Ein Lied für meine Tochter (eBook)
571 Seiten
beHEARTBEAT (Verlag)
9783751774024 (ISBN)
Musik ist die Sprache der Erinnerung, in guten wie in schlechten Zeiten.
Zoe Baxter wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Sie und ihr Mann Max tun alles, um endlich eine Familie zu gründen. Vergeblich. Als ihre Ehe zerbricht, findet Zoe Trost in der Musik - und in einer neuen Liebe.
Mit der Psychologin Vanessa will sie noch einmal von vorne beginnen. Sie träumt von einem gemeinsamen Kind mit ihr. Doch Max ist fest entschlossen, dieses Familienglück zu verhindern. Er sucht Rat bei einer radikalen christlichen Gemeinde, die seit Jahren gegen Homosexualität kämpft ...
Ein fesselnder Roman von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult, der der Frage nachgeht, was eine Familie wirklich ausmacht. Der Roman erschien im Original unter dem Titel Sing You Home.
»Von der ersten bis zur letzten Seite eine mitreißende Lektüre.« USA TODAY
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
<p>Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, studierte in Princeton<em>Creative Writing</em>und in Harvard Erziehungswissenschaften. Seit 1992 schreibt sie mit sensationellem Erfolg Romane. Sie wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet, beispielsweise mit dem<em>New England Bookseller Award</em>. Ihre Romane erscheinen in 35 Ländern. Jodi Picoult gehört zu den erfolgreichsten und beliebtesten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Hanover, New Hampshire.</p>
Zoe
An einem sonnigen, aber kühlen Samstag im September, als ich sieben Jahre alt war, habe ich zusehen müssen, wie mein Vater tot umfiel. Ich spielte mit meiner Lieblingspuppe auf der Steinmauer neben unserer Einfahrt, und er mähte den Rasen. Gerade hatte er noch gemäht, und in der nächsten Minute lag er mit dem Gesicht nach unten im Gras, während der Rasenmäher langsam den Hang hinter dem Haus hinunterfuhr.
Ich glaubte zunächst, er würde schlafen oder ein Spiel spielen. Doch als ich mich neben ihn auf den Rasen hockte, waren seine Augen offen. Feuchtes, frisch geschnittenes Gras klebte an seiner Stirn.
Ich erinnere mich nicht daran, nach meiner Mutter gerufen zu haben, doch das habe ich wohl getan.
Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, dann sehe ich das alles in Zeitlupe. Den Rasenmäher, der allein über das Gras fährt. Die Milchtüte in der Hand meiner Mutter, als sie herausgerannt kam, und die sie auf der geteerten Einfahrt fallen ließ. Und das Geräusch, als meine Mutter in den Telefonhörer schrie, um dem Notarzt unsere Adresse mitzuteilen.
Meine Mutter brachte mich zu einer Nachbarin, während sie ins Krankenhaus fuhr. Die Nachbarin war eine alte Frau, die nach Urin stank. Sie gab mir Pfefferminztäfelchen, die so alt waren, dass der Schokoladenüberzug am Rand schon weiß war. Als ihr Telefon klingelte, lief ich in den Garten und kroch hinter eine Hecke. Dort vergrub ich meine Puppe im Laub und ging weg.
Meiner Mutter ist nie aufgefallen, dass sie weg war, genauso wenig wie die Abwesenheit meines Vaters zu ihr durchzudringen schien. Sie hat nie geweint. Beim Begräbnis meines Vaters stand sie da wie gelähmt. Anschließend saß sie mir gegenüber am Küchentisch, wo ich später manchmal noch für meinen Vater mit deckte, und wir aßen uns durch alle möglichen Speisen, die uns die Nachbarn und Kollegen meines Vaters gebracht hatten, weil sie so davon ablenken wollten, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Wenn ein scheinbar kerngesunder Mann von zweiundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt stirbt, dann wird die trauernde Familie plötzlich behandelt, als leide sie unter einer ansteckenden Seuche. Als könne man sich ihr Unglück einfangen, wenn man ihr zu nahe kommt.
Sechs Monate nach dem Tod meines Vaters nahm meine Mutter, beherrscht wie zuvor, seine Anzüge und Hemden aus dem gemeinsamen Schrank und brachte sie zur Wohlfahrt. Sie besorgte sich alte Kartons im Schnapsladen und packte seine anderen Sachen hinein: die Biografie, die er gerade gelesen hatte und die noch immer auf dem Nachttisch lag, seine Pfeife und seine Münzsammlung. Doch seine Videosammlung von Abbott und Costello ließ sie, wo sie war, obwohl sie meinem Vater einmal gesagt hatte, sie habe nie verstanden, was so lustig daran sein solle.
Schließlich trug meine Mutter die Kartons auf den Speicher, wo Hitze und Staub herrschten. Als sie zum dritten Mal hinaufgegangen war, kam sie nicht sofort wieder zurück. Stattdessen war Musik von oben zu hören. Ein dummes, ausgelassenes Lied plärrte aus einem alten Kassettenrekorder. Ich konnte den Text zwar nicht ganz verstehen, aber er hatte irgendetwas mit einem Hexendoktor zu tun, der jemandem erklärte, wie er das Herz eines Mädchens gewinnen konnte.
Ooo eee ooo ah ah, ting tang, walla walla, bing bang, hörte ich. Ich merkte, wie ich lachen musste, und da ich in letzter Zeit nicht allzu viel gelacht hatte, machte ich mich auf zur Quelle.
Als ich auf den Speicher kam, sah ich meine Mutter weinen. »Diese Aufnahme«, sagte sie, »hat ihn immer so glücklich gemacht.«
Ich wusste, dass es besser war, sie nicht nach dem Grund für ihre Tränen zu fragen. Stattdessen rollte ich mich neben ihr zusammen und lauschte dem Song, der es meiner Mutter endlich ermöglicht hatte zu weinen.
Jedes Leben hat einen Soundtrack.
Es gibt eine Melodie, die mich an den Sommer erinnert, als ich mich mit Baby-Öl einschmierte, um eine gleichmäßige Bräune zu bekommen. Ein anderes Lied wiederum erinnert mich daran, wie ich mit meinem Vater sonntagmorgens immer die New York Times kaufte. Und wieder ein anderer Song ruft mir ins Gedächtnis zurück, wie ich mir mit einem falschen Ausweis Zutritt zu einem Nachtclub verschaffte, um dort Flaschendrehen mit einem Jungen zu spielen, der aus dem Mund nach Tomatensuppe roch.
Wenn Sie mich fragen, dann ist Musik die Sprache der Erinnerung.
Wanda, die diensthabende Pflegerin im Pflegeheim Shady Acres, stellt mir einen Besucherausweis aus, obwohl ich schon seit über einem Jahr regelmäßig hierherkomme, um mit verschiedenen Bewohnern zu arbeiten. »Wie geht es ihm heute?«, frage ich.
»Wie immer«, antwortet Wanda. »Er hängt am Kronleuchter und unterhält die Massen mit Stepptanz und Schattenspiel.«
Ich grinse. Mr. Docker leidet unter Demenz im Endstadium. Seit zwölf Monaten bin ich jetzt seine Musiktherapeutin, und ich habe erst zweimal zu ihm durchdringen können. Meist sitzt er einfach nur auf seinem Bett oder in seinem Rollstuhl und starrt durch mich hindurch, ohne dass ich ihm eine Reaktion entlocken könnte.
Wenn ich den Leuten sage, dass ich als Musiktherapeutin arbeite, dann glauben sie, ich würde für die Patienten im Krankenhaus auf der Gitarre spielen. Sie halten mich für eine Künstlerin. In Wirklichkeit ist mein Job jedoch dem eines Physiotherapeuten deutlich ähnlicher als dem eines Musikers, statt Gymnastikgeräten setze ich Musik ein. Und wenn ich den Leuten das erkläre, dann halten sie es meist für esoterischen Mist.
In Wahrheit hat mein Beruf jedoch eine fundierte wissenschaftliche Basis. Bei Hirnscans ist deutlich zu sehen, wie Musik die Aktivität im Frontallappen fördert und Erinnerungen auslöst. Plötzlich sieht man einen Ort, eine Person oder ein Ereignis aus seiner Vergangenheit. Manchmal – und auch das kann man auf einem Monitor deutlich sehen – sind diese Erinnerungen auch sehr lebendig. Aus diesem Grund können Schlaganfallpatienten sich oftmals zuerst an Liedtexte erinnern, bevor sie ihr Sprachvermögen zurückerlangen, und Alzheimerpatienten erinnern sich an Lieder aus ihrer Jugend.
Und das ist auch der Grund, warum ich Mr. Docker noch nicht aufgegeben habe.
»Danke für die Vorwarnung«, sage ich zu Wanda und nehme meine Tasche, meine Gitarre und meine Djembé.
»Stellen Sie das wieder hin«, beharrt Wanda. »Sie sollen doch nicht so schwer tragen.«
»Dann sollte ich mich wohl beeilen«, erwidere ich und berühre meinen Bauch. Ich bin in der achtundzwanzigsten Woche und schon ziemlich rund – und ich lüge, dass sich die Balken biegen. Ich habe viel zu lange für dieses Baby gekämpft, als dass ich irgendeinen Teil der Schwangerschaft als Last empfinden könnte. Ich winke Wanda zu und gehe den Flur hinunter, um mit der heutigen Sitzung zu beginnen.
Für gewöhnlich kommen meine Patienten im Heim zu Gruppensitzungen zusammen, doch Mr. Docker ist ein spezieller Fall. Mr. Docker ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines Fortune-500-Unternehmens, und jetzt lebt er in diesem äußerst eleganten Heim. Seine Tochter, Mim, hat mich einmal in der Woche für Einzelsitzungen engagiert. Mr. Docker ist fast achtzig, hat eine weiße Löwenmähne und knochige Hände, mit denen er früher einmal ziemlich gut Jazz auf dem Klavier gespielt hat.
Es ist nun schon zwei Monate her, seit Mr. Docker meine Gegenwart das letzte Mal bewusst wahrgenommen hat. Ich spielte auf der Gitarre, und er schlug zweimal mit der Faust auf die Lehne seines Rollstuhls. Ich bin nicht sicher, ob er mitmachen oder mir zu verstehen geben wollte, dass ich aufhören sollte, in jedem Fall war er im Takt.
Ich klopfe und öffne die Tür. »Mr. Docker?«, sage ich. »Ich bin’s. Zoe. Zoe Baxter. Haben Sie Lust auf ein wenig Musik?«
Irgendein Pfleger hat ihn in einen Sessel gesetzt, von wo aus er aus dem Fenster schauen kann. Oder vielleicht schaut er auch nur ins Nichts, fokussiert ist sein Blick jedenfalls nicht. Seine verkrampften Hände liegen wie Hummerscheren in seinem Schoß.
»Dann wollen wir mal!«, sage ich in lebhaftem Ton und suche mir einen Weg um das Bett, den Fernseher und den Tisch mit dem unberührten Frühstück herum. »Und? Was sollen wir heute singen?« Ich warte kurz, obwohl ich nicht mit einer Antwort rechne. »You Are My Sunshine?«, frage ich. »Oder lieber den Tennessee Waltz?« Ich versuche, meine Gitarre in dem winzigen Bereich neben dem Bett auszupacken, der für mein Instrument und meine Schwangerschaft einfach nicht genügend Raum bietet. Unbeholfen platziere ich die Gitarre auf meinem Bauch und spiele ein paar Akkorde. Dann kommt mir eine Idee, und ich stelle sie wieder beiseite.
Ich krame in meiner Tasche nach einer Maraca. Für genau solche Gelegenheiten wie diese hier habe ich immer alle möglichen Kleininstrumente dabei. Sanft drücke ich Mr. Docker die Maraca in die Hand. »Nur für den Fall, dass Sie mitmachen wollen.« Dann beginne ich, leise zu singen: »Take me out to the ball game; take me out with the …«
Das Ende lasse ich offen. Wir alle haben automatisch das Verlangen, einen Satz zu vollenden, den wir kennen, und deshalb hoffe ich, dass Mr. Docker crowd murmeln wird, das letzte Wort der Strophe. Ich schaue ihn an, doch die Maraca in seiner Hand bleibt stumm.
»Buy me some peanuts and Cracker Jack; I don’t care if I never get back.«
Ich singe weiter und stelle mich vor ihn. »Let me root, root, root, root for the home team; if they don’t win, it’s a shame. For it’s one, two, three …«
Plötzlich fliegt Mr. Dockers Hand hoch, und die Maraca trifft mich am...
| Erscheint lt. Verlag | 1.12.2024 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Die bewegendsten Romane von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult bei beHEARTBEAT |
| Übersetzer | Rainer Schumacher |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Sing You Home |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | beheartbeat • Beziehung • Beziehungsromane • Charity Norman • Drama • Emotional • Familie • Familiendrama • Familienleben • Familienroman • Freundschaft • Gefühle • Gegenwartsliteratur • Homosexualität • Kinderwunsch • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesroman • Nähe • Roman für Frauen • Romantik • Schicksal • Sekte • Trennung • Unterhaltung • Zwischenmenschliche Beziehung |
| ISBN-13 | 9783751774024 / 9783751774024 |
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