Mein Weg als Deutscher und Jude (eBook)
192 Seiten
Wallstein Verlag
9783835386778 (ISBN)
Jakob Wassermann (1873-1934) - kaum ein Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts war an den Debatten um die literarische Moderne so leidenschaftlich beteiligt wie er. Zu Lebzeiten erreichte er internationalen Ruhm und gehörte zu den meistgelesenen Autoren seiner Epoche. Im Nationalsozialismus verboten, geriet sein Werk nach 1945 fast in Vergessenheit.
Jakob Wassermann (1873–1934) – kaum ein Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts war an den Debatten um die literarische Moderne so leidenschaftlich beteiligt wie er. Zu Lebzeiten erreichte er internationalen Ruhm und gehörte zu den meistgelesenen Autoren seiner Epoche. Im Nationalsozialismus verboten, geriet sein Werk nach 1945 fast in Vergessenheit. Dierk Rodewald, geb. 1940, Freier Literaturwissenschaftler in Berlin.
Kommentar
Der Text folgt der Erstausgabe: ›Mein Weg als Deutscher und Jude‹. – Berlin: S. Fischer 1921. Der Einband unserer Neuedition zitiert den ›alten‹ von 1921. Die fragmentarisch erhaltene Handschrift (109 Blätter) mit dem ebenfalls fragmentarisch erhaltenen Entwurf ›Mein Leben als Deutscher und Jude‹ (55 Blätter mit archivalischer Zählung in Bleistift) befindet sich in der Stadtbibliothek Nürnberg (FW 4, IV, 15) und wird im Folgenden abgekürzt zitiert als ›Mein Leben‹.
Wassermanns Quelle für das Lukrez-Motto auf dem Titel konnte nicht ermittelt werden; es ist verkürzt; vollständig lautet der Text aus dem Gedicht ›De rerum natura‹ des Titus Lucretius Carus:
[…] desipientia fit, quia vis animi atque animai / conturbatur et, ut docui, divisa seorsum / disiectatur eodem illo distracta veneno.
In hier modifizierter Übersetzung von Hermann Diels:
Klares Bewußtsein schwindet, weil die Kraft von Geist und Seele in Verwirrung gerät und, weit auseinandergerissen, durch das Gift, wie ich gezeigt habe, vertrackt und getrennt wird.
Beispielhaft für jenes Gift hatte Lukrez zuvor übermäßigen Weingenuß und dessen Folgen beschrieben. Die geistige Lage in Deutschland zu der Zeit von Wassermanns Schrift wäre in übertragenem Sinne jener Beschreibung: Judenhaß.
Mit welchen inneren Widerständen Wassermann allerdings bei seiner Unternehmung zu kämpfen hatte, läßt sich an den Entwürfen ablesen. Der vermutlich früheste beginnt folgendermaßen:
Ich habe zu Bekenntnissen weder Lust noch Talent, und um mir Rechenschaft abzulegen, fehlt es mir an konsequenter Logik. Trotzdem soll hier beides geschehen […].
(›Mein Leben‹, Bl. 2).
In einem weiteren Ansatz dokumentiert sich die Sorge, vor dem, was er da vorhat, aus Sprachlosigkeit zu versagen:
In dem Augenblick, da ich diese Zeilen niederschreibe, weiss ich noch nicht, wohin sie mich führen werden. Ich gehorche einem ungeheurn Druck, einem Gefühl, ähnlich dem als würde ich auf einem vollkommen finstern Weg vom Sturm geschoben. Trotzdem ist noch eine eigenartige Hemmung in mir, deren Wachstum ich seit langer Zeit verfolgen kann und die nur eben durch jenen ungeheuren Druck überwunden werden konnte. Das Bezwingende sind die Dinge ausser mir; das Hemmende die Dinge in mir. Beide haben ihre Wurzel in der Verzweiflung, Druck wie Hemmung; Verzweiflung an Welt und Menschheit von dort, Verzweiflung an Wort, an Mitteilungsfähigkeit, an Verständigungsmöglichkeit von hier. Ich habe eine solche Verzweiflung nie zuvor empfunden. Ich fürchte mich vor ihr, und ich will, weil mich dies vielleicht allein vor ihr retten kann, mir ihr Wesen, ihre Entstehung und ihre Wirkung erklären. Ich spreche von mir zu mir. Ich spreche von Menschen zu mir. Ich spreche von meinem Leben zu mir. Ich gebe einer Stimme Gehör um zu lauschen, und ich will vergessen, dass ich es bin, der spricht. Denn was ist »Ich«? Ich fühle mich in einem sonderbaren Grade ausgelöscht, machtlos, verfinstert, unwahrnehmbar und vernichtet. Indem ich dies konstatiere, den Widerspruch unaufgeklärt bestehen lasse und mich im Finstern vorwärts taste, gebe ich mich Beschlossenem hin und klammere mich an mehr oder weniger schattenhafte Vorfälle, Bilder, Ängste und Träume.
Aber ich merke zugleich, dass ich verlernt habe, zu reden. Woher rührt denn das? Bisher dachte ich, ich hätte es nur verlernt, mit Menschen zu reden, und natürlich schob ich den Menschen die Schuld zu. Jetzt weiss ich, dass die Hauptschuld an und in mir liegt.
Wenn das, was ich hier zu sagen im Begriff bin, irgendwelchen Sinn und Vorteil haben soll, eine Aussicht auf Beruhigung, eine Hoffnung auf Erlösung bieten soll, so muss unbedingteste Aufrichtigkeit walten und meine wesentliche Aufgabe besteht darin, dem Wort allen Schmuck und Plunder abzustreifen.
Ich kann mir momentan nicht denken, wozu diese Schrift bestimmt sein mag.
(›Mein Leben‹, Bl. 3 u. 4).
Der dritte der erhaltenen Versuche lautet:
Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir, meinen Zeitgenossen, meinen wirklichen oder imaginären Freunden Rechenschaft ablegen über den problematischesten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft; und zwar Existenz nicht nur innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft, eines nichtjüdischen Volkes, sondern auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst. Ein unendliches Thema, ein typischer Fall; für mich, meine Person angehend eine einzelne und folgenschwere Tatsache, die in ihrem ganzen Umfang darzustellen, mit ihrer ganzen Fülle von Misverständnissen, von Tragik, von Widersprüchen, von Hässlichkeit und Leiden eines grossen Entschlusses bedurfte. […]
So ist heute nicht mehr die Sicherheit in mir, die ehemals auf jüdische Abkunft, jüdisches Blut, jüdische Sendung, jüdische Besonderheit pochte. Wohl empfinde ich den Gegensatz zur umgebenden Welt noch ebenso stark, stärker noch, bin noch ebenso entschlossen, mich zu bekennen, zu behaupten, zu beweisen; aber die Grenzen sind verwischter, und wo ich vordem Gesetze sah, logische Entwicklung, siegreiche Argumente, leicht überblickbare Komplexe, Partei hier, Partei dort, Aufgaben, Ziele, tragfähige Gedanken, ist jetzt alles ins Zweifelhafte gerückt und dem Urteil jeder Mut abhanden gekommen. Des Erlebten ist zuviel, das Schicksal ist zu breit.
(›Mein Leben‹, Bl. 5 u. 6).
Erst nachdem die Zweifel, Bedenken und Widerstände, die das Unternehmen als im Grunde gar nicht ausführbar erkennen lassen, im Zuge ihrer Artikulation geradezu weggeschrieben worden sind, macht sich Wassermann endgültig daran, den Textanfang zu verfassen, der im Lichte dieser Vorgänge eigentümlich mild erscheint. Ähnliches wird sich zeigen, wenn es darum geht, die Niederschrift zu einem Ende zu führen, das heißt die Möglichkeiten von Zukunft für Juden in Deutschland in Worte zu fassen. Im Fortgang der Niederschrift weichen ›Mein Leben‹ und ›Mein Weg‹, soweit sich dies an dem unvollständigen Entwurf ablesen läßt, nur an wenigen Stellen deutlich voneinander ab; sie werden bei den Erläuterungen verzeichnet. Nachweise aus Werken, die Wassermann zitiert, werde grundsätzlich nach den damals für ihn greifbaren Ausgaben angeführt.
Das Verhältnis der Zahl der Juden zur übrigen Bevölkerung war etwa 1 : 12 ] Meyers Konversations-Lexikon, 3. Auflage, Bd. 7, 1876, S. 413, gibt an: »für (1871) 24,577 Einw. (darunter 3124 Katholiken und 3250 Juden).«
Matrikelgesetz ] Das von König Max Joseph (Maximilian I. Joseph) durch den Minister Graf Maximilian Joseph Montgelas erlassene »Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Bayern« vom 10. Juni 1813 verfügte die Eintragung der jüdischen Einwohner in einer neu anzulegenden Matrikel. Deren § 12 ordnete an:
Die Zahl der Juden-Familien an den Orten, wo sie dermal bestehen, darf in der Regel nicht vermehrt werden, sie soll vielmehr nach und nach vermindert werden, wenn sie zu groß ist.
(›Königlich-Baierisches Regierungsblatt‹, XXXIX Stück. München, Samstag den 17. Juli 1813, S. 922)
Dies bedeutete:
Wollte man leben, so brauchte man eine sogenannte Matrikelnummer, die sich vom Vater auf den Sohn vererbte. Dieser aber mußte auf den Tod seines Vaters warten oder für viel Geld eine neue Matrikelnummer erwerben, wenn er ein Haus gründen wollte.
(Stefan Schwarz: ›Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten‹. – München und Wien: Günter Olzog [1963], S. 287).
Der Vater meiner Mutter ] Der Handelsmann Jakob Traub in Sommerhausen, verheiratet mit Jeanette T., geb. Rosental.
der bürgerliche Tag ] »Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung. Vom 3. Juli 1866.« Das Gesetz wurde in die Reichsverfassung von 1871 übernommen. Durch Verwaltungsvorschriften u. ä. in Staatsapparat, Militär, Hochschule etwa ließ sich der Verfassungsartikel aber leicht unterlaufen (›Juden in Preußen. Ein Kapitel deutscher Geschichte. Hrsg. vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz‹. – Dortmund: Harenberg Kommunikation 1981, S. 240 u. 245).
»Ich liebe die Juden, …« ] Fontane am 21. November 1880 an Graf Philipp zu Eulenburg:
Ich liebe die Juden, ziehe sie dem Wendo-Germanischen eigentlich vor – denn es ist bis dato mit letztrem nicht allzuviel – aber regiert will ich nicht von den Juden sein.
(›Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung. Herausgeber: Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band‹. – Berlin: F. Fontane & Co. [1910], S. 24); Dank an Hans Otto Horch, Neuwied.
mein Vater ] Adolf Wassermann, geb. in Zirndorf am 19. Juli 1844, Kaufmann, heimatberechtigt in...
| Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
|---|---|
| Verlagsort | Göttingen |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Antisemitismus • Biographie • biographisch • Deutschland • Gesellschaftskritik • Judentum • Politik • Ressentiments • Verfolgung • Zwischenkriegszeit |
| ISBN-13 | 9783835386778 / 9783835386778 |
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