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Abgrund (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
614 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28477-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abgrund - Robert Harris
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
(CHF 19,50)
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Sommer 1914. Die Welt am Rande der Katastrophe.

In London hat die 26-jährige Venetia Stanley – aristokratisch, klug, unbekümmert – eine Affäre mit Premierminister H. H. Asquith, einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Er schreibt ihr wie besessen Liebesbriefe und teilt ihr die heikelsten Staatsgeheimnisse mit.

Während Asquith das Land unfreiwillig in den Krieg gegen Deutschland führt, untersucht ein junger Geheimdienstoffizier die widerrechtliche Enthüllung streng geheimer Dokumente – und plötzlich wird aus einer intimen Affäre eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, die den Verlauf der politischen Geschichte verändern wird.

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane »Vaterland«, »Enigma«, »Aurora«, »Pompeji«, »Imperium«, »Ghost«, »Titan«, »Angst«, »Intrige«, »Dictator«, »Konklave«, »München«, »Der zweite Schlaf«, »Vergeltung« und zuletzt »Königsmörder« wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polański bei der Verfilmung von »Ghost« (»Der Ghostwriter«) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Die Verfilmung von »Intrige« – wiederum unter der Regie Polańskis – erhielt auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 den großen Preis der Jury, den Silbernen Löwen. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire.

KAPITEL 1


An einem Donnerstag Anfang Juli 1914 ging eine junge Frau am Spätvormittag mit nassem dunklen Haar vom Serpentine-See im Hyde Park mit großen Schritten auf der Oxford Street in Richtung Marylebone. In der einen Hand hielt sie einen cremefarbenen Sonnenhut aus Leinen, in der anderen ein marineblaues Handtuch, in das ein feuchter Badeanzug und ein Paar Seidenstrümpfe eingewickelt waren.

Obwohl sie es offensichtlich eilig hatte, verfiel sie nicht in einen Laufschritt – es war einfach zu heiß, und auf den Bürgersteigen herrschte schon dichtes Gedränge. Es hätte zudem nicht ihrer Art entsprochen, in der Öffentlichkeit körperliche Anstrengung zu zeigen. Aber sie ging, groß und schlank und aufrechten Kopfes, so schnell und zielstrebig, dass ihr die meisten Passanten unwillkürlich Platz machten.

Es war kurz nach Mittag, als sie um die Ecke in die Straße mit der georgianischen Häuserreihe bog, wo sich die Londoner Stadtresidenz ihrer Eltern befand. Am Straßenrand stand der Postbote, der seine Mittagszustellung gerade erledigt hatte und vor dem Eingang des herrschaftlichen weißen Stuckgebäudes seine Tasche inspizierte.

Glücklicherweise hatte sie es rechtzeitig geschafft.

Sie überquerte die Straße, wünschte dem Postboten einen schönen Tag, schlüpfte an ihm vorbei unter den Säulenvorbau und betrat durch die breite Tür das hochsommerlich stickige Halbdunkel der Eingangshalle.

Die Briefe lagen in ihrem Drahtkorb.

Sie konnte den vertrauten Umschlag gerade noch herauspicken, bevor der Diener aus den Tiefen des Hauses auftauchte, um die Post ihres Vaters zu holen. Sie verbarg den Brief unter ihrem Hut, reichte dem Diener den restlichen Stapel und war schon halb die Treppe nach oben gegangen, als ihre Mutter, Lady Sheffield, ihr aus dem Frühstückszimmer etwas zurief: »Wie war das Wasser, Liebling?«

Ohne stehen zu bleiben, rief sie zurück: »Himmlisch!«

Sie schloss ihre Zimmertür hinter sich, warf die Badesachen auf den Boden und den Hut auf den Toilettentisch, zog das Kleid über den Kopf und ließ sich aufs Bett fallen.

Sie lag rücklings da und hielt den Brief mit beiden Händen hoch.

An die ehrenwerte Venetia Stanley, 18 Mansfield Street, Portland Place, London, W.

Sie schob den Finger unter die Lasche, riss den Umschlag auf und zog ein dickes, einmal gefaltetes Blatt Briefpapier mit Datum des Tages heraus.

2. Juli 1914

Meine Stimmung ist heute Morgen doch um einiges besser – vor allem dank Dir. Ich hoffe, ich habe Dich gestern nicht über Gebühr deprimiert. Du warst sehr liebevoll und mitfühlend und hast mir wie immer geholfen. Ich bin Dir aufrichtig aus tiefstem Herzen dankbar. Vermutlich springst Du in diesem Augenblick in Gesellschaft von Lady Scott irgendwo ins Wasser. Vor mir liegt ein ziemlich trübseliger Tag, unter anderem habe ich um halb fünf eine Unterredung mit dem König. Ottoline hat mich für heute zum Abendessen gebeten, es ist also gut möglich, dass ich Dich dort zu sehen bekomme … Sei gesegnet, mein Liebling.

Keine Unterschrift. Seit kurzem ließ er Vorsicht walten und benutzte weder ihren noch seinen Namen.

Sie las den Brief noch einmal. Er erwartete sicher eine prompte Antwort und würde sich Sorgen machen, wenn sie ausbliebe, obwohl nichts von Bedeutung geschehen war, seitdem sie sich gestern gesehen hatten. Sie ging mit dem Brief zum Toilettentisch, setzte sich, betrachtete gleichgültig ihr Spiegelbild und nahm ein Blatt Papier. Sie schraubte die Kappe von ihrem Füllhalter, dachte kurz nach und begann dann schnell zu schreiben.

Ich bin gerade von einem belebenden Bad im Serpentine zurück. Gegen Kathleens kraftvolles Kraulen ist mein lahmes Brustschwimmen eine Schande. Bemerkenswerterweise haben wir es geschafft, eine ganze Stunde lang ihren verstorbenen Mann oder auch nur den Südpol mit keinem einzigen Wort zu erwähnen. Das muss ein neuer Rekord sein. Der See war herrlich kühl, wenn auch voller Leute. Was für ein Sommer – fast so heiß wie der vor drei Jahren! Ich bin so froh, dass Du wieder fröhlicher bist. Du wirst schon eine Lösung für diesen irischen Schlamassel finden. Das schaffst Du doch immer. Mein Liebster, ich kann heute Abend nicht zu Ottoline kommen, da ich Edward & dem Kosaken versprochen habe, mich ihrer mitternächtlichen Bootsfahrt von Westminster nach Kew anzuschließen. Du weißt, ich wäre viel lieber bei Dir. Aber wir sehen uns morgen. Alles Liebe.

Wie immer war ihre unverkennbar stilvolle Schrift allem Schreibtempo zum Trotz gestochen scharf. Auch sie unterschrieb nicht. Sie blies über die glänzende schwarze Tinte und schrieb die Adresse auf den Umschlag – An Herrn Premierminister, 10 Downing Street, London, SW. Dann klebte sie eine Pennymarke darauf und klingelte ihrer Zofe Edith, einer verlässlich diskreten Deutschschweizerin, und schickte sie zum Briefkasten. Im London des Jahres 1914 wurde die Post zwölfmal am Tag ausgetragen. Er würde den Brief am Nachmittag in Händen halten.

*

Seine Antwort traf abends um acht Uhr ein, als sie gerade die Treppe in die Halle hinunterging, um Maurice Baring zu begrüßen, ihren Begleiter für den Abend. Sie hörte das Klappern des Briefschlitzes. Aus den Augenwinkeln sah sie Edith zum Drahtkorb gehen.

»Hallo, Maurice, mein Lieber.« Sie streckte die Hand aus. Der reiche Vierziger neigte zur Glatze und war ein Literat, von dem 1905 Vergissmeinnicht und die Lilie im Tal erschienen war, ein modernes Märchen, das inzwischen leider Gottes vergessen war. Er trug Frack mit weißer Krawatte, im Knopfloch steckte eine rote Nelke. Als er sich zum Handkuss vorbeugte, strich ihr sein weicher Schnurrbart über das Handgelenk, und sie konnte den exquisiten Limonenduft der Haarpomade riechen. Beunruhigt über die modernen Sitten, denen ihre Tochter frönte, und zunehmend besorgt hinsichtlich deren Heiratsfähigkeit im Alter von knapp siebenundzwanzig Jahren, hatte Lady Sheffield sie vorher gefragt, ob sie sich in seiner Begleitung denn »sicher« fühle.

»Und wenn ich ein Jahr lang auf einer einsamen Insel nackt mit Maurice festsäße, Mama, ich wäre sicher.«

»Venetia!«

»Aber es stimmt doch!«

Edith wartete, bis ihre Herrin vor die Haustür trat, nestelte dann an deren Kleid herum und schob ihr dabei den Brief in die Hand. Venetia öffnete ihn, als sie neben Maurice im Fond seines Wagens saß. Eine offenbar um Viertel nach vier schnell hingekritzelte Notiz, was bedeutete, dass er sie verfasst hatte, kurz bevor er die Downing Street zum Treffen mit dem König verließ oder während er bereits im Palast auf die Audienz wartete.

Wenn irgend zu vermeiden, Geliebte, gehe nicht auf diese infernalische Bootsfahrt, sondern komm zu Ottoline. Könntest Du es nicht einrichten, schon zum Essen zu erscheinen? Das wäre so schön. Wenn nicht, freue ich mich aber, Dich danach dort zu sehen. Versuch es.

Ganz der Deinige

Sie runzelte die Stirn. Infernalische Bootsfahrt … Er könnte recht haben. Sie selbst hatte Bedenken, seit sie die Einladung angenommen hatte, wenn auch aus anderen Gründen. Nach ihrer Erfahrung war das Schlimme an Partys auf Schiffen, dass man sie zwar leicht betrat, es aber nicht annähernd so leicht war, dann wieder herunterzukommen, und es gab nur wenige Dinge, die sie so verabscheute wie das Gefühl, in der Falle zu sitzen.

Maurice hatte wohl ihren veränderten Gesichtsausdruck bemerkt. »Ärger mit einem Verehrer?«

»Du weißt nur zu gut, Maurice, dass ich keine Verehrer habe.«

»Oh, da wäre ich mir nicht so sicher …«

Sie achtete nicht sonderlich auf den Ton seiner Bemerkung und auch nicht auf das breite, anzügliche Grinsen dabei. Großer Gott, war sie schon eine so alte Jungfer, dass sogar Maurice einen Annäherungsversuch in Betracht zog?

Sie sagte: »Ich nehme an, dass es jetzt wohl zu spät ist, die Bootsfahrtgeschichte noch abzublasen und stattdessen zu Ottoline zu gehen, oder?«

»Was ist denn das für eine sonderbare Idee? Wir sind bei Ottoline doch gar nicht eingeladen. Und außerdem, die Bootsfahrt wird sicher amüsant. Alle werden da sein.«

Mit alle meinte er »die Koterie«, wie sie sich selbst nannten – oder »die korrupte Koterie«, wie die Presse sie zu bezeichnen pflegte. Dabei handelte es sich um etwa zwei Dutzend Freunde, die als Gruppe auftraten, manchmal im Café Royal, gelegentlich im Varieté oder bei einem Boxkampf im Eastend, meist aber in der »Höhle des goldenen Kalbs«, einem berüchtigten Kellernachtclub in der Nähe der Regent Street. Die genaue Zahl der Mitglieder schwankte gemäß einem mysteriösen Kollektivurteil, wonach jemand amüsant oder langweilig war.

»Genau«, sagte sie skeptisch. »Es werden wohl alle da sein.« Sie stopfte den Brief in ihre Handtasche und ließ die Schließe zuschnappen.

Sie gehörte nicht zu den tonangebenden Figuren der Koterie. Sie trank nicht wie Sir Denis Anson, der junge Baronet, der zwei Flaschen Champagner leeren konnte, noch bevor der Abend überhaupt begonnen hatte, und nahm auch keine Drogen wie Lady Diana Manners (»die schönste Frau in England«), die gern Chloroform schnüffelte. Sie war nicht intellektuell wie Raymond Asquith, dessen Vater, der Premierminister, den Brief in ihrer Handtasche geschrieben hatte, oder unabhängig, weil reich wie die erst achtzehnjährige Reederei-Erbin Nancy Cunard. Sie ließ sich mit ihnen treiben, um ihre Langeweile zu lindern, um ihre Mutter zu ärgern und...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2024
Übersetzer Wolfgang Müller
Sprache deutsch
Original-Titel Precipice
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 2024 • Agententhriller • Bestsellerautor • conclave • eBooks • Erster Weltkrieg • Fakten und Fiktion • Geheimdienst • Historische Romane • Historischer Roman • Königsmörder • Konklave • London • Neuerscheinung • Politthriller • Spionagethriller • Thriller • Winston Churchill
ISBN-10 3-641-28477-5 / 3641284775
ISBN-13 978-3-641-28477-0 / 9783641284770
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