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Blaufalter - Sascha Michael Campi

Blaufalter

Kriminalroman
Buch | Softcover
168 Seiten
2025 | 1. Auflage
Neptun Verlag
9783858203755 (ISBN)
CHF 24,90 inkl. MwSt
Die Berner Regionaljournalistin Linda Stahl will in die Fussstapfen ihres Grossvaters, dem Bestsellerautor Maximilian Stahl, treten, indem sie ebenfalls als Buchautorin durchstartet. Für ihren ersten Kriminalroman recherchiert sie über die ehemalige Jugenderziehungsanstalt Aarburg, eine Festung im Kanton Aargau, in der einst auch ihr Opa einst eingesperrt wurde. Als Maximilian Stahl zu Beginn der Recherchen brutal ermordet wird, macht sich Linda auf die Suche nach dessen verschwundenen Manuskript «Blaufalter», dass ihr Opa als junger Mann, eingesperrt in der Festung, verfasst hatte und das ihm dann auf brutale Art und Weise vor seiner Entlassung in die Freiheit geraubt wurde.
Ein Kriminalroman, der auf wahren Begebenheiten beruht.
Die Berner Regionaljournalistin Linda Stahl will in die Fussstapfen ihres Grossvaters, dem Bestsellerautor Maximilian Stahl, treten, indem sie ebenfalls als Buchautorin durchstartet. Für ihren ersten Kriminalroman recherchiert sie über die ehemalige Jugenderziehungsanstalt Aarburg, eine Festung im Kanton Aargau, in der einst auch ihr Opa einst eingesperrt wurde. Als Maximilian Stahl zu Beginn der Recherchen brutal ermordet wird, macht sich Linda auf die Suche nach dessen verschwundenen Manuskript «Blaufalter», dass ihr Opa als junger Mann, eingesperrt in der Festung, verfasst hatte und das ihm dann auf brutale Art und Weise vor seiner Entlassung in die Freiheit geraubt wurde.

Ein Kriminalroman beruhend auf wahren Begebenheiten, gefolgt von einem Fachteil, der die einst diabolischen Verhältnisse in der Aarburger Festung erstmals unverblümt darstellt. Dr. Werner Disler, der heute als Psychotherapeut und Psychoanalytiker tätig ist, hat vor seinem Studium als Sozialarbeiter in der Festung Aarburg gearbeitet. In diesem Buch schildert er Jahrzehnte später erstmals ausführlich, was für schreckliche Ereignisse sich auf dieser Festung des Bösen abgespielt haben.

Sascha Michael Campi, geboren 1986 in Aarau. Als Krimiautor und Kolumnist, spezialisiert auf die Themen „Crime & Art“, im In- und Ausland tätig. Mitglied des Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Vereins sowie im Syndikat, dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Sein Herz schlägt für Sport, Fitness, Literatur, seine zwei Katzen und die Stadt Bern.

Werner A. Disler, geb. 1947, Eidg. anerkannter Psychotherapeut, schreibt seit über 40 Jahren über Psychotherapie, Pädagogik und deren kritische Reflektion in der Praxis. Er praktiziert in Zürich eine erlebensorientierte Psycho- und Traumatherapie in der Tradition der modernen Psychoanalyse (Objektbeziehungstheorie, relationale Psychotherapie, Analytische Psychologie und Selbstpsychologie.

Mit «Blaufalter» legt der Berner Krimiautor Sascha Michael Campi ein Werk vor, das unter die Haut geht. Inspiriert von wahren Begebenheiten, beleuchtet er die dunkle Geschichte der ehemaligen Jugenderziehungsanstalt Aarburg – und verwebt sie mit einem fesselnden Kriminalfall, der die Leserinnen und Leser nicht loslässt.“ (Neue Oltner Zeitung)

Prolog 1968 in der Festung Aarburg Sie haben mir gesagt, es würde nicht so schlimm sein, doch das können nur solche behaupten, die niemals hier eingesperrt wa-ren. Der Raum, in dem ich sitze, ist rund fünf auf fünf Meter klein. Die Zimmertür wurde vor einigen Minuten geschlossen, und das Einzige, was mir bleibt, sind einige Papiere und meine Stifte, mit denen ich schreiben darf. Man sagte mir beim Eintrittsgespräch, dass man mich formen werde. Mein Dasein würde danach einen Wert bekommen, indem ich nach meinem Aufenthalt hier ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein dürfe und bestimmt eine Stelle als Handwerker erhalten würde. Ob ich das möchte, das wurde ich nicht gefragt. Noch vor zwei Tagen war meine Welt unperfekt, doch lebens-wert. Meine Eltern leben am Rande von Aarburg in einem kleinen Bauernhaus. Sie haben stets versucht, mir so viel wie möglich beizubringen, damit ich eigenständig im Leben klar-komme. Das Lesen habe ich bereits früh erlernt, und seit ich die Buchstaben beherrsche, verschlinge ich jedes Buch, an das ich herankomme. Mein Leben besteht aus Armut, aber nicht aus Unglücklichsein. Wir sind eine gewöhnliche Arbeiterfamilie, die vieles hat, außer Geld. Meine vier Geschwister, die allesamt jünger sind, helfen beim Anbau von Gemüse ebenso mit wie ich. Trotz all unserer Bemühungen können wir die Ernte nicht steuern, und es gab bereits öfter unschöne Phasen, meist witterungsbedingt, in denen wir nichts zu essen hatten. Bereits unzählige Male habe ich mich daher auf den Dorfmarkt geschlichen, um einiges an Obst, Käse und Brot zu ergaunern. Meine Eltern habe ich stets angelogen, dass ich auf dem Markt einen Händler geholfen habe und für die Mithilfe mit den Ess-waren belohnt worden sei. Vorgestern geschah es dann. Ich begab mich einmal mehr auf den Markt im Städtchen. Der Stand ganz am Rande stach mir direkt ins Auge, denn er war neu. Der Händler war mir unbekannt, seine Handelsware allerdings nicht. Selten habe ich so viele Bücher auf einmal gesehen. Unglaublich, was für großartige Werke darunter waren, von denen ich noch nie gehört hatte, die ich jedoch alle lesen wollte. Der Buchhändler schielte mich bereits von der Seite an, als ich mich seinem Stand näherte. Als ein potenzieller Kunde an ihn herantrat, wich sein Blick von mir weg. Dass ein Junge ein Buch stiehlt, hielt er wohl für unwahrscheinlich, da die meisten meiner Generation kaum lesen können und ihre Diebestouren, wenn überhaupt, auf Essbares konzentrierten. Nicht, dass ich hätte stehlen wollen, nein, das war nicht meine Absicht. Mein Interesse galt allein den Büchern. Ich schaute mich auf den bücherbeladenen Tischen um. Dann stach es mir ins Auge: «Die Physiker» vom Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt. Die Geschichte über einen Kernphysiker, der eine gefährliche Formel entdeckt hat und dann ins Irrenhaus flüchtet, wo er den Irrsinn vorspielt. Ich habe meinen Vater davon sprechen hören. Das Buch wurde vor Kurzem in einer Zeitung hochgelobt. Dann der Schock: Das Buch kostete vier Franken! Unerschwinglich für mich. Der Händler war noch immer mit seinem Kunden ins Gespräch versunken, also ließ ich das Buch unauffällig in meinem Bündel verschwinden. Der Buchhändler bekam nichts davon mit, doch der Obsthändler von nebenan, den ich nicht beachtet hatte. Mit festem Griff hielt er mich an der Schulter fest, als ich davonlaufen wollte. Sofort informierte er den Buchhändler und anschließend den dazukommenden Dorfpolizisten. Als Dieb und Taugenichts wurde ich von allen dreien bezeichnet. Der Dorfpolizist brachte mich nach einer Standpauke nach Hause. Meine Eltern waren schockiert, als sie mich in Begleitung des Polizisten sahen. Am Abend kam ein Mann zu uns auf den Hof, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich musste im Kinderzimmer verweilen, während er mit meinen Eltern ein ernsthaftes Gespräch führte. Ich lauschte an der Tür und bekam vereinzelte Worte und Sätze mit wie «Es ist nur zu seinem Besten», «Wir werden ihn umerziehen», «Denken Sie an seine Zukunft», «Sie wollen doch nicht, dass er für den Rest seines Lebens im Gefängnis endet». Ich verstand an diesem Abend nicht, was da vor sich ging. Noch weniger verstand ich am Folgetag, als meine Eltern mir eine Tasche mit Kleidern bereitstellten. Bereits nach dem Frühstück kam der Dorfpolizist in Begleitung des Unbekannten zurück. Es wäre nun Zeit, mich zu formen, so die Begrüßung des Fremden. Meine Mutter begann zu weinen, und mein Vater klopfte mir auf die Schulter. Was soll das, fragte ich mich. Es war nur ein Buch, oder? Meine Mutter legte mir Papier und Stifte in die Tasche, denn sie wusste, dass ich gerne Gedichte und Geschichten schrieb. Wieso Mami weinte, wusste ich zuerst nicht, doch als sich meine Eltern und Geschwister von mir verabschiedet hatten, erkannte ich, dass ich nun an einen Ort verfrachtet wurde, an den ich nicht gehörte. Das erinnerte mich an Dürrenmatts «Der Physiker», denn ich fühlte mich wie ein psychisch Gesunder, der ins Irrenhaus ein-geliefert werden sollte. Nun sind keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und ich sitze hier in einem Viererzimmer, das eher einer Zelle ähnelt. Es ist meine erste Nacht in dieser Anstalt. Die drei anderen schlafen bereits, obwohl das Licht an ist. Sie sind hundemüde von der Arbeit, die sie außerhalb der Festung auf dem Straßenbau verrichten mussten. Geschlafen habe ich bislang keine Minute, seit ich hier bin. Wie auch, in dieser Besenkammer, eingesperrt mit drei Fremden? Ich habe Angst, und ich vermisse meine Familie. Als ich beim Abendessen nicht aufgegessen habe, hat mir einer der Erzieher eine Ohrfeige verpasst. So etwas kannte ich bisher nicht, denn meine Eltern hatten mich nie geschlagen. Ab morgen werde ich mitgenommen, um Feldarbeit zu leisten. Es sei wichtig für mich, dass ich mich körperlich stärke, um in Zukunft für den Arbeitsmarkt von Nutzen zu sein, sagte man mir. Man habe bereits Jahrzehnte zurück in dieser Anstalt die Jungen geformt. So mancher durfte nach seinem Aufenthalt in der Festung als Magd oder Knecht arbeiten und musste nicht auf der Straße leben. Mich würde man in den kommenden Jahren zum Handwerker formen. Bereits das Wort „formen“ stört mich, aber wen interessiert schon, was ich denke, geschweige denn, was ich möchte. Hätte ich die Wahl, würde ich Schriftsteller werden. Ich würde Geschichten aus dem Leben erzählen, darunter traurige, schö-ne, romantische, tragische, was immer mir das Leben offenbart. Mein Blick wandert zum Fenster, durch das gerade ein blauer Falter hineinfliegt. Ich erstarre und bewundere ihn. Nicht allein wegen seiner Schönheit, sondern auch wegen seiner prachtvollen Flügel, die es ihm ermöglichen, zu reisen, wohin immer er will. Das muss Freiheit sein, denke ich, als er neben mir auf meinen leeren Papieren neben den Stiften landet. Warum nicht heute, an meinem ersten Tag in dieser Hölle, mit dem Schreiben beginnen? Vielleicht ist es mein Schicksal, hier zu sein, um Erfahrungen zu sammeln, um zu beobachten, zu dokumentieren und daraus mein erstes Buch zu erschaffen. Sollen mich die Erzieher doch formen, wie sie wollen, im Verborgenen forme ich mich selbst. Ich beobachte den blauen Falter, wie er sich wieder davon-macht. Dann greife ich mir einen Stift und beginne, meine Gedanken und meine Situation niederzuschreiben. Tag für Tag werde ich weiterschreiben … Auch wenn ich gefangen bin, so sind und bleiben meine Gedanken dem Falter ähnlich – und somit frei.   1 2025, Bern, Altstadt Maximilian Stahl hat soeben seine allmorgendliche Joggingrun-de absolviert. Mit seinen 72 Jahren fühlt er sich noch immer pudelwohl. Der Sport hat ihn ein Leben lang begleitet, genauso wie seine Leidenschaft für Literatur und Schriftstellerei. Maximilian hat in seinem Leben mehrere Romane geschrieben und war jahrelang als Investigativjournalist unterwegs. Nach der Morgendusche kocht er sich seinen obligaten Kaffee. Nicht irgendeinen Kaffee, sondern seine Lieblingsmischung aus der Dominikanischen Republik. Heute ist er früher dran als gewöhnlich, denn seine Enkelin Linda hat sich gestern telefonisch zum Besuch angemeldet. Max ist seit zwei Jahren Witwer. Nach einer monatelangen Trauerphase hat er sich wieder aufgerafft und genießt jeden Tag, als wäre es sein letzter. Linda kommt ihn regelmäßig besuchen, seit zwei Jahren noch mehr, was Max zwar freut, bis auf den Moment, wenn sie auf ein Altersheim zu sprechen kommt; dann blockt er ab und fordert Linda meist zum Gehen auf. Max hat sich geschworen, bis zu seinem Ableben eigenständig und frei zu bleiben. Nie wird er einen Fuß ins Altersheim set-zen, geschweige denn seinen Hintern dort für den Rest seines Lebens platzieren. Gut gelaunt setzt er sich auf seinen kleinen Altstadtbalkon, von dem aus er das morgendliche Treiben der Bernerinnen und Berner beobachtet. Das Rauchen ist ein Laster, das Max nie losgeworden ist, auch wenn er seinen Zigarettenkonsum auf zehn pro Tag beschränkt hat. Mit einem Glimmstängel zwischen den Lippen rührt er im dickflüssigen Kaffee. Über dem Balkon kreisen Vögel, die friedlich und gut gelaunt vor sich hin zwitschern. Max liebt es, auf diese Weise in den Tag zu starten. Nur wer einst die Dunkelheit erlebt hat, weiß das Helle wahrlich zu schätzen – eine seiner Weisheiten, die er gern an andere weitergibt. Max spricht nie viel über seine Vergangenheit. Alles, was vor seiner Ehe und dem Familienleben war, hat er in eine innere Box verfrachtet und im See namens „Vergessen“ versinken lassen. Gerade als Max an seinem Kaffee nippen will, klingelt es an der Tür. Behutsam stellt er das Heißgetränk auf dem kleinen runden Balkontisch ab, dann macht er sich auf den Weg durch den Flur zur Haustür. „Hallo Opa, bist du da?“, ruft Linda durch den Eingang. Max lächelt über die Ungeduld seiner Enkelin, dreht den Hausschlüssel und öffnet ihr die Tür. „Guten Morgen, Linda. Was schreist du denn hier so rum? Klar bin ich da, wir haben ja schließlich abgemacht.“ Linda beteuert, dass sie sich Sorgen gemacht habe, ihm sei viel-leicht etwas zugestoßen. Max weist sie mit einem Lächeln auf sein Alter hin und darauf, dass er zwar noch täglich joggen gehe, aber trotzdem nicht mehr der Schnellste sei. Linda schenkt ihm eine Umarmung, dann holt sie sich, wie bei jedem ihrer Besuche, eigenständig einen Energy-Drink aus dem Kühlschrank. Max mag diese Dosengetränke nicht, doch kauft er Linda zuliebe immer welche auf Vorrat. „Wie geht es meiner Lieblingsenkelin denn so?“, fragt Max, während sie sich auf den Balkon begeben. „Deiner einzigen Enkelin geht es gut.» Sie grinst und gesteht: «Ich bin heute ehrlich gesagt nicht grundlos hier.“ Max runzelt die Stirn. „Ich bin nicht reich, aber ich kann dir bestimmt etwas leihen. Wie viel brauchst du?“ „Ach, Opa, nein, es geht nicht um Geld. Ich habe etwas Besonderes vor und möchte es dir persönlich anvertrauen.“ Max verdreht die Augen. Jeder, der ihn kennt, weiß, dass er kein Fan von Überraschungen ist, was einer der Gründe ist, weshalb er sich an seinen Geburtstagen stets auf Wanderschaft begibt. Er steht nicht gern im Mittelpunkt. Bereits als Buchautor war es ihm unangenehm gewesen, Lesungen zu halten oder einem Reporter ein Interview zu geben. „Bist du schwanger?“ „Opa! Nein, das bin ich nicht. Also … nicht, dass ich wüsste.“ Max verdreht die Augen. „Die frohe Nachricht ist, dass ich beschlossen habe, in deine Fußstapfen zu treten“, löst Linda überschwänglich die Überraschung auf, als hätte sie gerade die Lottozahlen erraten. Max lächelt. „Das machst du ja schon länger. Du bist eine wunderbare Regionaljournalistin. Hast du nun vor, in den In-vestigationsjournalismus zu wechseln, oder wie darf ich dich verstehen?“ „Nein, das nicht. Ich werde ein Buch schreiben. So wie du!“ Max verschluckt sich am Kaffee. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte unzählige Romane geschrieben, einige davon landeten auf der Schweizer Bestsellerliste, einer sogar auf der europaweiten. Es überraschte ihn schon, als Linda sich für Journalismus zu interessieren begann, obwohl ihre Eltern, die seit einer Weile geschieden sind, beide in der Medizinbranche gelandet waren. Dass sie nun auch noch als Schriftstellerin durchstarten will, rührt Max beinahe zu Tränen. „Das ist wunderbar, Linda. Hast du denn schon eine Idee, wo-von dein erstes Buch handeln soll?“ „Oh ja. Ich will über ein Thema schreiben, bei dem du mir eventuell behilflich sein könntest. Opa. Du hast immer zu mir gesagt, dass die besten Romane auf wahren Begebenheiten basieren. Und dabei ist mir aufgefallen, dass du ein Thema stets gemieden hast …“ Max befürchtet nichts Gutes. „Und was habe ich deiner Mei-nung nach gemieden?“ Linda blickt in den Himmel zu den Vögeln, die zwitschernd ihre Kreise ziehen. „Na, du weißt schon, du redest selten darüber …“ Max schweigt und hofft, dass er sich in seiner Vermutung irrt. „Ich habe beschlossen, in einem Kriminalroman die Geschehnisse aus der Erziehungsanstalt Aarburg aufzuarbeiten. Du hast mir selbst erzählt, dass diese Festung ein schrecklicher Ort ge-wesen ist, als du dort drei Jahre lang zwangsweise leben muss-test.“ Max starrt seine Enkelin an. Sie erwidert seinen Blick und ist erstaunt über seine Mimik. „Gefällt dir die Idee etwa nicht, Opa?“ Max rutscht auf dem Balkonstuhl hin und her. Zum ersten Mal wäre ihm das Thema Altersheim lieber. „Linda, dein Eifer in allen Ehren, aber gewisse Geschichten sollte man nicht erzählen. Ich finde es großartig, dass du ein Buch schreiben willst und unterstütze dich gerne dabei, doch …“ „Du hast die Berner Zeitung noch nicht gelesen, oder?“, unter-bricht ihn Linda und ihr Blick wird traurig. „Nein, wieso?“ Linda streckt ihm die heutige Ausgabe hin. Ein ganzseitiger Artikel, ein großes Foto, und darüber die Überschrift: Linda Stahl, die Enkelin des Bestsellerautors Maximilian Stahl, tritt in seine Fußstapfen. Max reißt die Zeitung an sich. Wie konnte Linda ihm das nur antun? Sie hätte mit ihm darüber sprechen müssen. Ihn zuerst fragen. Das hat er ihr nicht beigebracht, so leichtsinnig und übereifrig zu sein. Max beginnt den Artikel zu lesen. Linda hat den Reportern bereits von ihrer Idee erzählt, die Vergangenheit ihres Opas aufzuarbeiten. Das Thema, das der Bestsellerautor stets mied, dieser Satz stößt ihm besonders auf. „Linda, ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagt Max ruhig, aber bestimmt. In seinem Kopf duellieren sich Erinnerungen und Vorahnungen. Auf so etwas war er alles andere als vorbereitet. So viele Jahre hatte er versucht, Abstand zu gewinnen von all dem, was er durchgemacht hat. Und nun schafft es ausgerechnet seine Enkelin, all die schrecklichen Erinnerungen aus dem See des Vergessens zu bergen und an Land zu ziehen. „Bitte entschuldige, falls ich etwas Falsches getan oder gesagt habe. Ich dachte, du freust dich darüber …“ Max erhebt sich und geleitet Linda zur Tür. Gerne würde er ihr erklären, weshalb ihn ihre Idee so erschüttert, doch er schafft es nicht. Nicht jetzt. „Ich brauche einen Moment für mich allein, Linda“, sagt er leise, er werde sich bei ihr melden, sobald er sich Gedanken über ihr Buchprojekt gemacht habe. Linda schenkt ihrem Großvater eine letzte Umarmung und macht sich mit traurigen Augen und hängenden Armen auf den Nachhauseweg. Sie hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet, nicht mit einem Jubelruf, aber zumindest mit mehr Begeisterung. Kaum ist Linda fort, lässt sich Max in seinen durchgesessenen Polstersessel fallen. Energielos blickt er auf das Bücherregal vor sich, auf dessen oberstem Tablar sich seine eigenen Werke reihen. Nicht lange, und auch Lindas Name würde einen Buchrücken zieren. Max hat nie viel aus seiner Jugend erzählt, und das ganz bewusst. Eines Tages, nach ein paar Gläsern Wein, hat er seiner Familie erstmals von seiner Zeit in der Erziehungsanstalt Aarburg erzählt. Nicht einmal seiner Ehefrau hatte er bis dahin auch nur ansatzweise etwas berichtet. Und nach jenem Familienfest ließ er sich nie wieder auf das Thema ein. Umso mehr erstaunt es ihn, dass Linda als Kind einiges mitbekommen und offenbar nicht vergessen hat. Max streicht sich mit der Hand durchs graue Haar, dann greift er zu seinem Smartphone.  2 Es klingelt noch immer. Max wird langsam unruhig. Komm schon, nimm endlich ab. Die Erinnerungen aus der Vergangenheit prasseln nacheinander auf ihn ein wie ein Platzregen im Sommer, dem man nicht entkommen kann. Endlich, denkt er, als sein bester Freund Harry den Anruf entgegennimmt. „Der Bestsellerautor himself. Was verschafft mir die Ehre?“ „Ich habe dich schon aus erfreulicheren Gründen angerufen“, gesteht Max gleich zu Beginn. Am anderen Ende der Leitung ertönt ein lautes Lachen. Es sei normal, dass in diesem Alter nicht mehr alles funktioniere. Er kenne da eine wundervolle Pille, mit der man sich umgehend drei Jahrzehnte jünger fühle. Ungewollt muss Max schmunzeln. So kennt er seinen besten Freund: immer für einen Spaß gut, auch wenn oft mehr Wahr-heit hinter seinen Späßen steckt, als man sich wünscht. Max kommt direkt auf den Punkt und beginnt, Harry von Lin-das Besuch und ihrer Idee, ein Buch zu schreiben, zu erzählen. Harry hört gespannt zu, bis Max ihm alles berichtet hat. „Naja, ich weiß nicht so recht“, sagt er. „Vielleicht hat Linda nicht unrecht, wenn sie die damaligen Geschehnisse aufarbeiten will. Ich meine, sie hat das gleiche Blut wie du. Sie ist eine Herz-blutjournalistin. Schlussendlich hast du damals selbst ein Manu-skript verfasst … Blaufüßler, oder wie hieß das noch mal?“ „Blaufalter“, korrigiert Max. „Ja, das stimmt. Und wir wissen beide, was für Ärger es uns hätte einbringen können, wäre das jemals an die Öffentlichkeit gelangt.“ Harry gibt seinem Kumpel recht, beteuert aber zugleich, dass das Jahrzehnte zurückliegt. Ein Großteil der ehemaligen Zög-linge würde höchstwahrscheinlich nicht mehr leben. Und das, was Max befürchte, dass etwas an die Oberfläche geraten könn-te, das würde sowieso niemand ausplaudern. Davon sei er über-zeugt. Außerdem wüssten sie beide genau, wer damals das Ma-nuskript gestohlen hatte, und weshalb. Das Blaufalter-Manuskript sei bestimmt vernichtet oder so gut versteckt wor-den, dass es nie an die Öffentlichkeit gelangen werde. „Also findest du, ich sollte es Linda nicht ausreden?“ „Ich finde, du solltest Linda nicht nur nicht davon abhalten, sondern sie unterstützen. Jetzt ist es eh schon in den Medien breitgetreten worden. Nun weiß jeder, dass du einer der Sträf-linge oder Zöglinge, wie auch immer man es damals nannte, warst. Wir haben viel durchgemacht damals, mein Freund. Das weißt du genau. So etwas hätte nie geschehen dürfen!“ Es klingelt erneut an der Haustür. „Erwartest du Besuch?“, erkundigt sich Harry. „Nein. Das wird Linda sein. Sie hat bestimmt ein schlechtes Gewissen, weil sie mich vor dem Interview mit der Berner Zeitung nicht gefragt hat, ob ich einverstanden bin, wenn sie dort ein Interview gibt. Ich rede mit ihr und rufe dich später an, mein Freund. In Ordnung?“ „Ja, klar. Und falls du noch Pillen brauchst, mein Dealer kann dir …“ Max drückt den roten Button und beendet den Anruf. Dann begibt er sich erneut zur Haustür. Umgehend schließt er das Türschloss auf und drückt die Klinke nach unten. Sein Atem stockt. Sein Blick wird starr. Die Augen, die er zwischen der Skimaske hindurch sieht, kommen ihm bekannt vor, doch das kann nicht sein, denn die Person, an die sie ihn erinnern, ist in seinem Alter, und das ist der sportlich schwarz gekleidete und maskierte Mann vor ihm nicht. Einen Knall kann man es nicht nennen, der Schalldämpfer verhindert ihn. Ein schwarzes Loch ziert Max’ Stirn, bevor es ihn nach hinten auf den Boden schmettert. Kein Zucken, keine Regung mehr. Max liegt tot auf dem Boden. Der Maskierte schraubt den Schalldämpfer von der Waffe, verstaut ihn zusammen mit der Pistole in seiner Seitentasche, dann schließt er die Haustür, zieht sich auf dem Weg die Trep-pe hinunter die Maske vom Kopf und mischt sich draußen unter die Fußgängerinnen und Fußgänger der Berner Lauben, wo er so unauffällig verschwindet, wie er aufgetaucht ist. Linda spielt mit der leeren Red-Bull-Dose. Sie wischt sich die letzten Tränen aus den Augen und ist fest entschlossen umzu-kehren. Sie muss mit ihrem Opa reden und das wieder in Ord-nung bringen. Fast eine Stunde hat sie bei der Kleinen Schanze gebraucht, um zur Ruhe zu kommen. Seit Kindheitstagen ist ihr Großvater ihr großes Vorbild. Sie will nicht, dass er enttäuscht von ihr ist. Und ja, sie hätte zuerst mit ihm sprechen müssen, bevor sie sich an die Zeitung gewandt hat. Eigentlich war es unbeabsichtigt gewesen. Sie hatte ihre Idee einem alten Schulkollegen anver-traut, der sie dann seinem Vater, dem Chefredaktor der Berner Zeitung, weitererzählt hatte, sodass eines zum anderen geführt hatte. Linda rafft sich auf, wirft die Dose in einen Abfalleimer und macht sich auf den Weg zurück zu ihrem Großvater. Sie würde sich bei ihm entschuldigen und wenn nötig auch öffentlich klarstellen, dass sie sich für ein anderes Thema entschieden hät-te. Einige Minuten später steht sie vor dem Altstadtgebäude direkt neben der alten Apotheke. Die Außentür zum Wohnhaus ist wie immer offen. Linda tritt wie gewohnt ein und steigt in den vierten Stock hinauf. Vor der Haustür ihres Großvaters ange-langt, atmet sie nochmals tief durch. Dann drückt sie die Klin-gel. Diesmal muss ich etwas geduldiger sein, sonst hat er gleich noch einen Grund, mich anzuschnauzen. Nach einer Minute reißt Linda der Geduldsfaden, und sie klingelt erneut. „Opa, bist du da?“ Sie lächelt bei dem Gedanken, wie er wahrscheinlich gerade direkt vor der Tür steht, als sie ihn ruft. Behutsam drückt sie die Türklinke herunter. Zu ihrem Erstaunen ist die Tür nicht ver-schlossen. Hat sich Maximilian so sehr aufgeregt, dass er vergessen hat abzuschließen? Linda überkommt bei dem Gedanken erneut ein schlechtes Gewissen. Sie tritt ein.

Erscheinungsdatum
Mitarbeit Kommentare: Werner Disler
Verlagsort Bern
Sprache deutsch
Maße 210 x 140 mm
Gewicht 400 g
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Aargau • Jugenderziehungsanstalt Aarburg • Kriminalroman • Kriminalroman Aargau • Schweizer Kriminalroman • wahre Begebenheiten
ISBN-13 9783858203755 / 9783858203755
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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