240 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich